Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung
2. Lebenslagen
Das Leben ohne die je eigene Wohnung bringt maßgebliche Veränderungen in der Struktur der individuellen Tätigkeiten mit sich. Die spezifischen Bedingungen der Situation Wohnungsloser führen zur Entwicklung von Handlungssystemen, die der Lebenslage mehr oder weniger angemessen sind.
Die Beobachtung der Tätigkeiten und Beziehungen Wohnungsloser zeigt beachtliche Unterschiede im Vergleich zur vorherigen, auf der Grundlage einer eigenen Wohnung verwirklichten Lebensform. Der Vergleich unterstreicht die herausragende Bedeutung des Lebens in der je eigenen Wohnung. Die eigene Wohnung ist quasi in konzentrierter Form grundlegende Bedingung für eine Vielzahl von Aktivitäten, mit denen gegenständliche und soziale Beziehungen gestaltet werden.
Als Folge des Wohnungsverlustes - wobei der Wohnungsverlust als Prozeß zu verstehen ist - werden die bisher auf Grundlage des Lebens in der je eigenen Wohnung realisierten Handlungen aufgegliedert. Die Realisierung bestimmter Bedürfnisse erfordert - im Vergleich zu einzelnen Handlungen bei "Wohnenden" sehr viel umfassendere Handlungen bis hin zu Handlungsketten. Alles, was zur Aufrechterhaltung des Lebens getan werden muß, erfordert dann auch mehr Zeit, mehr Aufwand, eine Lernfähigkeit in neuen Situationen usw.
Damit ändert sich auch der Charakter der tätigen Beziehungen, ob gegenständlich oder sozial. Diese Aufgliederung der Handlungen betrifft nicht nur den unter den veränderten Bedingungen notwendigen Umfang, die Aufgliederung vollzieht sich auch in einer räumlichen Dimension, die von den Betroffenen ein erhöhtes Maß an Mobilität erfordert. Hinweise darauf finden sich in den Bereichen Ernährung, Körperpflege, Bekleidung, Wohnmöglichkeit, Geldbeschaffung usw. In Folge der aufgegliederten Handlungen verkleinert sich auch der Umfang tatsächlich verwirklichter Beziehungen, ob sie nun materiellen oder sozialen Bedürfnissen entsprechen. Der Umfang erfüllbarer Bedürfnisse ist eingeschränkt. Die individuellen Handlungssysteme werden mehr und mehr auf die Bewältigung der Lebenslage Wohnungslosigkeit eingeengt. Viele Handlungen bei Wohnungslosen werden auf der Grundlage der neuen Bedingungen ihrer spezifischen Lebenslage vollzogen und sind durch eben diese veränderten Bedingungen charakterisiert. Das läßt sich an den mit einer Wärmestube verbundenen Angeboten exemplarisch verdeutlichen:
Wer sich aufwärmen will, muß sich an den Öffnungszeiten orientieren, der wärmende Ort ist nicht immer zugänglich. Wer Hunger hat, muß warten, bis Essen ausgegeben wird und essen, was vorgesetzt wird. Wer sich ausruhen will, ist nicht ungestört. Wer sich waschen und rasieren will, muß das Bad mit anderen teilen und muß um Handtuch, Seife, Rasierer usw. bitten. Wer Kleidung braucht, muß hoffen, daß für ihn etwas passendes da ist usw.
Die Anpassung der individuellen Handlungen an die mit ihrer Lebenslage verbundenen Bedingungen werden auch an anderen Beispielen außerhalb einer Wärmestube deutlich: Wer Sozialhilfe bezieht, ist aufgrund der gewährten Hilfeleistung gezwungen, häufig, in einzelnen Fällen mehrmals wöchentlich das Sozialamt aufzusuchen. Wer seine Arbeitskraft verkaufen will, muß häufig erfolglos die Arbeitamt-Schnellvermittlung aufsuchen. Wer mit anderen Strategien Geld erwerben will, muß dafür komplexe Handlungsketten entwickeln.
Mit dem Verlust der eigenen Wohnung fällt diese grundlegende Bedingung für viele individuelle Tätigkeiten nicht nur einfach weg: Wohnungslos gewordene sind nun mit neuen Bedingungen konfrontiert, die die Ausführung der Handlungen offen sichtlich erschweren. Die Bedingungen haben sich objektiv verschlechtert, sie erfordern einen größeren Umfang von Handlungen und verhindern so systematisch die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse. Selbst die Befriedigung elementarster Bedürfnisse ist erheblich eingeschränkt. So ist die eine Suppe, die in einer Wärmestube abgegriffen werden kann, gerade der Grund für den Zwang, darüber hinaus andere Ernährungsmöglichkeiten organisieren zu müssen. Und die Wohnverhältnisse in Pensionen veranlassen Wohnungslose, trotz der ständigen Gefahr des Vertrieben Werdens das "Platte schieben" vorzuziehen.
Wohnungslose sind aufgrund solcher Einschränkungen schon im Moment der Befriedigung eines Bedürfnisses sofort wieder mit dem Problem der Realisierung des nächsten konfrontiert. Das individuelle Risiko, die eigene Reproduktion sicherzustellen, ist bei Wohnungslosen ständig akut. Wohnungslose sind gezwungen, einen großen Teil ihrer Aufmerksamkeit auf die Sicherung der individuellen Reproduktion in der nächsten Zukunft zu richten. Solche Voraussetzungen behindern massiv die Planung der Reproduktion auf mittel- und langfristige Zeiträume und die Entwicklung eigener Perspektiven. Das allgemeine, mit der Situation eines Lohnarbeiters verbundene Reproduktionsrisiko ist bei Wohnungslosen in akuter Weise auf Dauer gestellt. Dieses Risiko ist existenzgefährdend.
