Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

HERBERT

Interpretation

Auf den ersten Blick zerfällt HERBERTS Biografie unvereinbar in zwei Teile. Da sind die letzten 20 Jahre auf der Straße. In dieser Zeit mäandert sein Leben in zahllosen Variationen und Varianten um die eine, immer gleiche Lage (dauerhafter) Wohnungslosigkeit mit all ihren typischen Kennzeichen, Elementen und Folgeproblemen: 35 verschiedene "Platten", die HERBERT immer wieder aufgeben mußte, mindestens 15 "Kumpels", bei denen er kürzer oder länger unterkommen konnte, zwischenzeitlich einmal für anderthalb Jahre eine Wohnung in Moabit, dazu über fünf Jahre Haft, etwa die Hälfte davon aufgrund nichtgeleisteter Unterhaltszahlungen, die andere Hälfte aufgrund von (Bagatell-) Delikten (Schwarzfahren, kleinere Diebstähle usw.), die im Kontext von Armut und Wohnungslosigkeit nicht untypisch sind. Während in diesem Zeitraum eine entwicklungslogische Stringenz vollkommen fehlt, ist in den ersten drei Dekaden (bis zur umfassenden Krise, die den formalen Beginn der Wohnungslosigkeit markiert) durchaus noch ein roter Faden biografischer Verläufe erkennbar.

Die bittere und nicht nur materielle Not der letzten Kriegsjahre und der Nachkriegsepoche kennzeichnet den allgemeinen gesellschaftlichen Kontext von HERBERTS Kindheit; "Kohldampf habe ich ja früher immer geschoben" ist seine zentrale Erfahrung im Rückblick auf diese Zeit. Die wichtigste soziale Instanz des Halbwaisen ist die Mutter in ihrer Sorge, die Familie "über Wasser zu halten", mit den knappen Gütern sorgsam umzugehen und vielleicht sogar noch einen kleinen Überschuß beiseite legen zu können. Durch sie vermittelt hat auch HERBERT Teilhabe am allmählich sich einstellenden, dann aber kontinuierlichen Aufschwung in den Zeiten des Wiederaufbaus. Die Familie kann sich nun etwas leisten, es geht um so wichtige Dinge wie ein erstes Federbett. Die weiteren Stationen seiner Kindheit und Jugend - Verschickungen, Abschluß der Schul- und Berufsausbildung, Eintritt ins Berufsleben, Junggesellenzimmer, erste Verlobte - zeigen zunächst einen mehr oder weniger durchschnittlichen Biografieverlauf ohne besondere Krisen oder Konflikte.

Jedoch verdienen zwei Episoden aus jener Zeit besondere Beachtung. In der ersten - hier berichtet HERBERT erstmalig von sich als handelndem Subjekt -, ist das Wäscheaustragen die Alternative zum obligatorisch wöchentlichen Schulgottesdienst. Nicht Glaube, Liebe, Hoffnung sowie die Tugenden des heimlichen Lehrplans: Ordnung, Disziplin und Gehorsam machen satt, als sinnvoll erweist sich eben gerade die Orientierung auf eine - durch den Bruder vermittelte - konkrete Gelegenheit. Das verdiente Taschengeld und die Aussicht auf einen Apfel oder eine Schokolade mal außer der Reihe ist effektiver als der Bezug auf eine abstrakte Anforderung. Deutlich wird in dieser Geschichte ein hohes Maß an Pragmatik, es geht um das einfache, spontane Ergreifen naheliegender Gelegenheiten wegen eines auf der Hand liegenden, konkret materiellen Vorteils - etwas gegen das quälende "Kohldampfschieben" unternehmen zu können. Die zweite Episode über seine Ausbildung zeigt exemplarisch HERBERTS Probleme mit zunehmend anspruchsvolleren Aufgaben, an denen er zu scheitern droht. Es bedarf massiver Interventionen - seine Mutter droht mit Beziehungsabbruch durch Heimeinweisung - und wohlwollendem Verständnis, bis HERBERT offen seine Ängste vor der Prüfung und die ungenügenden mathematischen Kenntnisse eingesteht statt sie zu verdrängen. Erst aufgrund einer geeigneten unterstützenden Maßnahme organisierten Lernens gelingt ihm der erfolgreiche Abschluß der Lehre, die er beinahe schon abgebrochen hätte.

