Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung
ACHIM
Interpretation
ACHIM erlernt den Beruf eines Glasers und deutet an, daß er in dieser Zeit soviel Alkohol konsumierte, daß die darauffolgenden Tage für ihn zu Problemtagen werden. Ohne daß er es explizit sagt, benennt er seinen Alkoholkonsum als eine der Ursachen dafür, daß er Schwierigkeiten mit seiner Berufsausübung hat. Alkohol trinkt ACHIM schon immer, er sagt aber eindeutig, daß dies nicht sein Problem war. Als Problem, und aus heutiger Sicht als Fehler benennt er die Entscheidung, im Alter von 21 für vier Jahre zur Fremdenlegion zu gehen. Er lernt dort ein Lebenskonzept kennen, daß er inzwischen nicht mehr teilt: "Allemachen ist das Gesetz. Heute denke ich etwas anders drüber." Nach dieser Zeit kehrt er nach Moabit zurück, hat dort eine eigene Wohnung, verdient sein Geld mit der Reparatur von Fernseher und Videos, jenseits aller offiziell geregelter Arbeitsverhältnisse ist er in dieser Zeit sein eigener Chef, der für Freunde und Bekannte, und über Mund-zu-Mund Propaganda mit dieser Form selbstbestimmten Herumwerkelns über zehn Jahre gut über die Runden kommt. Er lernt eine Frau kennen, gibt seine Wohnung auf, zieht zu ihr. Als es dann zu einem Zerwürfnis kommt, wirft ihn seine Braut aus ihrer Wohnung. ACHIM hat, weil er sich nie um eine polizeiliche Anmeldung, einen Untermietvertrag oder vergleichbare Absicherungen gekümmert hat, keinerlei rechtliche Ansprüche und ist ohne eigene Wohnung. Damit verliert er nicht nur seine Unterkunft, sondern auch die Funktion der Wohnung als Arbeitsraum und das Ersatzteillager für sein privates Gewerbe. Der Rauswurf durch seine "Braut" ist die zweite dramatische Phase in ACHIMS Biografie. In dieser Situation greift er zur Kriminalität als Überlebens- und Geldbeschaffungsstrategie. Dabei geht es keineswegs um beliebige Gesetzesübertretungen, sondern um die hohe Kunst ausgeklügelter "Betrugsarien", die mangels Masse und Leistungsorientierung auf der Ebene der Kleinkriminalität verbleiben. Diese Art der Existenzsicherung beinhaltet ein kalkuliertes Inhaftierungsrisiko, das folgerichtig Wirklichkeit wird. Spätestens hier kommt das von ACHIM häufig zitierte leitende Interpretationsmotiv seiner Biografie zum Tragen, der sogenannte "Scheiß-Egal-Effekt". Daß ihm keineswegs alles Scheißegal ist, dokumentiert er dadurch, indem er einen Freigang nutzt, um - mitten im Winter - die Freiheit der Wohnungslosigkeit dem weiteren Verbleib in der Haft vorzuziehen. Die offene Haftstrafe ist auch der subjektive Grund, Leistungen des Hilfesystems nicht in Anspruch zu nehmen, da er hier die berechtigte Gefahr sieht, erneut einzufahren. Sinn macht die Entscheidung für die Wohnungslosigkeit nur auf dem Hintergrund der ausstehenden, noch zu verbüßenden Haftstrafe. Positive Perspektiven kann er damit kaum verbinden, einmal abgesehen von dem brüchigen 'Milchtütenzusammenhalt' auf der Straße. Ganz klar benennt er hier das Bedürfnis, - trotz allen Mülls, den seine Kumpels allzu oft reden - Gesprächspartner zu finden, denen man sich anvertrauen, mit denen man quatschen kann. Dies kann ihm kein Fernseher, den er exemplarisch mit dem Spießbürgerleben und auch mit seiner früheren Biografie verbindet, geben. Daß seine Überlebensstrategien keine Lösung sind, weiß er selbst zu genau.