Wohnungslose verfolgen bestimmte Motive nicht mehr, weil diese Motive ihnen aufgrund der bestehenden Bedingungen unerreichbar erscheinen oder weil sich die Motive aufgrund ihrer tätigen Auseinandersetzung mit den bestehenden Bedingungen als unerreichbar heraus gestellt haben. Die bestehenden, herrschenden Bedeutungssysteme, - beispielsweise daß es nur auf die Leistung des Einzelnen ankäme -, haben sich in der konkreten Lebenssituation Wohnungsloser praktisch als Stereotypen, als nicht tauglich erwiesen. Der daraus resultierende Konflikt auf der Bewußtseinsebene findet in vielfältiger Weise und individuell sehr unterschiedlich seinen Ausdruck. Bei einem Teil der Wohnungslosen finden sich Tendenzen, ihre Situation tatsächlich nur auf ihr individuelles Versagen zurückführen: "Ich bin so jemand, den man als verkrachte Existenz bezeichnen würde." (HERBERT). Bei anderen Wohnungslosen finden sich Tendenzen, sich "in ihr Schicksal zu fügen": "Na, was willste machen?" (WERNER) in Verbindung mit dem Versuch, in der Wohnungslosigkeit einigermaßen zurechtzukommen. Vielfach drückt sich dieser Konflikt in Frustration, Enttäuschung, Resignation usw. aus. Alkohol und andere Drogen können in einer solchen Situationen häufig als Mittel zur "Bewältigung" dieses Konflikts gebraucht, bzw. mißbraucht werden.
Die erfahrene, erlebte Inadäquatheit der angeeigneten Bedeutungssysteme macht auch andere Reaktionsweisen von Wohnungslosen verständlich: daß es sie beispielsweise nicht mehr interessiert, beim Schwarzfahren, beim Diebstahl usw. erwischt zu werden. Auch die Tendenz, gar nicht mehr auf sein Äußeres, auf Körper pflege, Kleidung usw. achten wird verständlich. Die angeeigneten, tätigkeitsorientierenden Bedeutungen sind diskreditiert: "Das ist mir alles so scheißegal wie nur irgendwas!" (ACHIM). Das trifft sicher in diesem Umfang nur auf einen Teil der Wohnungslosen zu. Bei anderen sind die verschiedensten Übergangsformen zu dieser Art des Realitätsbezugs zu beobachten. Jeder bewältigt seine Situation anders.
Einige bewältigen ihre Lebenslage, indem sie sich positiv auf die ihnen verbleibenden Möglichkeiten beziehen und diese weitgehend für sich nutzen. Dafür gibt es vor allem am Beispiel der "Nähegruppe" Hinweise. Etliche Wohnungslose wissen sich zu helfen, indem sie Handlungsstrategien entwickeln, die sich aus ihrer Lebenslage ergeben. Viele dieser Strategien bringen weitere Schwierigkeiten mit sich, beispielsweise, wenn aus Geldmangel "Schwarzgefahren" wird, wenn aufgrund der Kälte Alkohol zum "Aufwärmen" getrunken wird usw. Dies ist oft typisch für die "Ambivalenz-", aber auch für die "Distanzgruppe".
Was die sozialen Beziehungen der Wohnungslosen betrifft, so sind sie weitgehend isoliert. Wenn Besucher über Verwandte, Freunde, Arbeitskollegen sprechen, dann meist so, als ob es sich um frühere, abgebrochene Beziehungen handelt oder um Beziehungen, die eventuell "mal wieder" aufzunehmen wären. Die Wohnungslosen, darauf deuten die Aussagen hin, haben zum einen sehr differenzierte Beziehungen - auch Freundschaften - untereinander, zum anderen ebenfalls sehr differenzierte Beziehungen zu Personen, die in irgendeiner Form mit der Lebenslage der Betroffenen beruflich konfrontiert sind.
Nach wie vor werden Wohnungslose, wie viele andere soziale Gruppen auch, von einem großen Teil der Bevölkerung nach wie vor diskriminiert, und viele sind oft nur zu schnell bereit, sich auf die Seite der "Helfenden" zu schlagen, ohne sich mit den Menschen auseinanderzusetzen. Wohnungslose sind nicht an sich isoliert, sondern sie teilen ihre Isolation mit Menschen in spezifischen, einander ähnlichen Lebenslagen. Die Lebenslage Wohnungsloser ist m.E. immer noch am besten durch den Begriff extremer Armut zu charakterisieren. Diese Armut beinhaltet weit mehr als nur den Ausschluß vom gegenständlichen Reichtum der Gesellschaft. Wohnungslose sind in der tätigen Bewältigung mit ihrer Lebenslage mit konkreten Bedingungen konfrontiert, die der Verwirklichung ihrer Subjektivität und der Entfaltung ihrer Persönlichkeit systematisch beschränken.
Ganz eindeutlich müssen eine Reihe von Umgangsstrategien mit der Wohnungslosigkeit in einer Situation existenzieller Not und des weitestgehenden Ausschlußes von Verfügungsmöglichkeiten über gesellschaftliche Realität als Verkehrung des Bedürfnisses nach gesellschaftlicher Anteilnahme und Kommunikation gewertet werden, als Signal der Existenz: "Ich lebe noch, mich gibt's noch." Diese Strategien sind funktional und stellen gleichzeitig eine Verkehrung der Möglichkeiten der Partizipation dar, indem vorwiegend Mechanismen gesellschaftlicher Ausgrenzung, Diskriminierung und Kontrolle provozierend genutzt werden. Renitenz aus Not ist hier das entscheidende Stichwort:
Was für die Wohnungslosen eine Lösungsmöglichkeit ist, suchen sie sich selbst in einer "Abstimmung mit den Füßen" (Beleg heraussuchen) aus. Die Untersuchungsergebnisse provozieren die Untersuchung der Fragestellung, inwieweit Wohnungslosen selbst die besten Experten hinsichtlich dessen sind, was sie brauchen. Die Aufgabe der Hilfe wäre demnach nicht, Angebote zur Verfügung zu stellen oder zu vermitteln, sondern den Weg zu Ebenen für eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben (konkrete Motive): Das kann das konkrete Angebot sein, das können aber auch Hilfestellungen zur (Wieder-) Entdeckung und Vermittlung von Motiven und Regenerierung und Einübung von Fähigkeiten sein. Die interessante, sich daran anschließende Frage ist: Ist Soziale Arbeit in der Lage, Motive zu stiften?