Beide Episoden geben wichtige Hinweise zur Persönlichkeitsentwicklung, den Aufbau von Sinnstrukturen und Orientierungsleistungen. Sie zeigen eine Orientierung auf unmittelbare personale Beziehungen und darüber verfügbare Realitäten, auf Gegebenes und mit vorhandenen Mitteln Erreichbares in der Praxis naheliegender Lebensvollzüge und Bedürfnisse. Der alltägliche Umgang mit Not und Mangel erfordert die Aneignung von effizienten Handlungsprinzipien, von situativer Spontaneität, Findigkeit und Improvisationskünsten. Die Episoden zeigen aber auch Elemente eines zögerndes Innehaltens oder gar Ausweichens vor kräfteüberschreitenden Herausforderungen und Problemen sowie eine relative Gleichgültigkeit gegenüber abstrakten Anforderungen und Normen, insbesondere dann, wenn darin ein Zugriff auf relevante Ressourcen nicht unmittelbar erkennbar ist.

Eine solche Aufzählung, die sich auch lesen ließe als Psychogramm der allgemeinen Handlungssituation während der Kriegs- und Nachkriegszeit, verweist auf die generationenprägende Bedeutung der schwierigen objektiven Bedingungen im Prozeß der individuellen Subjektwerdung. Die Charakteristika der anzueignenden Realität sind den Handlungen identifizierbar, über den Prozeß der Tätigkeit finden sie Eingang in die individuelle Persönlichkeitsentwicklung, ohne daß damit ihr genauer Status im Zuge des weiteren Biografieverlaufs ein für alle mal festgelegt oder - im Fall von HERBERT - zwingende Gründe oder eindeutige Hinweise für die spätere Wohnungslosigkeit gegeben wären. Gemessen an den oft ungünstigen Umständen seiner Kindheit und Jugend hat HERBERT im Alter von 20 Jahren eine überwiegend positive Bilanz vorzuweisen, gemessen an den Voraussetzungen spricht das bisher Erreichte für seine Fähigkeit, aus seinem Leben etwas zu machen.

Umfassende und einschneidende Veränderungen in zentralen Beziehungen kennzeichnen seinen nächsten Entwicklungsabschnitt, der beinahe gleichzeitige Verlust naher Bezugspersonen (Tod von Mutter und Bruder, Trennung der Verlobten) im Jahr seiner Volljährigkeit. Diese Kette von Ereignissen bringt HERBERT eine erste zentrale Bewährungssituation, die er allein zu bewältigen hat. Ohne konkrete soziale Instanzen, die ihm zwingend nahelegen, was zu tun sei, ist er gezwungen, den offen liegenden Raum im Rückgriff auf eigene Ressourcen zu gestalten. Um nicht alleine zu sein, nimmt er einen Kumpel bei sich auf und sucht in gemeinsamen Alkoholeskapaden Trost. Die Beliebigkeit in der Beziehungsgestaltung nimmt hier ihren Anfang. Spätestens damit beginnt eine Regreßschleife in den Mustern seiner Lebensbewältigung, die ihn über verschiedene Stationen in die Lage der Wohnungslosigkeit führt und im Laufe seiner Langzeitwohnungslosigkeit permanent wiederzuerkennen ist. Weder die Verluste, noch die Trauer darüber vermag er angemessen zu verarbeiten, daraus resultiert eine erste Krise, mit der er eigentlich nicht fertig wird.

Auf Vorschlag der "Schwiegermutter in spe" und in Erwägung, daß er "ja sowieso alleine" ist, heiratet er schließlich. Weiterhin lebt er rücksichtslos seine Interessen aus, hält sich viel und lange in Kneipen auf, unternimmt spontane "Spritztouren", geht "fremd", und hat überdies der Frau noch ein Kind gemacht: Nach sechs Jahren ist es der Frau genug, sie reicht die Scheidung ein, HERBERT steht alleine da. Diese Art der Freiheit ist ihm unerträglich, ihm fällt buchstäblich die Decke auf den Kopf. Gezielt verarbeitet er seine Einsamkeit mit exzessivem Alkoholkonsum in Kneipen, geht seiner seiner Lohnarbeit nicht mehr geregelt nach und wird folgerichtig entlassen, macht Schulden, die er später fünf Jahre lang abbezahlt, weil er sich sonst in den Kneipen nicht mehr sehen lassen könnte und ihm die Gläubiger aufs Dach steigen, zahlt die Miete seiner Wohnung nicht mehr und wird exmittiert. Seitdem ist er wohnungslos.

