Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

3. Umgang mit anderen Personen und Institutionen

 

In neueren, z.T. auch von mir selbst angestoßenen Diskussionen wird das Problem von Wohnungslosigkeit zunehmend in den Kontext kommunikationstheoretischer Diskursen gestellt. Mit der Durchsetzung des vernetzen Computers als "dominierendem Medium" unserer Zeit und den damit in allen Bereichen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Lebens ausgelösten Veränderungsprozessen wird auch im Zusammenhang sozialer Fragen wie der der Wohnungslosigkeit das Problem des Zugangs zu Informationen erörtert. Von daher steht im Zentrum dieses Abschnitts nicht so sehr die Frage nach dem "Umgang" Wohnungsloser mit anderen Personen und Institutionen, als vielmehr die Frage nach den Informationen, die diesen Zugang überhaupt erst vermitteln.

In einem herausragenden Referat zum Thema "Lebensbedingungen und Überlebensstrategien von Obdachlosen" stellt beispielsweise Henrik BECHMANN dieses Problem in den Mittelpunkt. BECHMANN benennt - auch aufgrund der eigenen Arbeitserfahrung in diesem Bereich Sozialer Arbeit - die zentralen Kommikationsleistungen/anforderungen Wohnungsloser, und stellt, ausgehend von der These, daß Informationen darüber erst beschafft und kommuniziert werden müssen, folgende Fragen:

Da die Beschreibungen - unter der Berücksichtigung kommunikations- und informationstheoretischer Überlegungen im Wesentlichen mit den Ergebnissen meiner eigenen Beobachtungen und den Interviewaussagen der Wohnungslosen übereinstimmen, dokumentiere ich im folgenden BECHMANNs 1996 auswertende Beschreibung:

 

FU Berlin John-Kennedy- Institut für Nordamerikastudien
SS 1996
Hauptseminar 32511: Obdachlosigkeit in Nordamerika und Deutschland
DozentIn: Prof. Dr. Margit Mayer/ Dipl.-Päd. Stefan Schneider

Hendrik Bechmann

Lebensbedingungen und Überlebensstrategien von Obdachlosen

(...) Herausragend bei der Gestaltung der Lebensbedingungen von Wohnungslosen ist der Bezug von Informationen, die sich die Betroffenen beschaffen müssen. Von ihrem Kenntnisstand der ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten hängt viel - aber nicht alles - von ihrer Lebensqualität ab; wenn in diesem Sinne von Qualität gesprochen werden kann. Deshalb ist die Beschaffung von Informationen und deren Weitergabe ein wichtiger Bestandteil der persönlichen Alltagsbewältigung der Wohnungslosen. Im folgenden wird versucht, durch sieben Fragen die Subsistenzmittel und die Quellen materieller Reproduktion zur Existenzsicherung Wohnungsloser deutlich zu machen.


1. Welche Informationsquellen sind zu erschließen, und wie wird dabei vorgegangen?

Bei den Informationsquellen sollten wir unterscheiden zwischen den offiziellen und inoffiziellen Informationsträgern. Als offizielle Informationsträger möchte ich die Einrichtungen und deren Mitarbeiter bezeichnen, die Wohnungslosigkeit als ein soziales Problem eindämmen oder regulieren, zumindest unmittelbare Not lindern wollen. Dazu zählen Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Hilfsorganisationen und ähnliche. Handeln solche Einrichtungen vor allem aus einem moralischen Gebot, obliegt den Sozialämtern die gesetzliche Pflicht zur Hilfe. Die persönliche Betreuung und Beratung ist vorgeschrieben in § 7 der Durchführungsverordnung (DVO) zum § 72 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG).

Erfolgversprechende Anlaufstellen sind immer die großen Bahnhöfe einer Stadt. In den dort ansässigen Bahnhofsmissionen und DRK- Stellen lassen sich immer Adressen von Tagestreffs (Wärmestuben), Notübernachtungen, Wascheinrichtungen, Kleiderkammern, medizinischer Versorgung u. ä. finden. Das gleich gilt auch für Tagestreffs und Notübernachtungen.