Die einzelnen dargestellten Aussagen sind noch weitergehender zu systematisieren und auf innere Zusammenhänge hin zu untersuchen. Das Bild, das sich aus den Aussagen ergibt, muß noch klarer gezeichnet werden. Ich will im folgenden einige Stichworte benennen:
2.1. "Nähegruppe"
Die Personen der Nähegruppe nehmen Angebote und Einrichtungen des Hilfesystems in Anspruch und befinden sich damit in einem Dilemma: Diese Wohnungslosen blockieren - mangels hinreichend vorhandener Arbeitsplätze und verbunden damit: bezahlbarem Wohnraum - die Hilfeeinrichtungen. Dies - volle Einrichtungen - wird zwar einerseits als Argumentation zur Legitimation des weiteren Ausbaus von Hilfeeinrichtungen angeführt, andererseits bedeutet das für die Wohnungslosen, daß eine große Gruppe mangels anderer Alternativen (Wohnung, Arbeit) auf das Hilfesystem angewiesen ist, obwohl gar nicht nötig hätten.
Dennoch werden die Angebote und Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, selbst wenn sie momentan immer noch ausgebaut werden, dem sich eskalierenden Problem der Wohnungslosigkeit nicht mehr gerecht. Bezogen auf die absolute Zunahme von Wohnungslosigkeit muß damit sogar von einer relativen Verschlechterung des Hilfeangebots gesprochen werden. Das bedeutet in der Wirkung:
- Ein zunehmend erheblicher Teil der Betroffenen kann von den Hilfs- und Beratungsangeboten nicht oder nicht mehr angemessen unterstützt werden,
- daraus ergibt sich eine Nivellierung der Hilfen;
- Überhaupt nur noch der kleinere Teil der Wohnungslosen kann langfristig untergebracht werden,
- von einer Vermittlung von Wohnraum ganz zu schweigen.
Die Beispiele der "Nähegruppe" machen deutlich, daß eine Prävention deutlich früher Ansetzen muß, um den Auftritt von Wohnungslosigkeit zu verhindern. Zu untersuchen wäre hier die Funktion des präventiven Instrumentariums:
Heimat und Familie finden in Wohnungsloseneinrichtungen
Beispiel JOCHEN: "Das ist eine Heimat, oder sagen wir, eine Heimat, und, wie soll ich sagen, Bezugspunkt, also zwecks Probleme, also, wenn ich Probleme hatte, konnte ich zu B., bei P. oder A. gehe ich weniger gerne, bin ich weniger gerne hingegangen, weil die das gewisse Verständnis nicht gehabt haben. Und mit der B., da komme ich so super klar"
Auch andere Gesprächspartner berichten über dieses Phänomen.
Abgrenzung gegenüber anderen Wohnungslosen
JENS: "Dann sind die für mich nicht abgestempelt oder für mich nicht irgendwo, na, wie gesagt, gut, sie haben ihren Weg so genommen und sie wollten nicht mehr. Gut, dann müssen sie auch weiter sehen."
Das Bedürfnis nach sozialer Abgrenzung zu anderen Wohnungslosen ist durchgängiges Thema bei allen Wohnungslosen. Interessant ist dabei, gegen wen diese Abgrenzung erfolgt und aus welcher Position heraus sie erfolgt: "Nee. Ich kenne sie zwar, die meisten alle, schon durch die U-Bahn-Fahrerei, und ich quatsche auch mal mit denen, aber so verkehren, am Zoo verkehre ich nicht." (HERBERT). Die Antwort von HERBERT ist typisch für so viele meiner Gesprächspartner. Auffällig ist die von sehr vielen benutze Wendung: "... dort verkehre ich nicht..." oder "... mit denen verkehre ich nicht..." Schon allein die Wortwahl ist m.E. Hinweis für ein ausdrückliches Distinktionsbedürfnis der Personen, die im Widerspruch zur tatsächlichen Nähe steht. Deutlicher als viele andere meiner Gesprächspartner artikuliert ACHIM, daß die "Szene" wie eine Familie, wie ein Familienersatz ist. Aber dies ist eher typisch für die "Distanzgruppe".
Wohnungslosigkeit als eine (soziale) Behinderung
Beispiel JENS: "Natürlich sind sie gesellschaftlich behindert, wenn sie kein Geld haben, kein Geld haben. Natürlich sind sie behindert und sind, ja, beschnitten in ihrem Lebensinhalten und -qualitäten. Das ist doch klar. Ich hoffe, es kommt nicht böse raus, was ich eben gesagt habe. Also es ist einfach so. Knallhart. Auch ein Behindertenzustand ist das. Also, gesellschaftlich behindert, wenn ich jetzt den Wohnungslosen nicht geholfen, oder mein Interesse artikuliert hätte. Auch wenn's nur kleine Schritte sind. Vielleicht haben solche Schritte mehr, zeigen mehr Wirkung."
Gleichzeitig Hinweise auf eine Differenzierung unter den Wohnungslosen, Versuche der Abgrenzung. Ich/wir - die anderen. Wohnungslose als Gesellschaft in der Gesellschaft. Mit Anführern und Lakeien.
Widerspruch: Leben auf der Straße ist toll (wenn man es hinter sich hat)
JENS: "Naja, so, wie gesagt, ich fand diese Zeit ganz toll. Also ich muß ehrlich sagen, gut, so wiederholen würde ich die nicht mehr so. Ich meine, jetzt kann ich sie auch nicht mehr so machen. Weil ich bin älter geworden, weil ich ganz andere Vorstellungen, Lebensvorstellungen habe."