Günstige materielle Voraussetzungen schützen offenbar dann nicht davor, wohnungslos zu werden, wenn eine Problematik hinzutritt, die subjektiv derart bedeutsam ist, daß sie alle Lebenszusammenhänge dominiert. HERBERT scheitert an der unmittelbaren Bewältigung eines - ohne bestehende konkrete Beziehungen sinnentleerten - Alltags. Alle notwendigen Aktivitäten zur Sicherung seiner gesellschaftlichen Position - Arbeit, Wohnung sowie Einkommen - werden darüber bedeutungslos, sie sind subjektiv entwertet, zweitrangig, existieren nur noch als gewußte Anforderungen, die schnell vernachlässigt oder verworfen werden, wenn es darum geht, mit den Beziehungsverlusten, der Trauerarbeit, der Einsamkeit zurechtzukommen. Dieser Realität ist er nicht gewachsen, er fühlt sich schlichtweg überfordert. Je heftiger er versucht, seine Probleme zu ersäufen, desto mehr potenzieren sich die Schwierigkeiten. HERBERT schafft sich damit nur noch weitere Gründe, den ergriffenen Lösungsweg verzweifelt fortzusetzen. In dieser Hinsicht handelt er wirklich konsequent. Objektiv betrachtet, transformiert er so unbewußt persönliche Entwicklungsaufgaben in externe Gegebenheiten und Handlungszwänge. Damit reproduziert er Muster, die sich in seiner Kindheit und Jugend durchaus bewährten, den gesellschaftlichen Anforderungen an die Lebensgestaltung eines Erwachsenen aber in keiner Weise entsprechen. Für HERBERT ist das gleichbedeutend mit dem Beginn des sozialen Abstiegs, an dessen Ende die Wohnungslosigkeit steht. Für ihn gab es keine Instanz - keinen Freund, keine Vertrauensperson, keine Institution -, die ihn dabei aufzuhalten vermochte, im Gegenteil, bei seinen Kumpels eignet er sich Stück für Stück weitere Kompetenzen für ein Leben auf der Straße an und nähert sich damit

"ganz allmählich den Orten und Menschen und dem Schicksal, das auf ihn wartet. Man schleicht schon einmal um die Kioske in der U-Bahn, wo sich die Obdachlosen und Arbeitslosen versorgen, (...) plaudert in Kneipen mit jenen Einsamen, die dort ihren Tag ertränken. Willkommen!"
(GILLEN/ MÖLLER 1992, S. 7f).

Immer wieder kommt in seinen Erzählungen zum Ausdruck, wie wichtig es für HERBERT ist, nicht allein zu sein, "einen zum Quatschen" zu finden, "Kumpels" zu treffen. Die Trinkeskapaden, von denen er wiederholt berichtet, können als Metaphern für dieses Bedürfnis nach einem stabilen Beziehungsgeflecht gewertet werden. Allerdings: Über eine diffuse Bedürfnislage hinaus, die er derart zu befriedigen sucht, gelingt es ihm weiteren Verlauf seiner Biografie nicht, diese Vorstellungen zu konkretisieren. Und obwohl er auch nach dem Eintritt in die Wohnungslosigkeit weiterhin mit verschiedensten Anforderungen, Pflichten und Instanzen konfrontiert ist und seine Vernetzungen im Stadtteil komplex und vielfältig bleiben, erscheint das Organisationsmuster seiner Motive flach, konturlos und beliebig. Alle wichtigen Lern- und Entwicklungsprozesse sind seit dieser Zeit zum Stillstand gekommen, eine wesentlich neue Qualität der Persönlichkeitsentwicklung ist in dieser Phase nicht mehr erkennbar: HERBERT läßt sich treiben und wird von einem brüchigen sozialen Netz innerhalb Moabits mehr schlecht als recht getragen. Bei keiner der anderen in dieser Untersuchung vorgestellten Personen bildet der mit dem Begriff Stadtteil zusammenfaßbare überschaubare geographische, kulturelle und soziale Raum einen derart konsistenten und alle Lebensphasen übergreifenden Bezugsort. Der Eintritt in die Wohnungslosigkeit ist kein Abtauchen und Flüchten in die Anonymität einer Großstadt, sondern vollzieht sich innerhalb einer Lebenswelt, die ihm von Kindesbeinen an vertraut ist. Hier schließt sich der Kreis: In den sozialen Milieus der ausgelagerten Trinkrunden[18] im Dunstkreis der Moabiter Markthalle und des Sozialamts gegenüber sowie in den nahegelegenen Grünanlagen findet HERBERT immer "einen zum Quatschen". In dem Maße, wie diese Bekanntschaften eine subjektive Bedeutung erlangen, zementiert sich seine objektive Situation.

