Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung
NICK
Interpretation
NICK wohnt seit seinem 13 Lebensjahr nicht mehr zu Hause, und gibt zur Begründung im Grunde zwei einander widersprechende Versionen an. Zum einen ist er "rausgeflogen", zum anderen hat er "sich abgeklinkt": Innerhalb dessen kommt eine Konfliktlage zwischen NICK und seinem Vater zum Ausdruck, dieser wirft ihm vor, daß er "kifft", "Scheiße baut", NICK erhält kein Taschengeld, bekommt "alles weggenommen", kann seinen Vater nicht mehr leiden. Als Alternative zieht er es vor, auf die Straße zu gehen, zunächst in Hamburg, auch auf der Reeperbahn, später auch im Osten: Leipzig, Dresden, wo die "Glatzen" sind. NICK dagegen ist eher auf der Seite der "Punks, Irokesenschnitte".
Er verläßt Hamburg, weil die "Nazis" Hamburg "voll im Griff haben", und weil er Hamburg seine "Freunde nicht als Freunde bezeichnen kann", das sind "nur Freunde, wenn du Kohle hast". Wenn er mit einem Freund in einem gestohlenen Auto nach Berlin kommen kann, ist das auch einer der Effekte der Einheit, vorher wäre das für einen Minderjährigen aufgrund der Transitkontrollen nicht so ohne weiteres möglich gewesen. In Berlin lebt er vorwiegend am Zoo, beteiligt sich aber auch an der Straßenschlacht um das besetzte Haus in der Mainzer Straße. Überhaupt ist er immer dort, wo "Randale" ist: "Hools", Nazis und überhaupt Rechtsradikale überfallen, Leute abziehen und "abknallen", Autos klauen. Die 9-Millimeter-Gaspistole und die Baseballkeule gehören dabei genauso zu seinem Status wie die Jugendhaft und seine ständig länger werdende Strafakte. Seine Lebensstrategie stilisiert er vordergründig als Kampf gegen den Faschismus und Ausländerhaß hoch, tatsächlich geht es zunächst darum, sich damit Klamotten und Geld zu verschaffen.
Eine weitere Linie seiner Biografie ist der Drogenkonsum, zunächst weil es "einfach cool" ist und "fetzt", aber auch, weil die "Hoffnungen alle schon abgestorben" sind, und um für ein paar Stunden alles zu vergessen. Er verändert damit seine Lebenslage nicht, entgeht ihr aber phasenweise, bis zum nächsten Mal. Eine letzte Linie der Abgrenzung zieht NICK noch gegenüber denen, die - im Unterschied zu ihm - an der Nadel hängen, und aus diesen Gründen "anschaffen gehen" oder "Leute abziehen". Nur in wenigen Passagen wird etwas von seinen inneren Konflikten deutlich. Das Leben am Zoo ist für NICK, das weiß er selbst auch sehr genau, Alternative auf Zeit gegenüber anderthalb Jahren ausstehender Jugendhaft, bis ihn "die Bullen erwischen", dann ist er "dran, aber voll!"
NICKS persönlicher Sinn besteht darin, Scheiße zu bauen. Was genau das ist oder sein könnte, weiß er selbst nicht so genau. "Kiffen" ist ein Begriff dafür. Zum Ausdruck kommt darin ein Bedürfnis, zunächst in der Abgrenzung zu anderen (sein Vater als Repräsentant der "normalen Leute") eine eigenständige Identität zu entwickeln, die er im Konflikt mit seinem Vater erstmalig zu behaupten versucht. Sein Vater kann damit nicht umgehen, er versucht das zu unterbinden, indem er ihm Vorwürfe macht, finanzielle Zuwendungen einschränkt und ihn des öfteren rausschmeißt. NICK entwickelt gegen seinen Vater eine wachsende emotionale Abneigung und sieht sich gezwungen, sich schließlich von sich aus "abzuklinken." Andere Alternativen sieht er nicht. Die Schuld, die Zuständigkeit für diese Entscheidung schreibt er seinem Vater zu.
Keiner der anderen Wohnungslosen wendet sich in derart früh und derart radikal, entschieden und unwiederkehrbar von den überkommenen Lebensumständen der Kindheit (Eltern, Schule usw.) ab wie NICK. Er ist kein Ausreißer, der mit dem Weglaufen Signale setzen will, er geht von zu Hause weg, um dort um jeden Preis nicht mehr zurückzukehren. Die Tiefe und Dramatik der vorliegenden Konfliktsituation bleibt nur Andeutung. NICK ist kein Einzelfall, die Dynamik der konkurierenden Jugendbanden, Cliquen und Szenen in verschiedenen Städten Deutschlands, von denen er berichtet, ist Beleg dafür.