Stategien zur Wohnungsbeschaffung
Interessant ist, daß beispielsweise HANS in Hinblick auf eine Wohnung auf eine Pastorin in Neukölln vertraut. Oder DIETER, der der Meinung ist, über Bekannte und Mitwohngelegenheiten würde sich was ergeben. Auch OTTO hat, allerdings erfolglos, "seine Beziehungen spielen" lassen. Bevorzugt werden offenbar private Kontakte als der bessere Weg, statt anonym irgendwelche Schreiben an irgendwelche Behörden zu richten. Wohnungsvermittlung über private Kontakte zu persönlich sympathischen Sozialarbeitern alternativ zur Behörden: Beispiele von Leuten, die darauf setzen: DIETER, HANS. These: Vorrang von sozialen Beziehungen statt Vertrauen auf behördliche oder institutionelle Zuständigkeiten bei der Wohnraumsuche, -Vermittlung und -beschaffung.
Wohnen gegen Kontrolle?
Wohnen gegen Kontrolle wird von vielen Wohnungslosen kritisch beurteilt oder abgelehnt, insbesondere dann, wenn mit der Wohnung oder Wohnmöglichkeit in einem Wohnprojekt ein Zugang durch Dritte vorgesehen wird. Wie das Beispiel der Sozialhilfegewährung zeigt, bei dem einige Bezieher den Modus der Auszahlung (wöchentlich, 14-tätig, monatlich) selbst unter Abschätzung eigener Fähigkeiten aushandeln, sollte das Maß der Wohnbetreuung oder Wohnkontrolle Gegenstand von Verhandlungen sein.
Übereinstimmend berichten Wohnungslose, daß sie es ablehnen, eine Wohnung zu haben, wenn diese durch Sozialarbeiter kontrolliert wird oder kontrolliert werden kann (HANS, HERBERT)
2.2. "Ambivalenzgruppe"
Widersprüchlicher Bezug zu den Hilfeeinrichtungen
Drei Phasen sind dabei auszumachen, die ein oft typisches Muster der Vorgehensweise zeichnen, nachdem Wohnungslosigkeit aufgetreten ist: Eine erste Phase der annähernden Orientierung an die Angebote der Hilfe, eine zweite als "Freßtourismus" zu bezeichnende Phase, sowie eine dritte Phase der differenzierenden kontinuierlichen Nutzung einiger Angebote.
In der ersten Phase wird Kontakt zu anderen Wohnungslosen hergestellt, die in die Welt der Berliner Angebote für Wohnungslose einführen können. Dadurch können eine Reihe von Angeboten kennengelernt werden ist es aber auch möglich, sich schon bald selbständig zu orientieren. Dabei sind die in den Einrichtungen aushängenden Informationen über weitere Angebote behilflich. Oftmals ist die Hemmschwelle, solche niedrigschwelligen und niedrigstschwelligen Angebote zu betreten, sehr hoch. Allein schon das Hineingehen kostet Selbstüberwindung. Eine solche Unsicherheit ist häufig bei neuen Besuchern von Einrichtungen zu beobachten.
In der zweiten Phase wurden bereits eine Reihe von Einrichtungen kennengelernt. Es ist bekannt, wann und an welchen Tagen sie geöffnet haben und was dort zu erwarten ist. Der Tages- und Wochenrhythmus ist darauf eingerichtet, jeder Tag besteht aus einer Tour mit Anfangs- und Endpunkt und aufeinander abgestimmten Stationen. Das Gerüst dieser Tour bilden die öffentlichen Verkehrsmittel: S-Bahn, Straßenbahn und U-Bahn ermöglichen eine Mobilität zwischen den Einrichtungen und dem Schlafplatz. Bis auf die die Fahrscheinkontrolle bei den Bussen ist das Schwarzfahren ohne besondere Probleme möglich. Man kennt die Verbindungen, die Umsteigemöglichkeiten, die Fahrdauer. Viele Wohnungslose entwickeln ein solches alltagsstrukturierendes System der Nutzung verschiedenster Wärmestuben. Angesichts der Notsituatio wird zunächst alles mitgenommen, was zu kriegen ist.
Die dritte Phase ist gekennzeichnet durch eine Differenzierung bei der Nutzung von Angeboten. Es ist nun möglich, vom "Freßtourismus" Abstand nehmen zu können und zwischen den sich bietenden Möglichkeiten zu wählen. Gewählt werden Wege, die ermöglichen, unauffällig und ohne viel Reibung über den Prozeß einer schleichenden Gewöhnung in bestehende soziale und institutionelle Strukturen hineinzurutschen. Nur zögerlich werden Angebote wahrgenommen, die unverbindliche soziale Beziehungen ("wenn du ständig mitmachst, dann kennt man die Leute näher") und einen relativen Freiraum ("da kannst du ein bißchen mehr machen" ) gegenüber den Zwängen von Straße , Behörden und Institutionen ermöglichen.
Daraus entwickelt sich schnell eine engumgrenzte Tätigkeit des Nehmens ("kannst schon mal vorher hingehen und fragen") und Gebens ("halt saubermachen und so weiter"). Eine wichtige subjektive Funktion dieser Tätigkeit besteht im Erwerb, in der Sicherung und moralischen Legitimation des Bleibe- und Nutzungsrechts.
Der Zugang Wohnungsloser zum ambulanten Hilfesystem (insbesondere Wärmestuben und andere Tageswohnungen) erfolgt häufig über Wohnungslose, die diese Einrichtungen bereits nutzen. Das bedeutet, daß den Nutzern und Besuchern solcher Einrichtungen eine Multiplikatorenfunktion bei der Rekrutierung von neuen wohnungslosen Besucher zukommt, die vorher nicht vom Hilfesystem erreicht wurden (Neuauftritte, Zuwanderer). Dennoch ist festzuhalten: Selbst niedrigschwellige Angebote wie Wärmestuben stellen für einen Teil der Wohnungslosen eine Hemmschwelle dar.
Bedürfnis nach Tätigkeiten
Es gibt ein Bedürfnis Wohnungsloser nach Tätigkeiten mit alltagsstrukturierender Funktion (WERNER, JENS). Die Möglichkeiten selbstbestimmter Tätigkeiten Wohnungsloser im Bereich ambulanter Hilfeangebote (insbesondere Wärmestuben u.ä.) sind m.E. bei weitem noch nicht ausgeschöpft.