Die inoffizielle Informationsweitergabe ist die elementarste Hilfe zur Selbsthilfe. Die Betroffenen selbst geben Tips untereinander weiter. Diese "Mundpropaganda" ist allerdings nicht in allen Fällen für jeden frei zugänglich. Gute Tips zu geben, ist eine häufige Art, untereinander zu kommunizieren und regelt auch hier eine soziale Anpassung. Nicht nur Sympathien zueinander sind für die Weitergabe von Informationen verantwortlich, oftmals soll das Zurückhalten von Auskünften, ein Überlaufen von "guten Stellen" verhindert werden.


2. Welche Möglichkeiten werden vorrangig für den Tagesaufenthalt genutzt?

Die Wahl der Orte, die am Tage aufgesucht werden, ist gewöhnlich bestimmt durch die Handlungsmöglichkeiten, die diese bieten. Neben den verschiedenen Behörden und Einrichtungen, die von vielen immer wieder aufgesucht werden - dazu zählen die Tagestreffs (Wärmestuben, Suppenküchen), spezielle medizinische Versorgungseinrichtungen, Hallenbäder, Kleiderkammern u. ä. -, sind zentral gelegene öffentliche Plätze und Parks, Fußgängerzonen, Bahnhöfe, Bibliotheken, Musen, Markthallen und Waschsalons als Aufenthaltsorte bevorzugt. Passanten, die solche Ansammlungen von offensichtlich Wohnungslosen beobachten, meinen oft, daß sich diese Menschen vor ihnen präsentieren. Für die Wohnungslosen selbst aber bietet die dort unausweichliche Zusammenkunft mit den "Normalen" fast die letzte und einzige soziale Berührung mit anderen. Es muß unterschieden werden von Personen und Gruppen, die auffällig in der Öffentlichkeit sichtbar sind und jenen, die unauffällig und verdeckt an schützenden Orten den Tag verbringen. Diese Leute haben bestimmte Techniken der "Tarnung" entwickelt, sich dem öffentlichen Geschehen anzupassen. Meist sind das Einzelpersonen, die sich keinen Cliquen anschließen. Sie verhalten sich entsprechend wie Kunden, Besucher oder Reisende. Grundsätzlich tragen sie kein Alkohol sichtbar bei sich, noch gar wird dieser öffentlich konsumiert. Die Personen, die in Gruppen verschiedener Größen häufig an gleichen Orten auftreten, entwickeln alsbald gewisse Gewohnheitsrechte und Ansprüche auf ihre besetzten Räume. Untereinander macht eine ungeschriebene "Hackordung" Anpassung nötig. Jeder Neue wird erst einmal mit Argwohn betrachtet. Die Vorstellung, die gemeinsame Not läßt die Betroffenen zur Solidargemeinschaft verwachsen, ist nur bedingt gerechtfertigt.


3. Welche Möglichkeiten der Nächtigung stehen zur Verfügung?


Bei der Übernachtung kann der Wohnungslose prinzipiell zwei Wege gehen. Entweder er sucht die vom Staat oder von verschiedenen Hilfsorganisationen eingerichteten Heime, drittklassige, aber vom Sozialamt teuer bezahlte Pensionen ("Läusepensionen") oder Notunterkünfte auf, oder er versucht sich auf eigene Faust durchzuschlagen. Fraglich ist, ob die zur Zeit vorhandenen Kapazitäten der Unterkünfte ausreichen könnten, wenn nicht viele den zweiten Weg wählten. Zu bedenken bleibt außerdem, daß eine Reihe von Quartiermöglichkeiten (Nachtcafés und Notübernachtungen) nur im Winter bereitgestellt werden. Für alle die, die nur noch die Möglichkeit haben im Freien zu nächtigen - zum Teil weil sie den Mindestforderungen der Unterkünfte nicht nachkommen können, oder aber den Aufenthalt dort als unerträglich und psychisch außerordentlich belastend empfinden -, wird die Nacht zu einem alltäglich wiederkehrenden Existenzkampf. Sie schlafen auf Parkbänken, in Hausfluren, Abrißhäusern, Ruinen, Rohbauten, öffentlichen Toiletten und im Stadtforst, das sogenannte Biwaken. Im Jargon der Wohnungslosen wird dieser Zustand mit "Platte machen" bezeichnet. Campingplätze können nur von Personen aufgesucht werden, wenn sie natürlich auch die Gebühren bezahlen. Zeitweilig versucht mancher, in einem Krankenhaus unter zu kommen. Eine Großstadt wie Berlin bietet darüber hinaus noch die Möglichkeiten, die öffentlichen Verkehrsmittel zur Nächtigung zu Nutzen, "S- Bahn- Rutsche" genannt. Ein Unterkommen bei Freunden und Verwandten ist, wenn überhaupt, meist bloß vorübergehend am Beginn der Wohnungslosigkeit möglich und nur von kurzer Dauer.


