Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung
MARTIN
Interpretation
"»Eben, eben. Nicht immer nur beunruhigt sein, sich quälen, verzweifeln, sondern einfach etwas tun können - was Sinn hat - &laqno;, spricht er schon leiser und sieht sich wieder in auswegloser Nachdenklichkeit gefangen. »Wir trinken noch ein Glas Bier&laqno;, bestimmt er."
(NOTH 1982, S. 318)Zur Interpretation der Biographie und Lebenslage von MARTIN drängt sich ein paradigmatischer Sachverhalt gleichsam auf: Die Geschichte einer Alkoholproblematik, die ihn über verschiedene Stadien einer "Sucht" wiederholt in die Lebenslage Wohnungslosigkeit bringt, die Geschichte eines alkoholbedingten sozialen Abstiegs, der die Wohnungslosigkeit gleichsam zementiert. Und obwohl ein solcher interpretativer Ansatz durchaus einige Plausibilität besitzt, wird damit der eigentliche Kern der Problematik nicht angemessen erfaßt. Im Unterschied dazu möchte ich vielmehr unter Bezug auf subjekttheoretische Überlegungen den Versuch unternehmen, im filigranen Spiel mit der Dialektik die spezifische Problematik von MARTINS Biographie und Lebenslage innerhalb des Sinn-Bedeutungswiderspruchs von Persönlichkeits-, Tätigkeits- und Motiventwicklung zu bestimmen. Mit Sicherheit ist das auch eine Geschichte seines Umgangs mit Alkohol - aber der Stellenwert dieses Stoffs wird ein anderer sein.
Dabei nehme ich das Erfahrungswissen eines hervorragenden Experten in Sachen Wohnungslosigkeit, Jonny G. RIEGER, zu Hilfe, ein Berliner übrigens, der selbst etliche Jahres seines Lebens auf der Straße verbrachte und das in mehreren autobiographischen Romanen literarisch verarbeitete. In einer Passage aus seinem 1935 in Zürich im Exil bei der Büchergilde Gutenberg erstmalig veröffentlichten ersten Roman 'Feuer im Osten', für meine Begriffe eines der konzentriertesten künstlerischen Dokumente zum Problem Alkohol [28], schreibt RIEGER:
»Hagashima duselt im Hause umher. Er weiß nicht recht, was er will. Sein Werk quält ihn. In Betrachtungen versunken, gurgelt er einen Whisky hinunter und noch einen zweiten. Den Kummer ersäuft man. Dann folgt die Erregung. Die muß sich austoben. Das nennt man produktive Arbeit. Sie ermüdet und bereitet neuen Kummer. So wird die Flasche allmählich leer. Er ist betrübt über diese Feststellung. Törichte Angewohnheit. Man sollte die Flaschen überwinden. Aber sie sind zum Bestandteil seines Lebens geworden. Eines überflüssigen, erloschenen Lebens. Er wird sich nicht bewußt, daß die weiße Flüssigkeit in den Flaschen für ihn eine tiefere Bedeutung hat. Der brennende Trank ersetzt das erkaltende Blut eines Sterbenden. Er beschwört den glühenden Traum und die erhitzte Phantasie. Dieses weiße, wassergleiche Zeug vor ihm im Glas. Übrigens denkt Hagashima nicht mehr. Er schwimmt in einer wohligen Gedankenlosigkeit. Den Kopf in beide Hände gestützt, sitzt er vor seinem niedrigen Schreibtisch, die Füße untergeschlagen, auf dem weichen Mattenboden. Sein Alter meldet sich. Mildtätige weiße Schleier zieht der Alkohol über sein Denken. Die Schleier zerfließen in süße, wiegende Träume. Leicht und ziehend wie ein fernes Schiff am Horizont. Hagashima ist eingeschlafen...&laqno;
(RIEGER 1935, 237f)Bedeutsam an diesem Text ist nicht der Mann Hagashima und auch nicht die Tatsache, daß er noch in der selben Nacht versehentlich ermordet wird, von Bedeutung ist vielmehr das hier beschriebene Strukturprinzip des fortschreitenden Konsums von Alkohol. "Haus" fungiert hierbei als Metapher für den je individuellen Rahmen der konkreten gesellschaftlichen Bedingungen, die aktive Rolle des Individuums, seine Tätigkeit und auch die Gegenstände seiner Tätigkeit, wird zusammengefaßt im Begriff 'Werk'. Formal gesprochen passiert nun schlichtweg folgendes: Dem psychischen Verarbeitungsprozeß dieser Tätigkeiten - der notwendigerweise, wie LEONTJEW (1973) gezeigt hat, nicht widerspruchsfrei sein kann - wird Alkohol hinzugefügt. "Kummer ersäuft man!" ist der damit in die (subjektive