Frauen
Frauenspezifische Hilfeangebote müssen weiter ausgebaut werden. PAULA mahnt hier Defizite an. Notwendig erscheint die Errichtung einer Wärmestube eigens für Frauen im innerstädtischen Bereich.
Widerspruch in den Einrichtungen
Häufig wird von den Wohnungslosen einerseits beklagt, daß sie in den Einrichtungen nicht genügend persönliche Hilfe erfahren, auf der anderen Seite wird Hilfe gleichzeitg als Bedrohlich empfunden, als zu private Einmischung.
Beispiel DIETER: In den Wärmestuben nimmt ihn niemand an die Hand, andererseits: er wurde schon mal angesprochen, hat dann aber abgelehnt, weil ihm das zu peinlich war.Inadäquate Hilfen ziehen oftmals ähnlich destabilisierende Folgen für die psychische Verfassung Wohnungsloser nach sich, wie der Wohnungsverlust selbst.
Wohnungslose, die aus einem Tief herauskamen, taten dies nicht, weil sie Hilfeangebote hatten, sondern weil sie einen Grund sahen, diese Hilfeangebote in Anspruch zu nehmenWohnungslose engagieren sich in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, etwa in der Küchenarbeit von Wärmestuben und Tageswohnungen. Bei Konflikten (WERNER) offenbart sich häufig ihre rechtlose Stellung: Objektiv ein Problem bestehender Rechtunsicherheiten, fehlender gesellschaftlicher Absicherungen. Zum Beispiel durch Verträge (Vergleichbar: MARTINA in der Bauwagensiedlung und WERNER im besetzen Haus. Subjektiv aber auch ein Problem von mangelnden Konfliklösungsstrategien.
"Oder du gehst in die Levetzowstraße, ne. Ich meine, da ist eine soziale Beratungsstelle, mit den Leuten da kannst du auch, dann kannst du da mal 2 Nächte hin, oder bei der Heilsarmee, das geht alles, ne." (MARTIN)
Damit ist aber auch klar, daß ein hoher Aufwand verbunden ist, nur um die nächste Nacht oder die nächsten Nächte gesichert sind, die ganzen Laufereien mit den Papieren. Deshalb viele Leute, die von dem Angebot nichts halten.
Durchsetzung von Rechten
Offenbar ein typisches Problem der Wohnungslosen, die aus der ehemaligen DDR kommen: Sie können sich gegenüber Behörden nicht durchsetzen, können damit eigentlich nicht umgehen, wissen nur sehr wenig über ihre Rechte und Pflichten und resignieren schnell: Wenn die Behörde nichts für mich tun kann, ist das zwar schlecht, aber man kann dagegen eben nichts tun (FRANK, DIETER)
Fehlende Papiere
Verlust häufig während der Wohnungslosigkeit: Diebstahl oder verloren): Teufelskreis - ohne Geld keinen Ausweis, ohne Ausweis kein Geld vom Sozialamt; fehlendes Geld für den Ausweis, keine Meldeadresse.
Nutzungsformen gegenüber Einrichtungen
- Gelegentlich eine Einrichtung in Anspruch nehmend: FRANK
- Dauerhaft und regelmäßig eine in Anspruch nehmend: ERNST
- Verschiedene unregelmäßig in Anspruch nehmend: GERHARD
- Dauerhaft und regelmäßig verschiedene in Anspruch nehmend: DIETER
Arbeit in der Wohnungslosigkeit.
Extrembeispiel JENS: Soziale Tätigkeit, Gegenbeispiele: HANS, ERNST usw. Stellenwert der beruflichen Tätigkeit für die Persönlichkeitsentwicklung und Aneignung von Fähigkeiten und Fertigkeit im Umgang mit der Wohnungslosigkeit. Umgekehrt auch die Möglichkeit, in der Entwicklung von Hilfen an dem Erreichten und den Defiziten anzusezten.
Dabei muß man auch sehen die Funktion von ehrenamtlicher Tätigkeit, zum Beispiel OTTO in der AIDS-Beratung oder JOCHEN durch das soziale Verständnis der ehrenamtlichen Küchentätigkeit oder WERNER in der Fortsetzung seiner Vaterrolle in der Hausbesetzeraktion.
2.3. "Distanzgruppe"
"Kumpels" auf der Straße
Der Blick auf die Untersuchungsgruppe hinsichtlich dieser Frage offenbart die Bedeutung sozialer Beziehungen auf der Straße. Die Personen der "Nähegruppe" kennen keine "Kumpels", es sind vor allem Personen aus dem Kontext der Hilfeeinrichtungen, die für sie relevante Bezugspersonen und Gesprächspartner darstellen. Wohl auch deshalb, weil sie eine Lebenssituation und eine gesellschaftliche Integration repräsentieren, die für sie erstrebenswert erscheint.
D.h. "Kumpels" zu haben, ist auch Ausdruck eine spezifischen Umgangsstrategie mit der Wohnungslosigkeit, Ausdruck eines Beziehungs- und Kooperationsbedürfnisses, erzwungen durch die Isolation, Ausgrenzung von zentralen Lebensbeziehungen, auch eine Reaktion auf den Umgang der Nichtwohnungslosen Bevölkerung mit den Wohnungslsoen, des Verwiesenseins auf eigenen Bestände, die eine solche ambivalente Orientierung gegenüber der Lebenslage gleichgestellten und ähnlich orientierten erst hervorbringt.