4. Wie sehen die Strategien des Gelderwerbs aus?

Ist der Wohnungslose bereit, sich offiziell bei den Behörden registrieren zu lassen und verfügt über gültige Ausweispapiere, kann er Geldleistungen des Arbeits- oder Sozialamtes beantragen. Hat er keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe, erhält er bei seinem zuständigen Sozialamt - abhängig von seinem Verweilort und dem Anfangsbuchstaben seines Familiennamens - monatlich 526,- DM in Berlin. In welchen Mengenbeträgen diese Summe über den Monat ausgezahlt wird, liegt im Ermessen des Sozialamtes. Außerhalb ihres Verweilortes können Wohnungslose als sogenannte Durchreisende vom Sozialamt einen Tagessatz von ca. 17,- DM erhalten. Weiterhin gewährt das Sozialamt eine Kostenübernahme (KÜ) in bestimmten Fällen. Zum Beispiel werden Zelte, Kochgeschirr und u. ä. bezahlt, aber wo und wie ohne weitere Mittel gezeltet werden soll, bleibt ungeklärt. Es werden Gutscheine für Kleidung und Lebensmittel ausgestellt. Im Jahr einmal Sommerkleidung und einmal Winterkleidung. Teilweise wird auf den Gutscheinen genau bestimmt, was gekauft werden darf. Über den Lebensmittelgutschein darf kein Alkohol oder Tabak erworben werden. Oftmals sind für die Gutscheine Einlösungsmöglichkeiten, d. h. der entsprechende Supermarkt, vorgeschrieben.

Andere Möglichkeiten zu Geld zu kommen sind: Arbeiten über das Arbeitsamt, die "Börse" für Gelegenheitsarbeiten. Das ist aber nur möglich mit vollständig gültigen Papieren, d. h. auch Steuerkarte, die aber nur über eine Wohnadresse erhältlich ist; Schwarzarbeit ist deshalb eine oft notwendige Quelle des Gelderwerbs; und natürlich das allseits bekannte Betteln oder "Schnorren". Das Betteln ("Sitzung machen") wird von vielen als eine richtige Arbeit angesehen, verlangt aber einen hohen Grad der Selbstüberwindung und kann deshalb nur im narkotisierten Zustand verrichtet werden. Diebstähle sind zwar auch möglich, werden aber häufig nur in völliger Ausweglosigkeit begangen.


5. Wie kann die tägliche Ernährung gesichert werden?

Im allgemeinen zählen die zugenommenen Lebensmittel und die Ernährungsweise der Wohnungslosen nicht als ausgesprochen gesundheitsförderlich. Darüber hinaus steht das Essen nicht unbedingt im Vordergrund. Ursache dafür ist, daß häufig eher Alkohol getrunken wird. Zum Problem der Nahrungsbeschaffung kommt es sowieso erst bei den Leuten, die nirgendwo untergebracht sind und völlig auf der Straße leben. Die verschiedenen "Tagestreffs" bieten ausreichende Beköstigung und warme Getränke. Ansonsten wird sich durch Billigangebote und abgelaufene Waren aus Supermärkten versorgt. In den schlimmsten Fällen werden Reste und Abfälle gesammelt. Wer aber nicht hinreichende Informationen über Anlaufstellen besitzt oder nicht in der Lage ist, sich genügend anzupassen, muß wirklich Hunger leiden.