Erlebnis-)Welt gesetzte Imperativ zur Bearbeitung der "Qualen des Bewußtseins", mit anderen Worten, das Problem wird gelöst, indem es zunächst auf der Ebene der Widerpiegelung, im Bewußtsein bearbeitet - d.h. konkret: ersäuft - wird; . mindestens jedoch ist das Ziel, das Ersäufen vorgegeben. In der Rückwirkung der psychischen Maßnahme zeigen sich auf physischer Ebene erste Resultate. Erregungszustände, die sich austoben müssen und in der grundsätzlichen Orientierung auf den Gegenstand des Problems entladen werden können. Die Handlungsfähigkeit - eigentlich nur die Aktivität - wird scheinbar heraufgesetzt, gleichzeitig zeigt das angewandte Mittel seine Nebenwirkungen: Zunächst einen früher einsetzenden Ermüdungsprozeß. Das Problem wird auf grund des Erregungszustandes intensiver angegangen, aber das Tätigkeitsniveau selbst dabei nicht verändert. Es findet kein Lernen statt, schlimmer noch: Wenn das Problem nicht mit bisherigen Mitteln gelöst werden konnte, dann auch nicht durch einen kurzzeitig intensivierten, quantitativ höheren Einsatz derselben nichtadäquten Mittel. Auch die Aussichtslosigkeit des Unterfangens mit zum Gegenstand der Widerspiegelung und liefert erneut Anlaß, es doch weiter mit Alkohol zu versuchen, eine Wirkung war ja feststellbar. Hier wäre ein erster Ansatzpunkt zum Strategiewechsel gegeben. Aber woher soll die Anregung dafür kommen - Alkohol ist zum Teil des Lebens geworden. Ein eingeschlagener, subjektiv richtiger - auch die vermehrte Aktivität wird ja widergespiegelt - Lösungsweg wird weiter gegangen, wird zur Angewohnheit, die gleichzeitig als solche - d.h. in ihrer Unangemessenheit - früher oder später im Verkauf einer Trinkerkarriere wiedergespiegelt wird. Man sollte die Flaschen überwinden. Das erste Hinweiszeichen auf eine Verselbständigung eines eingeschlagenen Weges, das erste Warnsignal auch für eine zum Stillstand gekommene Entwicklung. Denn tatsächlich ist zwar einerseits viel passiert, auf der anderen Seite hat sich nichts oder nur wenig bewegt, in der Regel hat sich nur das Grund- bzw. Ausgangsproblem auf erweiterter Ebene potenziert, ohne das eine Lösung in Reichweite ist. Kein angemessenes Handlungsniveau - stattdessen ein ständig steigendes Alkoholniveau in Verbindung mit der permanenten Auslösung von Tatbeständen, durch die sich die objektive Lebenssituation in stetigem Maße weiter verschlechtert. Alkohol wird zum substanziellen Bestandteil eines Lebens und dominiert alle realen Tätigkeitsbeziehungen, welche natürlich eine eigenständige Dynamik innerhalb dieses entwicklungslogischen Stillstands entfalten: Früher oder später erscheinen die ersten Anzeichen der letzten objektiven Dimension, der des Todes.
Gleich zu Beginn seiner biographischen Erzählung benennt MARTIN ein, sein grundlegendes Problem, das er im Verlauf seines Lebens nicht letztlich zu lösen vermag und das m.E. den Schlüssel zum Verständnis seiner gesamten Biographie bis heute darstellt. Im Alter von 21 oder 22 Jahren verfügt MARTIN praktisch über alles, was zur üblichen Ausstattung einer durchschnittlichen, normalen bürgerlichen Existenzform dazugehört: Eine "starke Leistungsfähigkeit", einen Beruf, in dem er genug zu tun hat und gutes Geld verdient, eine Wohnung, eine Freundin, "das Sexuelle noch dazwischen", ein stimmendes Verhältnis zu seiner Familie. Er kann sich ein Auto, einen Fernseher, Urlaub und was sonst noch zu den Annehmlichkeiten der Reproduktion gehört, bequem leisten. Damit hat er den Übergang von der Ausbildung in die Berufstätigkeit, von der Jugend in die Erwachsenenwelt erfolgreich gemeistert und sich zugleich in dieser neuen Lebensphase eingerichtet. Und dennoch ist mit dem Erreichten nicht zufrieden! Auffälligerweise geht es ihm dabei nicht um ein "Mehr", um eine rein quantitative Verbesserung seiner Situation oder um einen höheren gesellschaftlichen Status. Was ihm in dieser Situation fehlt, was seine eigentlichen Bedürfnisse sind, dafür liefert MARTIN mehrere Hinweise zur Interpretation.