Konkret erweist sich diese Lebenswelt als hochgradig widersprüchlich. Mehr als zuvor ist HERBERT von allen relevanten gesellschaftlichen Lebensgewinnungsprozessen ausgeschlossen und gleichzeitig erfüllt er doch in mehrfacher Hinsicht eine nützliche, sinnvolle Funktion innerhalb der Logik der sozialen Prozesse des Stadtteils. Am deutlichsten manifestiert sich das in den Trinkerrunden, Kulminationspunkte lokaler Armut und Verelendung, angesiedelt in Ecken und Nischen am Rande öffentlicher, frei zugänglicher Hauptumschlagplätze des sozialen Lebens im Stadtteil. Bei weitem nicht alle Beteiligten sind wohnungslos, aber mit den Personen treffen verschiedenste Problemlagen - Alkohol, Arbeitslosigkeit, Einkommensarmut, Verschuldung, offene Haftstrafen, Krankheiten, unbewältigte Beziehungskonflikte und auch drohende Wohnungslosigkeit - zusammen, Übergänge und Überschneidungen sind in der Regel fließend. Bindungen zur Familie, zum Arbeitsplatz, zu Bekannten und FreundInnen usw. erweisen sich in letzter Instanz als nicht tragfähig, brüchig, instabil - was liegt da näher, als im gemeinsamen Leid zusammenzustehen und einen zu trinken?

Solche unmittelbaren, aus der Not geborenen Formen personaler, sozialer Kommunikation - historisch tradiert, eigentlich überholt aber gleichzeitig sehr wohl in solchen und anderen marginalen Resterscheinungen noch existent - werden eben nicht primär durch abstrakte Prinzipien der Warengesetzmäßigkeit bestimmt und deshalb auch subjektiv als so besonders echt und authentisch erlebt und erfahren: Meine besten Kumpels, auf die kann ich mich verlassen! Entgegen diesem ideologischen Schein trägt das gesuchte Beziehungsgeflecht als kollektive Überlebenstechnik[19] dennoch alle Mechanismen von Warenbeziehungen unter Armutsbedingungen in sich.

"Überall Halbheiten. Gewohnheit hält sie zusammen, das bißchen Wärme, das die Räume geben, und das Bewußtsein der Angewiesenheit aufeinander - allein wäre alles noch schlimmer zu ertragen."
(NOTH 1982, S. 113).

Hinzu treten konkret materielle Tauschbeziehungen zum wechselseitigen Vorteil sowie der immanenten Gefahr gegenseitiger Übervorteilung. Selbstverständlich darf HERBERT an den regelmäßigen dynamischen Alkoholverwertungsexzessen kostenfrei teilnehmen. Erwartet wird, daß er am Tag seiner Sozialhilfeauszahlung den anderen ebenfalls "den Hals ausspült". Und wenn dann mangels Geld und gerade, wenn es am Schönsten ist, eine Durststrecke einsetzt, wird auch schon mal die eine oder andere Flasche "organisiert". Unter Alkoholeinfluß sinkt die Hemmschwelle, ein erster lustmotivierter Übergang in die Kleinkriminalität, die zur Gewohnheit werden kann. HERBERT läßt sich ausnutzen und wird häufig ausgenutzt. Er ist Saufkumpan, Laufbursche, Informant für Alltagssensationen, zeitweiliger Mitbewohner, Geschichtenerzähler, Pausenclown, Blitzableiter, Prügelknabe, Spendenempfänger, Sündenbock. Er fügt sich bruchlos ein in das soziale Leben des Stadtteils, weil seine Lebenslage kompatibel ist zu den Problemen der anderen, mit denen er kommuniziert. Im Unterschied zu ihnen hat HERBERT nicht mehr viel zu verlieren, er kann eigentlich nur noch gewinnen.

Die ausführlichen Erzählungen von HERBERT über seine Zeit ohne Wohnung enthalten wichtige Hinweise über mögliche subjektive Verarbeitungsformen dauerhafter Wohnungslosigkeit. Sie verweisen damit beispielhaft auf psychologische Problematiken von Langzeitwohnungslosigkeit, die häufig und wiederholt anzutreffen sind und typische Hindernisse einer Veränderung der Lebenslage darstellen.