Szene=Familie
Deutlicher als viele andere meiner Gesprächspartner artikuliert ACHIM, daß die "Szene" wie eine Familie, wie ein Familienersatz ist. Allerdings in der Regel eine deutliche Abgrenzung gegenüber den Junks und den Leuten vom Zoo. Aber der beschworene Zusammenhalt bezieht sich häufig nur auf die Tatsache, daß man ohnehin zusammen auf der Straße hängt und dort lebenspraktische Probleme zu regeln hat. Der Zusammenhalt fällt dann in sich zu zusammen, wenn die individuelle Not doch größer ist als die Rücksicht auf den Kumpel: Beispiel SIEGFRIED: "Aber hier, das ist Zusammenhalt. Und wir 3, kein Problem. Guck mal, geht der weg, oder der weg, einer muß immer aufpassen auf Klamotten. Entweder sitzt ich da, oder er. Kein Problem. Ich kann eine Stunde hier jetzt weglaufen, na, dann paßt er eben auf meinen Schlafsack auf, das ist auch egal." (SIEGFRIED)
Betteln
"Wer nach dem Tisch anderer schauen muß, dessen Leben ist nicht als Leben zu rechnen." (Jesus SIRACH 40, 29) - "Im Mund des Frechen ist Betteln süß, doch in seinem Innern brennt es wie Feuer" (Jesus SIRACH 40, 30)
Wohnungslosigkeit als kritischer Zustand
Lebenslage Wohnungslosigkeit ist in der Regel ein kritischer Zustand. Beginn wenig angemessener Reaktions und Handlungsmuster im Verlauf der Biografie häufig schon vorher festzustellen, oder mit der Lage Wohnungslosigkeit häufig akut. Im Zusammenhang mit dem Auftreten psychischer krisenartiger Erscheinungen, Reaktions-, Umgehens- und Verarbeitungsformen (DIETER) ist zu fragen, ob hier nicht bereits alle Anfänge einer Pathografie zu sehen bzw. zu finden sind.
Beispiel JOCHEN: "Weil ich weiß, erstmal, ich habe was zu tun, was mir Spaß macht, ich helfe damit ja anderen Leuten, wobei wir wieder bei einem Thema sind, was bei mir sehr hervorspringt, denn ich helfe gerne anderen, aber an mich denke ich meistens nicht. Wie gesagt, ich bin manchmal so nervlich kaputt mit meinen eigenen Sachen, aber versuche immer wieder anderen zu helfen. Anstatt ein bißchen Zeit für mich zu nehmen, opfere ich mich für andere auf, bloß mittlerweile habe ich das so einigermaßen im Griff. Daß du dann auch mal sagst: 'Okay, Moment, jetzt bin ich dran, also, jetzt kommt keiner mehr!'"
Die akute Selbsttötungsgefährdung Wohnungsloser ist bislang in der wissenschaftlichen Diskussion nicht hinreichend thematisiert: Zwei Wohnungslose berichten explizit von Selbsttötungsversuchen: GERHARD und FRANK; SIEGFRIED spricht immerhin diese Möglichkeit an. Zwei weitere Wohnungslose, SIEGFRIED und HERBERT, berichten außerhalb der Gesprächsaufzeichnung von Selbstmordversuchen. In einem früheren, nicht mit Tonband dokumentierten Gespräch deutete HERBERT beiläufig an, daß er noch Geldstrafe zu zahlen hätte, weil er sich einmal in der U-Bahn "auf die Gleise gesetzt" hätte.[2]
Der Umfang an Personen innerhalb der Untersuchungsgruppe (4 von 17 Personen = 23,53% der Untersuchungsgruppe) ist damit als signifikant zu bezeichnen. Auffällig ist, daß es sich dabei um Personen handelt, die in relativer Distanz zum Hilfesystem stehen und/oder schon seit längerer Zeit wohnungslos sind. Die subjektiv erlebte, immer wieder aufbrechende Erfahrung der Sinnlosigkeit der eigenen Existenz äußert sich möglicherweise auch in einer latenten Bereitschaft zum Suizid.
Stadt und Land
Viele Wohnungslose äußern das Bedürfnis, die Stadt verlassen zu wollen. Dies kommt zum Tragen bei Leuten, die in ländlichen Strukturen großgeworden sind (ERNST, HANS), aber auch bei Städtern (OTTO). Hier wird folgender Widerspruch deutlich: Die Menschen wollen nicht unbedingt in der Stadt wohnen und leben, andererseits müssen sie es tun, weil nur die Stadt ihnen in ihrer Wohnungslosigkeit Überlebensmöglichkeiten bietet. Auch innerstädtisch wird so verstehbar, wieso die Wohnungslosen sich nicht in periphere Stadtbezirke abdrängen lassen, sondern immer wieder ins Zentrum zurückkehren.
Platte machen
Erläutert JOCHEN: "Ich habe im Tiergarten geschlafen, habe einen Schlafsack zu der Zeit noch gehabt, einen Rucksack mit Klamotten, und, ich habe mir da nachher - im Tiergarten, da ist so ein kleiner Tümpel voll mit Gebüsch - da habe ich mir dann eine kleine Hütte gebaut, habe dann auch mal meine Sachen drin gelassen, die konnte echt keiner sehen. Das ging Monate gut. Bis ich dann auf einmal abends dahin kam, da war nichts mehr da. Kein Rucksack, kein Schlafsack, keine Klamotten, gar nichts. Dann habe ich so da noch eine Zeit lang geschlafen, und nachher wurde es mir zu kalt im Winter, da bin ich dann auf S-Bahn umgestiegen." (JOCHEN)
Platte machen ist mehr, als einfach nur irgendwo einen Schlafplatz suchen: Mit welchen Aufwendungen dies im Einzelfall verbunden sein kann, davon berichtet beispielsweise Werner: "Ich hatte ja keine Wohnung gehabt, da habe ich erstmal, du kannst sagen, übern Winter bis zum März auf dem Hauptbahnhof auf der Bank geschlafen. Nachts. Nacht für Nacht. Beziehungsweise, wenn da Stunk war, das konnte man schon abends absehen, wer auf dem Bahnhof ist, dann bin ich eben nach Schönefeld gefahren, beziehungsweise dann nach Bernau rausgefahren mit der S-Bahn, beziehungsweise ich habe da auf dem Bahnhof gepennt im den Warteräumen.
DIETER, den ich unabhängig von WERNER kennenlerne, berichtet, daß er etwa im gleichen Zeitraum auch immer mit der S-Bahn in die Außenbezirke rausgefahren sei, um dort zu übernachten.