MARTIN erlebt den angeeigneten Bedeutungsraum, der zugleich seine gesellschaftliche Ausgangssituation markiert und das Erreichte widerspiegelt, als in sich geschlossen. Er sieht sich in den Mühlen des Alltags gefangen. Zukunft unter diesen Umständen erscheint lediglich als Wiederholung des Gegenwärtigen, als Verschwinden von Lebenszeit in den nächsten 40 Jahren bis zum Rentenalter. In diesem Trott gibt es keine neuen Ziele, keine sinnvollen Motive mehr. Korrespondierend zur Wahrnehmung der persönlichen Gesamtsituation als abgeschlossenen und abgeschotteten Lebensraum wird das bestehende Netzwerk an Tätigkeiten letztlich unbefriedigend und perspektivlos empfunden, als abgeschlossene Parzelle in einem geronnenem Ganzen wahrgenommen. Das kann doch "Um Gottes Willen" nicht alles gewesen sein, was das Leben zu bieten hat. Das Unbefriedigende in den Alltagsbeziehungen wird als quälend empfunden. Es ist keine von außen zugefügte, sondern eine diesen Beziehungen immanente Qual, die aber dennoch im Bewußtsein real vorhanden ist. Die in den Medien vorgestellten anderen Lebensentwürfe und Mentalitäten nähren das Bedürfnis an Alternativen zur gegenwärtigen Situation, zeichnen das Szenario eines nicht näher spezifizierten Lebensgefühls der Marke "einfach raus mal irgendwie." Zugleich offenbart diese Formulierung, daß auch MARTIN weder über konkrete Ideen noch über Konzepte darüber verfügt, wie denn dieses Bedürfnis umzusetzen sei. Der erreichte Lebensstatus wird weder als Entwicklungsgrundlage zur Erschließung neuer Handlungsmöglichkeiten noch zum Aufbau erweiterter gesellschaftlicher Beziehungen genutzt, sondern vielmehr als Hindernis erlebt. So ahnt MARTIN zwar, was ihm größere Zufriedenheit verschaffen könnte, in objektiver Hinsicht fehlt es ihm an den Voraussetzungen, diese Ahnungen in konkrete Handlungsschritte umzusetzen. Diese mangelhaft ausgebildete Fähigkeit zu kreativer Freizeit- und Lebensgestaltung findet ihre Fortsetzung und Entsprechung in den monotonen Strukturen seiner Arbeitstätigkeit. Ein weiteres Beispiel dafür ist sein Umgang mit dem Bedürfnis, an freien Tagen einfach nur mal für sich allein sein zu können. Statt diesen Wunsch planvoll umzusetzen und mit der Freundin abzusprechen, schwänzt er einfach die Arbeit und schafft sich so einen persönlichen Freiraum. Um ihn auszufüllen und zu gestalten, greift er - in Ermangelung von Alternativen - auf altbewährte soziale Strukturen zurück und sucht Anschluß zum früheren Freundeskreis. Im Freundenkreis wird der Alkoholkonsum umstandslos fortgesetzt. Er trifft sich mit ihnen um mit ihnen eine schöne Zeit zu verbringen, Ausflüge zu unternehmen und - weiterzutrinken.
Zugleich ist das der Beginn einer verhängnisvollen Festsetzung des Alkoholkonsums im alltäglichen Lebensvollzug. Schon während der Arbeitszeit ist MARTIN aus "berufsethischen" Gründen gezwungen, "mehr oder weniger mit(zu)ziehen". Er nimmt den sich steigernden gemeinschaftlichen Alkoholkonsum zwar wahr und weiß, daß diese Praxis nicht unbedenklich ist. Andererseits fehlt ihm wieder die praktische Handlungskompetenz zur praktischen Bearbeitung und Lösung dieses geahnten Problems.