Beachtung verdient sein alltagspraktischer Theorieentwurf vom "Scheiß-Egal-Effekt". In entfalteter Form artikuliert ACHIM hier eine Verarbeitungsform eines Problemzusammenhangs, der auch bei anderen hier vorgestellten Personen häufig anklingt. Viele Elemente der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Problem der Wohnungslosigkeit und dessen Ursachen sind hier in konzentrierter und ineinander verschränkter Form enthalten. Der "Scheiß-Egal-Effekt", damit beginnt ACHIM seine Ausführungen, ist nicht gewollt, nicht bewußt herbeigeführt, nicht beabsichtigt. Er tritt auf im Kontext einer kritischen, schwierigen Lebenlage, und markiert gleichzeitig eine neue Qualität im Umgang mit ihr. Er beschreibt diese neue Qualität beispielhaft am Umgang mit der Kriminalität. Das handlungsorientierende und -sanktionierende Bedeutungssystem wird in einer Situation eingeschränkter Handlungsmöglichkeiten relativ, in der Dynamik der aktuellen Notlage wird ohne Rücksicht auf übliche mehrheitsgesellschaftliche Spielregeln gehandelt, andere Lösungen werden möglich. Gleichwohl bleibt das diskreditierte Bedeutungssystem in der Wahrnehmung präsent und muß im Bewußtsein verarbeitet werden:
ACHIMS Formulierung "bloß 'ne Pulle Schnaps bei Aldi (klauen) ... damit der Kopf zu ist" beschreibt sehr treffend diesen Zusammenhang. Nicht nur der gesellschaftlich sanktionierte Tatbestand des Diebstahls, sondern auch die mit dieser Bewältigungsform exzessiven Alkoholkonsums einhergehende gesellschaftliche Negativzuschreibung und Reaktionsweise gegenüber "Pennern" werden sehr genau registriert: "Das klingt immer so gemein." Der "Scheiß-Egal-Effekt" ist die integrierte Zusammenfassung vieler konkreter Probleme, die in ACHIMS Lebenssituation präsent sind: Nicht zu wissen, wo er heute nacht schlafen soll, eine angegriffenen Gesundheitssituation, die ständig präsente - aber letztlich unbeantworte Frage - nach Ursache und Schuld, das präsente Scheitern bei dem Versuch zur Veränderung der Situation an den äußeren Komplikationen und der eigenen Ungeduld.
Gleichwohl ist dieser Effekt etwas anderes als die Antwort auf die Frage nach der Ursache von ACHIMS Wohnungslosigkeit, steht aber mit ihr in einem engen Zusammenhang. "Ich wäre nie kriminell geworden, wenn ich nicht auf der Straße gelegen hätte." Auch für frühere Entscheidungen in ACHIMS Biografie (Alkoholkonsum während seiner Arbeit als Glaser, Entscheidung für die Fremdenlegion, Reperaturtätigkeit von Fernsehern und Videos) liefert der "Scheiß-Egal-Effekt" einen Interpretationsansatz, bezeichnet aber auch eine perspektivisch gewendete Problematik. Deutlich wird: Der "Scheiß-Egal-Effekt" ist kein statisches Phänomen, sondern ein dynamisches Verarbeitungsmuster, daß in bestimmten Lebensphasen alternative Lösungsmuster aus widersprüchlichen Situationen ermöglichte und zu phasenweiser Stabilität führte. Objektiv schränkt sich ACHIMS möglicher Handlungsradius mehr und mehr ein. Die Berufsausbildung ist entwertet, die Fremdenlegionentscheidung wird als Fehler gewertet, die schwarze Reparaturtätigkeit schafft eine Distanz zum regulären Arbeitsmarkt, der Zusammenzug mit der Freundin beinhaltet die Aufgabe der eigenen Wohnung, die Trennung ist gleichbedeutend mit der Wohnungslosigkeit, seine Lebensstrategie der Kriminalität wird mit Haft bestraft. ACHIM hat nicht mehr viel, was ihm scheißegal sein kann. Konkret und folgerichtig angesichts dieser Umstände trägt der "Scheiß-Egal-Effekt" ACHIM nur noch bis zum nächsten Morgen: "Das ist eine Zwangserscheinung, keine Lösung, das weiß ich doch auch."
irgendwo
im fremden land
ziehen sie
durch stein und sand
fern von zuhaus
und vogelfrei
hundert mann
und er ist dabei.hundert mann
und ein befehl
und ein weg
den keiner will
tagein tagaus
wer weiß wohin
verbranntes land
und was ist der sinn?ganz allein
in dunkler nacht
hast du oft
daran gedacht
daß weit von hier
der vollmond scheint
und weit von dir
ein mädchen weint.und die welt
ist doch so schön
könnt ich dich
noch einmal sehn
nun trennt uns schon
ein langes jahr
weil ein befehl
unser schicksal war.wahllos schlägt
das schicksal zu
heute er
und morgen du
ich hör von fern
die krähen schrein
im morgenrot
warum muß das sein?irgendwo
im fremden land
ziehen sie
durch stein und sand
fern von zuhaus
und vogelfrei
hundert mann
und er ist dabei.(Lale ANDERSON)
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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97