Tiere
Tiere, in der Regel Hunde werden noch wichtiger in der Lebenslage Wohnungslosigkeit: Sie ist Begleiter, stellen einen Schutz dar, wärmen beim Übernachten draußen und sind häufig die einzigen Bezugspersonen. Von daher hat es hohe Priorität, sich um seinen Hund zu kümmern, aber auch Phänome anfänglicher Begeisterung und späterer Gleichgültigkeit bis hin zur Brutalität im Umgang mit Hunden sind beobachtbar, insbesondere bei jüngeren Wohnungslosen.
Mit Hunden läßt es sich besser und effektiver Betteln, zugleich ist ein Hund aber in der Regel ein Hinderniß, überhaupt in Einrichtungen hinenzukommen.
Gründe für die Ablehung von Angeboten des Hilfesystems
- Massenunterkunft (Zwangsgemeinschaftliche Unterbringung) wird abgelehnt (ACHIM)
- Reglementierung wird kritisiert
- Mangelnde Dauerhaftigkeit
- Angst vor Diebstahl
- Vermeidung des Umgangs mit anderen Wohnungslosen (Distanzierung: "dort sind vorwiegend Alkoholiker")
- Fehlende Eingangsvorausetzungen: Bezug zum Sozialamt: Kostenübernahme (DIETER, GERHARD, FRANK);
- Reproduktion auch ohne Geld über ambulante Hilfe möglich (Ernährung, Kleidung, Decken, Tabak) (DIETER)
- Unkenntnis, fehlendes Wissen über zustehende Leistungen und bestehende Rechte
- Angst vor Behörden, mangelnde Durchsetzungsfähigkeit, negative Erfahrungen
- Mitwirkungspflicht soll vermieden werden
- "Beziehungsrücksichten": FRANK hofft, wieder zu einem besseren Verhältnis zu seinem Vater zu kommen. Wenn FRANK zum Sozialamt geht, erfährt sein Vater von seiner Situation und ist unterhaltsverplichtet.
Stolz (Transferleistungen werdern nicht in Anspruch genommen)
- man kann sich aus eigener Kraft helfen
- man will nicht hilfebedürftig sein oder als Hilfebedürftiger dastehen
- man will nicht vor anderen die eigene Notlage zugeben
- man will nicht, daß Angehörige davon erfahren (insbesondere dann, wenn sie Unterhaltverpflichtet sind)
Gewalt auf der Straße
Was der Kopf nicht verarbeiten kann, wird allzu häufig mit den Fäusten ausgetragen.
Das Problem der Verarbeitung der Veränderungen in der biografischen Entwicklung und der Lebensbeziehungen und Lebenslagen überhaupt: Problem Bewußtseinsnivau und -leistungen. Die Frage nach der Angemessenheit von Lösungsstrategien im Zusammenhang mit biografischer Entwicklung, dem Auftritt von Wohnungslosigkeit und der Bewältigung der Lebenslage Wohnungslosigkeit überhaupt Ganz konkret die Frage nach Gewalt als subjektiv nachvollziehbare, objektiv aber nicht adäquate Reaktionsform auf die Tatsache des vielfäligen Ausschlußes von Bezugsmöglichkeiten für sinnvolle Tätigkeiten und Lebensbeziehungen, Auch eine Frage der Einschränkung von Wahrnehmungen als Folge von extremer Isolation (Mechanismus der Widerspiegelung der in den (noch möglichen oder bereits zerfallenden) Tätigkeiten immanenten Beschränkung Eine Wohnung ist nicht alles ...
Eine materielle Grundsicherung wäre Basis und Voraussetzung für eine konstruktive Bearbeitung der zentralen Lebensprobleme, aber zum ersten sind gerade die von der Distanzgruppe am weitesten davon entfernt, und zum zweiten ist allein mit der Gewährung von materieller Hilfe noch keine Erfolgsgarantie verbunden - das wird insbesondere dann zu einem Problem, wenn mit der Gewährung von Hilfen mit Wohlverhalten, wenn die Gewährung von Hilfen ein Tauschgeschäft gegen usw. ist. Gesellschaftlich notwendige Hilfe wäre hier zu verstehen als gesellschaftlich notwendige Risikoinvestition ohne Erfolgsgarantie, müßte geleistet werden, ohne das eine Erfolgserwartung damit verbunden wird
2.4. "Selbstorganisationsgrupppe"
Selbsthilfe und Kulturarbeit als der "3. Weg" für einen Teil der Wohnungslosen?
Angesichts der Aussichten und den Angebots, dem sich die konventionelle Hilfe gegenübersieht bei Vermittlung von Wohnungen und Arbeitsplätzen durchaus eine naheliegende These. Ein wichtiges Mittel, die Sprachlosigkeit Wohnungsloser aufzubrechen, und die befreiende Wirkung? Beispiel JENS: "Es war für mich ganz wichtig, nicht das im Fernsehen, aber es war wichtig, das rauszubrüllen. Ich hab's ja nicht rausgebrüllt, ich hab's ja in vernünftigen Bahnen artikuliert. Aber für mich war es eine Befreiung."
Widersprüche auf der Handlungsebene
Beispiel WERNER: "Wir haben mehr erreicht, als wir eigentlich erreichen wollten. Wir wollten eigentlich nur, daß wir hier drinbleiben dürfen, daß wir übern Winter kommen. (...) Der Mietvertrag ist abgeschlossen, da hat das Diakonische Werk übernommen, also als Rechtsträger, zahlen tut hier - der Senat, oder beziehungsweise, wie nennt sich das - die Senatsfinanzdirektion. Die zahlt die Miete beziehungsweise das Grobe, naja, was anfällt. Und wir dürfen da bis zum 1. Mai drinbleiben. Das ist auch wichtig."
Einerseits berichtet er so selbstbewußter, kollektiver Aktion - "wir haben mehr erreicht" -, zum anderen scheint auch das passivische Element "wir dürfen da ... drinbleiben" durch. Damit artikuliert er subjektiv eine auch objektiv bestehende, widersprüchliche Situation.