Der rasch einsetzende Gewöhnungsprozeß wird noch verstärkt durch die suchtstoffbedingt notwendigen ständigen Steigerungsraten, sie stellen rein physiologisch eine unerhörte, nur kurzzeitig durchzuhaltende Belastung für den Körper dar. Die mit der Zeit von MARTIN entwickelte Kompensationsstrategie zur Sicherstellung der körperlichen Reproduktion - die freien Tage, die er sich nimmt -, werden als realisierte Freiheit ideologisch überhöht. Diese alkoholexzessive "Freiheit", die er mit seinen Freunden zu leben glaubt, teilt er nicht mit seiner Freundin. Er kommt erst gar nicht auf die Idee, sondern versucht im Gegensatz dazu, ihr das zu verheimlichen. Auch sein Bedürfnis nach Alleinsein spricht er nicht mit ihr ab, sondern er setzt es gegen seine Freundin durch.
MARTIN verstrickt sich in ein Netz von Lügen, Halbwahrheiten und Ausreden, die von der Freundin natürlich nicht unbemerkt bleiben. Sie versucht zuerst, ihn zur Rede zu stellen und eine Verhaltensänderung zu bewirken, aber MARTIN schaltet auf stur. Sie zieht ganz einfach von sich aus einen Schlußstrich unter die Beziehung und verläßt ihn. MARTIN steht alleine da und fühlt sich einsam, ist sich jedoch keiner Schuld bewußt. Mangelnde Sensibilität im Umgang mit partnerschaftlichen Beziehungen. Wenn Frauen die Konsequenzen ziehen, wird das nicht als Infragestellung des eigenen Handelns. Hier offenbart sich eine typisch geschlechtsspezifische Problematik im Kontext der Entstehung von Wohnungslosigkeit bei Männern. Frauen sind es, die Beziehungsarbeit leisten, Männer setzen emotionale Sicherheit und Geborgenheit als natürliche Gegebenheit in der Beziehung voraus. Darüberhinaus stellen sie ohne Rücksicht auf die Partnerschaft das Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit dazu in einen Gegensatz und meinen, beides nicht integrieren, sondern vielmehr unabhängig voneinander durchsetzen zu müssen. Wenn Frauen sich diesen Bedingungen männlicher Beziehungsgestaltung nicht unterwerfen, und die Männer verlassen, wird das eigene Selbstbild damit kaum in Frage gestellt: "Du hast ja gar nichts verkehrt gemacht!" Die Trennung seiner Freundin von ihm bedeutet einen Verlustes an emotionaler Sicherheit und Geborgenheit, MARTIN versucht seine Einsamkeit zu kompensieren, in dem er sich ganz seinem Bekanntenkreis zuwendet und vermehrt trinkt. Alkohol wird zur Veraussetzung, um überhaupt zu funktionieren. Mit der Zeit verkehrt sich diese Verarbeitungsstrategie gegen ihn selbst, beeinträchtigt massiv seine Arbeitsfähigkeit. Schließlich wird ihm wegen ständiger Ruhestörung gekündigt, kurze Zeit später verliert er zum ersten Mal seine Wohnung und kehrt zwangsläufig zu seinen Eltern zurück.
Es beginnt eine wechselvolle und langandauernde Passage zwischen dem Leben auf der Straße, dem Tod seiner Mutter, Autounfällen unter Alkoholeinfluß, begonnenen und nicht zu Ende gebrachten Therapien, Haftstrafen, halbherzigen Neuanfängen, gewährten und vergeigten Chancen, angedachten Beziehungen, vorübergehen Wohngelegenheiten, Gerichtsverhandlungen, Bewährungsstrafen, Trinkerexzessen. Ohne im Rahmen dieser Arbeit auf alle biografischen Passagen im Einzelnen eingehen zu können, kann dennoch folgendes Grundmuster beschrieben werden: In seinem Wahrnehmungsraum ist MARTIN Gefangener in einer Konstellation, die sich in ihren strukturellen Elementen nicht wesentlich von der Ausgangssituation im Alter von Anfang 20 unterscheidet. Er erlebt das Unbefriedigende seiner Gesamtlage und antizipiert einen diffuse Vorstellung davon, daß er eigentlich etwas anderes anstreben, erreichen müßte. Wie wenig er darüber weiß, zeigt sein Bericht über eine kurze Beziehung nach seiner Therapieentlassung. Möglich war die Rückkehr in das gewohnte Leben, eine Häuslichkeit und damit objektiv die Voraussetzung für einen Neuanfang sowohl in beruflicher Hinsicht als auch bezüglich eines Freundes- oder Bekanntenkreises. Stattdessen fühlt er sich durch die große Nähe bedrückt und eingeengt, ihm fällt "die Decke auf den Kopf". Fluchtartig gibt er die vielleicht gestaltbare Beziehung wieder auf. Ungünstige Bedingungen beschränken zusätzlich seinen Möglichkeitsraum, willentliche Anstrengungen als Ausdruck einer Subjektbewegung, die ihn in die Lage versetzen würde, Perspektiven zu eröffenen, bleiben kurzatmig, sind häufigen Störungen unterworfen und werden schließlich mittels des in der Regel naheliegenderen Griff zum Alkohol wieder verworfen. Diese letztlich unbefriedigende Lebenssituation oder Lebensbeziehungen finden ihren Niederschlag in der psychischen Verarbeitung.