Fortan entwickelt er seine Identität im Handlungszusammenhang mit anderen in wechselnden Beziehungs- und Gruppenkonstellationen: Wenn er mit Kumpels Autos knackt, Leute abzieht, Bullen auszieht, bei Straßenschlachten ist, er ist immer nur einer der Beteiligten. Was er als Kampf gegen den Faschismus und Ausländerhaß bezeichnet, ist nur dem ersten Anschein nach eine identitätsstiftende Schablone der Zugehörigkeit zu einer Straßengang oder Szene. Der inhaltliche Ausweis als "linker" Punk ist eher Etikett als Programm, eher beliebig und zufällig denn bewußt gewählt, folgt weniger abstrakten politischen Motiven als vielmehr überlebenspraktischen Erwägungen. Konkret geht es nicht um einen politischen Kampf auf der Straße, sondern um das Beschaffen und Abziehen von Kleidung und Geld zum Überleben auf der Straße. "Punks" und "Irokesenschnitte" auf der einen, "Hooligans" und "Rechtsradikale" auf der anderen Seite überfallen sich aus diesen Gründen gegenseitig, deshalb verschwindet er auch mit einem Kumpel aus Hamburg, weil dort "die anderen" in der Übermacht sind, "alles im Griff haben". Aus den gleichen Gründen kann er auch nicht im Leipzig und Dresden bleiben. In Berlin ist das Kräfteverhältnis ausgeglichen, "Punks, Irokesenschnitte und alle, die helfen dir in jeder Situation (...) Hier kannst du die Freunde auch als Freunde bezeichnen", deshalb bleibt er hier.
Mit dieser völlig autarken Lebensform bewegt sich NICK ständig in der Illegalität, er lebt quasi im Untergrund. Wenn der Konkurrenzkampf der rivalisierenden Gruppen eskaliert, oder wenn einfach zuviele wie NICK am Zoo rumhängen, wird damit häufig das Eingreifen der Polizei provoziert, denen es ansonsten "scheißegal" ist, was NICK macht oder nicht macht. Damit sind auch die "Bullen" potentielle Gegner, die abgezogen werden. Unausweichlich entsteht daraus eine Eigendynamik in der Konfrontation mit den sanktionierenden Maßnahmen der Staatsgewalt, der Beginn einer sogenannten "kriminellen Karriere". Auf der Straße haben die Erfahrungen in der Jugend- und Untersuchungshaft für NICK am ehesten noch die Funktion eines Kompetenznachweises.: "Viel Feind, viel Ehr!" Die Bereitschaft, in der scheinbaren Anonymität der Masse einem anderen aus einer konkurierenden Gruppe einen brennenden Molli über den Kopf zu hauen, muß als extremster Ausdruck des Bedürfnisses gewertet werden, sich in diesem Szenezusammenhang als eigenständige, unverwechselbare Persönlichkeit zu profilieren, als besonders "cool" zu erscheinen.
NICKS Tätigkeiten sind weitgehend von den unmittelbaren Anforderungen der aktuellen Situation bestimmt. Nur die Orientierung verändert sich. War sein Leben auf der Straße zunächst durch die vollständige Abgrenzung von seinem Vater bestimmt, sieht er sich nunmehr gezwungen, sich in der Orientierung gegen konkurierende Gruppen und die seine Lebenslage bedrohende Staatsgewalt zu wenden. Beidem kann er nicht auf Dauer entgehen. Zunehmend wird ihm die Perspektivlosigkeit und die sich gegen ihn verkehrende Dynamik seiner gewählten Handlungsstrategie offenbar. Für NICK sind alle Hoffnungen abgestorben. Das Leben im Untergrund macht für ihn keinen anderen Sinn mehr außer als Alternative zur ausstehenden Haftstrafe von eineinhalb Jahren. Er sieht seine Rettung im Konsum von Drogen. Auch diese Lösung trägt immer nur wenige Stunden weit, es ist eine immanente Scheinlösung, und das weiß er. Er kann dem nichts anderes entgegensetzen, als das als "fetzend" und "cool" umzuinterpretieren.
Zwei Abgrenzungen sind ein seinem Handeln noch erkennbar. Ganz deutlich wird ihm in der Jebensstraße am Zoo der Zusammenhang von Heroinkonsum und Prostitution vor Augen geführt. NICK spritzt zwar Heroin, aber nicht so oft, und will nicht an der Nadel hängen, d.h. er hat noch eine Wahrnehmung für eine mögliche Eskalation seines Drogenkonsums. Ganz offensichtlich sieht er hier den unmittelbaren Zusammenhang zum Anschaffen-gehen. Vor einer konsequenten Flucht an die Nadel und die daraus resultiende Notwendigkeit der Beschaffungsprostitution schreckt er deshalb noch zurück.
Auf der anderen Seite sieht er in der ihm bevorstehenden Haftstrafe keinen Sinn, sodaß er es vorzieht, auf der Straße zu bleiben und diese ebenfalls aussichtslose Perspektive für ein paar Stunden mit Drogenkonsum zu bearbeiten. Mehr weiß NICK in seiner derzeitigen Situation nicht. Für die Rückkehr zu seinem Vater fehlen ihm alles Mittel, damit umzugehen. Er hat ihn "schon lange abgeknallt", was anderes weiß er auch hier nicht.
Deutlich wird in seinem Handeln das Bedürfnis, seine Subjektivität als Akteur (beim "Abziehen", beim Totschlag des Hooligans) zur Geltung zu bringen und damit dem bloßen Zwang des Ausweichens oder Mitmachens etwas entgegenzusetzten. Er will jemand sein, hat aber keine deutlichen Ziele vor Augen und ist derzeit nicht in der Lage, die Tragweite seines Handelns überhaupt zu erfassen. Er erlebt nur die Wirkungen, die ihn in eine zunehmend defensivere Lage versetzen.
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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97