Nochmals dazu WERNER: "Ja, manchmal ist dir wirklich so, da fragt man sich am Tage , komme ich überhaupt noch wieder? Gehst du wieder auf die Parkbank, beziehungsweise gehst du wieder in ein besetztes Haus rein, und dann ist gut. Bloß, andersrum, wir haben jetzt soviel erreicht, das kann nur so weitergemacht werden."
Kriterien für Selbsthilfe
Als Kriterien für Selbsthilfe benennt JOCHEN: "Keine Gewalt. - Alkohol müßte gemieden werden, und, ja, ein Gruppenzusammenhalt, wie gesagt, einer für alle, und alle für einen. Also nicht, daß da wieder einer gegen den anderen..."
Hausbesetzungen - Hegelplatzaktion
Das Beispiel der Hegelplatzbesetzung verdeutlicht überdies, daß für solche Aktionen auch Unterstützung von Seiten der Sozialarbeiter und -pädagogInnen in den Einrichtungen der Hilfe für Wohnungslose zu haben ist, wenn nicht sogar, wie in diesem Fall, die Initiative von den SozialarbeiterInnen einer Wärmestube bzw. Tagestreffes dazu ausgeht.
Hausbesetzungen als probates Mittel gegen die persönliche und objektiv bestehende Wohnungsnot, das zeigt das Beispiel von WERNER sehr deutlich, haben bei den Wohnungslosen faktisch nur eine marginale Bedeutung und stellen eher die Ausnahme da. Dennoch wird dieses bisher noch kaum erschlossene Handlungsfeld sowohl bei den Wohnungslosen als auch bei den MitarbeiterInnen der Wohnungslosenhilfe hoch bewertet
Sollte sich die Situation auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt weiter verschärfen, sieht es schlecht aus für WERNER: Im schlimmsten Fall beschreibt seine Beteiligung an der Hegelplatzbesetzung nichts weiter die Herausbildung einer neuen Qualität latenter dauerhafter Wohnungslosigkeit für den Fall, daß Rückwege in gesellschaftliche Realität objektiv nicht mehr möglich sind, selbst wenn sie subjektiv mit allen zu Verfügung stehenden Mitteln gewollt wird.
Durch die Entwicklung ambulanter Hilfeangebote, in Verbindung mit einem veränderten Verständnis der Akteure Sozialer Arbeit gegenüber der Klientel ihrer Arbeit ist damit möglicherweise eine neue Basis für Selbsthilfeprojekte, Betroffenenintiative entstanden. Dabei ist die Frage, welche Form, welchen Inhalt diese neue Form der Zusammenarbeit von den Akteuren Sozialer Arbeit und Betroffenen hat und wie tragfähig solche Zusammenarbeit ist und sein kann, welche Zukunft eine solche Zusammenarbeit hat, noch lange nicht entschieden, alle Handlungsräume einer solchen Zusammenarbeit noch lange nicht erschlossen. Erfolge und Mißerfolge liegen derzeit - bei den bisherigen Ansätzen - noch eng beieinander. Eine besondere Bedeutung wird der Frage zukommen, inwieweit, in welchem Maße die Wohnungslosen selbst eingebunden werden können. Wie realitätsbezogen hier die Arbeit vorbereitet und geplant werden kann. Beides hängt miteinander zusammen.
Relativ erfolgreiche und relativ gescheiterte Projekte, Aktionen und Initiativen stehen noch nebeneinander. Soziale Arbeit steht vor einem doppelten Dilemma: Sie schafft durch - in Form ambulanter Einrichtungen und der Betreuungsarbeit stationärer Einrichtungen die Rahmenbedingungen für eine Selbstorganisation der Betroffenen, sei es als individueller oder gruppenbezogener Arbeitsansatz - ohne eine Selbstorganisation wirklich gewährleisten zu können. (Zu den Grenzen des Engagements gerade von Wohlfahrtskonzernen vgl. inbesondere GERSTENBERGER) Soziale Arbeit schafft durch die Koordination ihrer Angebote und die Verknüpfung dieser mit anderen Bereichen institutioneller Hilfe ein Netzwerk, ohne daß es ein Netzwerk der Betroffenen zwingend beinhaltet. In der Tat ist Soziale Arbeit mit Wohnungslosen zunehmend ein Tummelplatz von immer weiteren gesellschaftlichen Gruppen (von den traditionell engagierten Großkirchen/ Wohlfahrtskonzerne, aber auch rückbesinnung von Kirchengemeinden an ihre christliche Caritas und Samariter-Aufgabe, aber auch Sekten, Parteien, Gewerkschaften, politischen Initiativen usw.) Ebenso wenig entschieden ist die Frage, ob es sich bei den bislang laufenden Projekten, Aktionen und Initiativen der Selbsthilfe und Betroffeneninitiativen um eine vorübergehende Prosporität, oder um eine unumkehrbare Entwicklung handelt. Auch hier gibt es, umbeschadet von der Frage nach der Zusammenarbeit, relativ erfolgreiche sowie relativ gescheiterte Projekte, auch bei den relativ erfolgreichen ist noch nicht entschieden, ob und wiefern sie Bestand haben werden. Ansätze zu Vernetzungen bestehen bereits, Vernetzungen sind vielfach auch durch personelle Überschneidungen (Multi-aktivisten) gegeben, von einem tatsächlichen Netzwerk von Betroffenengruppe dürften wir tatsächlich noch weit entfernt sein.
Autoren, die aus soziologischer Sicht die Perspektiven gesellschaftlicher Entwicklung skizzieren, erwarten bezogen auf die Überlebenstechniken der Armutsbevölkerung neben der notwendigen Anpassung an die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen ein Wiederaufleben traditioneller Formen der Produktion und Reproduktion (vgl. HIRSCH/ ROTH 1986; PREUSSER 1988 und PREUSSER 1989). Im Spannungsverhältnis von Selbstorganisation der Betroffenen und Sozialer Arbeit wird der historische Rückgriff auf die Geschichte der Wohnungslosigkeit und die Geschichte Sozialer Arbeit damit wieder interessant.
Zusammenhänge
"Kein Dach übern Kopf zu haben heißt, den Boden unter den Füßen zu verlieren"
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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97