Im Extrem wächst der schüchtern wirkende MARTIN, der eher bereit ist, sich sozialen Normen und Konventionen zu unterwerfen statt sie zu gestalten, unter dem Einfluß von Alkohol über sich selbst hinaus und konstituiert für sich eine Realität, in der er den selbstlosen Helden spielt, der sich nimmt, was er braucht. Diese Rolle ist möglicherweise auch eine unbewußte Kompensation der Verlusterfahrungen entgegen der rationalen Einsicht, wie lange es doch dauert, das Verlorene "zurückzugewinnen" (!). Auch wenn MARTIN sehr sachlich sein Leben als kausalen Ablauf von Ereignissen und Handlungen schildert, verrät diese Formulierung doch, daß MARTIN Erreichtes und Verlorenes auf der Handlungsebene des Spiels und nicht der Arbeit reflektiert.
Seit der Entlassung aus der letztlich erfolglosen Therapie im Jahre 1988 ist MARTIN erneut wohnungslos und erhält Sozialhilfe. In der Praxis seines Lebensvollzugs als Wohnungsloser werden verschiedentliche Abgrenzungen und Prioritäten deutlich. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer Alkoholtherapie steht im Gegensatz zu der sozialen Bedeutung der Straßenkontakte. Die Trinkerkreise, die er im Laufe des Tage immer wieder gezielt aufsucht, werden zur nahezu alternativlosen Lebenswelt. Eine Therapie würde diesen Kontext zerstören. Statt sich auf dieses Risiko einzulassen, zahlt er lieber den hohen Preis einer systematischen körperlichen Zerstörung durch das Leben auf der Straße in Verbindung mit anhaltendem Alkoholkonsum. Auch konventionelle Angebote der Wohnungslosenhilfe können für MARTIN nicht attraktiv sein, da entweder in niedrigschwelligen Tageseinrichtungen und Wärmestuben der Alkoholkonsum sanktioniert ist (Alkoholverbot), oder aber in stationären Einrichtungen früher oder später normative Erwartungen - Beginn einer Therapie - an ihn verbindlich gerichtet werden. MARTIN wehrt sich dagegen: Die anscheinend positive Aussage: "das muß von mir selber kommen!" kann durchaus gewertet werden im Sinne von: "Ich will und werde weitertrinken!". Aus der Entscheidungsmöglichkeit für den Alkohol - nicht als Abstraktion, sondern konkret -, aus dem gesuchten und gefundenen vergänglichen Glanz des Rausches (dieser Begriff ist mit Sicherheit nicht adäquat) ist längst - trotz des damit verbunden psychischen und physischen Elends, eine Lebensentscheidung geworden, Alkohol ist MARTINS zentrales Lebensmotiv, dem er letztlich alles unterordnet mit der der letzten Konsequenz des damit herbeigeführten vorzeitigen Todes.