6. Welche Möglichkeiten der Körperpflege und Bekleidung stehen zur Verfügung?

Die regelmäßige Körperpflege kann problematisch werden, wenn die Betroffenen keine für sie organisierte Unterbringung haben. Für sie bieten die "Tagestreffs" die Möglichkeit zum kostenlosen Waschen (Duschen), Rasieren und Haarschneiden. Leider aber haben nicht immer alle solche Einrichtungen diesen Service. Manche gar nicht, andere nur zu bestimmten Zeiten oder nicht kostenlos. In öffentliche Schwimmbäder geht nur, wer es sich leisten kann. Wenn die Möglichkeit vorhanden ist, übernimmt das Sozialamt die Kosten für den Besuch von Wannenbädern. Das erfordert aber auch immer gleich wieder den Gang und die Auseinandersetzung mit der Behörde. Es bleiben in vielen Fällen nur öffentliche Toiletten oder stark frequentierte Restaurants.

Kleidung wird vorwiegend aus Kleiderspenden, oder wie schon gesagt durch Kostenübernahme vom Sozialamt, bezogen. Die Verteilung der Kleiderspenden ist in Berlin gut organisiert. Entweder sind die Kleidungsstücke in den "Tagestreffs" zu erhalten oder können direkt von den Kleiderkammern bezogen werden. Dort kann auch die Wäscherei und Änderungsschneiderei kostenlos in Anspruch genommen werden. Nach Aussagen von Berliner Wohnungslosen ist ausreichende und gute Bekleidung vorhanden. Einige waschen die Wäsche nicht mehr, sondern lassen sich immer wieder nur neue geben.


7. Wie ist der Gesundheitszustand und die medizinische Versorgung beschaffen?

Wohnungslose leben in Umständen und unter Bedingungen, die anerkanntermaßen krank machen. In den verschiedenen Untersuchungen konnte nicht differenziert werden, inwieweit Erkrankungen bei Wohnungslosen über dem Durchschnitt der Bevölkerung auftreten und in welchem Maße bestimmte Symptome durch Wohnungslosigkeit verstärkt werden. Fest steht aber, daß bei Wohnungslosen ein hoher Krankheitsanteil vor allem an chronischen und akut entzündlichen Krankheiten, Fehlernährung, Genußmittelmißbrauch, schlechte Hygiene und "ungesundes Freizeitverhalten" überdurchschnittlich anzutreffen ist (KELLNER/WITTCH 1987, S.146). Die außerordentlichen psychischen Belastungen sind dabei noch unberücksichtigt.

Hat sich ein Wohnungsloser amtlich registrieren lassen und wird vom Sozialamt betreut, ist er darüber auch Krankenversichert. Verschiedene "Tagestreffs" und Notunterkünfte stellen regelmäßig ärztliche Betreuung zur Verfügung. Der von vielen exzessiv betriebene Alkoholgenuß macht eine wirksame medizinische Behandlung oft kompliziert, wenn gar unmöglich. In vielen Fällen muß der Betroffene sich erst einer stationären Entgiftung unterziehen, bevor operiert werden kann. Anhaltende Wohnungslosigkeit ruiniert die psychische und physische Konsistenz in zunehmenden Maße und führt zum sukzessziven Verfall des Menschen.
(...)
(BECHMANN 1996)

Interessant dabei ist, daß auch der Auftritt oder besser die Entstehungsgeschichte unter kommunikationstheoretischen Überlegegungen untersucht werden kann. Das nachstehende Zitat belegt, daß auch die Antizipation drohender Wohnungslosigkeit eine praktische Kommunikationsleistung erfordert:

"Streetworker beobachten in den letzten Jahren ein neues Phänomen: das 'Schleicher-Syndrom'. Je näher der Abstieg jemandem auf den Pelz rückt, desto größer ist der Wunsch, praktische Details der Armut kennenzulernen. Wer ahnt, daß er in einem halben Jahr obdachlos sein wird, so berichten Sozialarbeiter, nähert sich ganz allmählich den Orten und Menschen und dem Schicksal, das auf ihn wartet. Man schleicht schon einmal um den Kiosk in der U-Bahn, wo sich die Obdachlosen und Arbeitslosen versorgen, erkundigt sich bei Sozialarbeitern über Nachtasyle, plaudert in den Kneipen mit jenen Einsamen, die dort ihren Tag ertränken.
Willkommen!"
 
(GILLEN/ MÖLLER 1992, 7f.)

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97