Die zentrale Aufgabe einer Förderung und Unterstützung von MARTIN in Hinblick auf seine weitere Biografie und Perspektive besteht m.E. in Maßnahmen der Qualifikation und Bildung. Und zwar nicht in Form einer formalen und abstrakten Aneignung von Wissen, sondern eher in Form einer Selbstverständigung über das gelebte Leben und noch denkbare Perspektiven etwa im Rahmen eines praxisnahen, vielleicht angeleiteten Selbsthilfeprojekts. Voraussetzung wäre, MARTIN in einem solchen Zusammenhang als süchtigen Alkoholiker mit nur äußert beschränkter Arbeitsfähigkeit zu akzeptieren, ihn nicht in standardisierte Lebensformen zwängen zu wollen - auch wenn Spielregeln des Zusammenlebens akzeptiert werden müssen. Ziel eines solchen Gruppenprozessen könnte sein, auf der einen Seite die eigene Vergangenheit trotz alledem nicht als gescheiterte Biographie, sondern als gelebtes Leben zu verstehen, und auf der anderen Seite mit ihm zusammen eine befriedigende und selbstgestaltete Lebenskonzeption und Aufgabe zu entwerfen und zu erarbeiten - was allerdings erfordert, in MARTIN mehr zu sehen als nur den gescheiterten und vorbestraften, kranken und arbeitsunfähigen Alkoholiker. Zu klären wäre, was war denn der Kern der Träume seiner Jugendzeit, was ist davon jetzt noch da und was kann in der jetzigen Situation davon noch erreicht werden - ohne sich über die gegebenen Voraussetzungen dafür irgendwelchen Illusionen hinzugeben.
Fiktiver Nachruf eines Alkoholikers
MARTIN verdeutlicht wie kein anderer, daß Wohnungslosigkeit vor allem ein Problem des persönlichen Sinns ist. Persönlicher Sinn muß hier verstanden werden in objektiver Betrachtung als Problem gesellschaftlicher Verhältnisse, als gesellschaftlich produzierte ungleiche Verteilung von Mitteln und sachlichen Gegenständen, an denen persönlicher Sinn erst möglich wird. Aus MARTINS Perspektive sind dies berechtigte Fragen: Das ganze Leben nur Wände pinseln, um die eigene Wohnung und das bißchen Wohlstand zu erhalten? Immer nur ausgelaugt von der Arbeit nach Hause kommen und vor der Glotze abhängen? Das ganze Jahr schuften um dann drei Wochen im Jahr in den Bahamas die Sau los zu machen? Abend für abend von der Freundin mir anhören zu müssen, daß es bei ihr auf Arbeit genauso beschissen ist? Immer nur die eine Frau vögeln, wo es doch tausende gibt und wo doch das Leben so kurz ist? Jahraus, jahrein schuften für das bißchen Rente, wenn ich so alt überhaupt werde? Tag für Tag schuften mit dieser Chemie für ein Magengeschwür, um dann mit fünfzig vom Chef einen Tritt in den Arsch zu erhalten? Monat für Monat die Miete zu bezahlen, um dann vom Vermieter zu erfahren, das Haus wird jetzt saniert und die Miete steigt um über das doppelte? Abend für Abend mit den Kumpels in der Kneipe zu hängen und festzustellen, es geht den Kollegen im Grunde auch nicht anders? Wofür, warum, wozu, weshalb, wieso, weswegen? Und dennoch wissend: Es gibt sie nicht, diese grüne Insel mit Palmen und Sandstrand und den vielen Weibern, wo kein Streß ist sondern nur Ruhe und Sonnenschein und Meeresbrandung, wo alle in der Hängematte liegen, Rum trinken oder Barcardi on Ice und alles cool ist und jeden Abend eine Fete steigt mit guter Musik (Salsa oder Reggae) und dazu Langusten gebraten, gegrillt, gekocht, mit Knoblauch oder Tomatensauce nach Wahl und jede Menge gut gekühltes Bier dazu. Was stattdessen bleibt in der kalten Landschaft Deutschland inmitten von Spießern, Zwängen, Konventionen, Normen, Gesetzen, Vorschriften und Sachzwägen ist nur Bier, Bier, Bier, Bier, Bier, Bier, Bier, Bier, Bier und Bier. Ein Korn dazwischen, Kognac, Whiskey, Vodka, Chianti oder was auch immer. "Drink, drinkin' my life away", so sagte es der große alte John Lee HOOKER. Das ist Blues, nichts anderes als Blues. MARTIN wird sich zu Tode saufen. Das, und nichts anderes ist seine Bestimmung, seine Zukunft in dieser Welt, unter diesen gesellschaftlichen Verhältnissen. Den anderen, in dieser Arbeit vorgestellten Wohnungslosen wird kaum eine bessere Aussicht beschieden sein. Wen sollte das auch groß kümmern? Anstelle dieses einen, saufenden Anstreichers namens MARTIN stehen drei oder fünf andere, die genauso malern können und die sich nicht diesen Kopf machen. So what? Das weiß MARTIN, und das wissen auch die anderen. Was immer er auch tut, schon immer ist ein Ellenbogen dazwischen, ein anderes Bein in der Tür. Tag für Tag kämpfen, nur um den Arsch am Kacken zu halten, ach was: "Drink, drinkin' my life away!" In dieser Hinsicht ist MARTIN einfach nur konsequent, weniger aus Verstand als vielmehr aus Instinkt: Er bricht das Rennen einfach ab. "Das mach' ich nicht mehr mit, früher oder später werde ich sowieso auf der Strecke bleiben." Es gibt nichts zu gewinnen für ihn in diesem Spiel, trotz aller Anstrengung kann er bestenfalls den Status wahren, daß nichts schlechter wird als es wahr. Gundi GUNDERMANN sagt, was MARTIN schon längst ahnte: "Dies ist ein Scheißspiel, und ich mach' da nicht mehr mit!". Von wegen, nicht mehr mitmachen. MARTIN ist mittendrin. Da hilft nur eins: ein Bier. Am besten schon am Morgen. Ganz nach dem Motto: "Drink, drinkin' my life away!" Er ist sortiert worden, schon in der Schule. Hauptschule, das bedeutet, den Rücken krumm machen im späteren Leben, wenn überhaupt. Er hat sich dafür entschieden, den Pinsel zu schwingen vor dem frühzeitigen, berufs- und strukturbedingten Sterben oder der möglichen Rente. Schönen Dank aber auch! Die Freiheit, die wir meinen! Noch ein Bier bitte!; ich bring mich auch so um! Werten Dank aber auch! Alternativen sind nicht in Sicht, damit auch nicht greifbar oder realisierbar. MARTIN buchstabiert seine Alternativen mit den Worten "Schultheiß", "Holsten", "Kindl", "Becks", oder "Carlsberg", je nach dem, was gerade im Angebot ist. Mal ein echtes "Pilsener" zu trinken, bedeutet fast schon Luxus. Ist doch auch scheißegal, hauptsache Bier, kann auch lauwarm sein. "Drink, drinkin' my life away!"
"Endlich mal ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu sein!", das ist mit dieser Sortierung nicht zu erreichen. MARTIN kennt keine Alternative zu seiner Bestimmung und weiß nur zu genau, mit seinen Mitteln ist ein anderer Zustand auch nicht zu erreichen."Immer nur den Pinsel zu schwingen für andere Leute, daß kann doch mein Leben nicht sein!", und so ist es nur konsequent, daß er sein verworfenes Leben ertränkt im Alkolhol. Alles, was diese Gesellschaft ihm bieten kann, im zu bieten hat, riecht nach Bier. Von dieser Welt kann man halten, was man will, Bier hilft über alles hinweg. So besofffen kann MARTIN gar nicht sein, als daß er nicht noch ein Bier bestellen könnte. Und wenn dann wirklich genug ist, dann ist auch höchste Zeit, sich auf Platte zu legen, oder zumindest ist dann alles "Scheiß-egal". Ist ja ohnehin alles "Scheiß-egal", sonst würde er ja nicht trinken.
MARTIN ist tot. Ich habe mit ihm gesoffen. Wir haben ungezählte Dosen Bier allegemacht, wir beide zusammen. Als damit alle war, sind wir zusammen in die Kneipe gegangen. Wir haben uns nicht lange mit Bier aufgehalten, sondern gleich eine Pulle Vodka geordert, eine Pulle Korn und dann Gin zum Schluß. Wir haben gequatscht und gesoffen. Als ich genug hatte, bin ich nach draußen getorkelt und nach Hause gefahren mit dem Taxi. MARTIN hat die fast noch volle Flasche mitgenommen und alle gemacht, sich irgendwo hingelegt. Das hat ihm den Rest gegeben. Die letzte Pulle, die geht auf meine Rechnung: Ich hab mein vorletztes Pfund auf die Theke gelegt und gesagt: Reich mal rüber, die Pulle da!
War mir doch scheißegal. Geld hab ich doch genug. Ich schlief meinen Rausch aus, während MARTIN draußen im Park krepierte. Auf seine Beerdigung hab ich's nicht geschafft. Weiß der Teufel, in welcher Kneipe ich die Nacht vorher versackt war. Aber an die letzte Pulle Gin werde ich mich noch ein Leben lang erinnern.
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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97