Eines der zentralen Kennzeichen ist der Verlust von zeitlicher Dimension in der subjektiven Biografiewahrnehmung. Gibt HERBERT die ersten 30 Jahre seiner Biografie - vor der Wohnungslosigkeit - schon episodenhaft wieder, so treten in der Lage dauerhafter Wohnungslosigkeit nun einzelne Personen und Orte in Geschichten und Geschichtchen des Lebens vollends in den Vordergrund der Erzählung, bestenfalls ketten sich Ereignisse und Vorfälle aneinander, das subjektive Entwicklungsmoment ist nicht mehr Gegenstand der Darstellung, kann es nicht sein: Es passiert, abgesehen von den gelegentlich aufregenden Ereignissen eines alles in allem immer gleich verlaufenden Alltags, nichts, was die Lebenssituation grundlegend ändert, außer daß der Abstand zur - im Grunde unbewältigten - Phase vor dem Auftritt der Wohnungslosigkeit immer größer wird. In der subjektiven Gestaltung von Biografie - und damit der Konstitution eines sinnvollen Ich-Entwurfs - ist der Dauerwohnungslose HERBERT Gefangener im Niemandsland zwischen unerledigter Vergangenheit und ungreifbarer Zukunft. Langandauernde Wohnungslosigkeit zwingt zur Aufhebung einer chronologisch sinnvollen Lebensdeutung. Die umfassende dauerhafte Beschränkung der Lebenslage gibt nicht genug an Bedeutungen her für sinnstiftende Ausdeutungen dieses Lebenszeitraums, die Erzählung des Erlebten muß sich zwangsläufig an Details und Anekdoten klammern, andernfalls wäre ein Verzweifeln unvermeidlich - weil es buchstäblich nichts mehr zu sagen gäbe. Externe und unangenehme Reglementierungen, wie die Dauer der Unterhaltsverpflichtung und die Festlegung der Haftzeit markieren zwar lebenszeitliche Einschnitte, sie bieten aber nur wenig Fläche für positive Identifikationen. In diesem Sinne ist HERBERTS episodische Erzählweise nicht nur deutlicher Ausdruck fehlender allgemeiner Handlungsmöglichkeiten, sondern auch eine subjektiv funktionale Verarbeitungsstrategie, eine Art Selbstschutz, um das Unerträgliche in Erträgliches umzuarbeiten.

Dennoch wird die mit Humor und Ironie vorgestellte Fassade einer Selbstdarstellung durch die konkrete Aussichtslosigkeit der Lebenslage permanent in Frage gestellt: "Pläne habe ich im Moment gar keine. Ich muß durchhalten auf Platte." Nicht nur, daß sein Leben damit in objektiver Hinsicht vielfachen Gefährdungen ausgesetzt ist, die subjektiv erlebte, immer wieder aufbrechende Erfahrung der Sinnlosigkeit der eigenen Existenz wird zu einem zentralen Problem und äußert sich möglicherweise auch in einer latenten Bereitschaft zum Suizid. Wichtigstes Indiz für diese interpretatorische These ist in den hier dokumentierten Interviewaussagen die Episode "Gefährliche Spiele", in der er sich "im Suff", wie er sagt, beinahe hätte erhängen lassen. In einem früheren, nicht mit Tonband dokumentierten Gespräch deutet HERBERT beiläufig an, daß er noch eine Geldstrafe zu zahlen hätte, weil er sich einmal in der U-Bahn "auf die Gleise gesetzt" hätte.[20]

Lebensbedrohende Armut steht im Widerspruch zum Aufbau zukunftsgerichteter Sinnstrukturen. Das Wenige, was verfügbar ist, ist ständig bedroht, muß sofort genutzt, verbraucht, geteilt oder getauscht werden, was morgen sein wird, ist eine andere Frage. In diesem Kontext der Unmittelbarkeit des Mangels und der knappen Mittel hat HERBERT erfolgreich gelernt, mit der Situation ständiger Ungewißheit zu leben und nicht gegen sie: "Irgendwo ist immer ein Lichtlein an". Auch in einer zweiten Hinsicht hat sich HERBERT die Strukturprinzipien der Lebenslage angeeignet, in seiner Orientierung auf die Gegebenheiten im Hier und Jetzt: "Ich hab' doch nichts zu versäumen." Solchen Weisheiten den Rang einer Lebensphilosophie zuzusprechen bzw. im spekulativen Rückschluß auf die Lebensform darin eine besondere Originalität oder gar den Status einer eigenständigen Subkultur erkennen zu wollen, wäre ein fundamentaler Fehler, eine derartige Verkennung und Verklärung von Wohnungslosigkeit ist überhaupt nur möglich in der Abstraktion solcher Äußerungen vom Kontext der konkreten Bedingungen. Bei näherer Betrachtung entpuppen sie sich als ganz einfache subjektive Verallgemeinerung der erlebten Handlungsräume und Bedingungen der Lebenslage Wohnungslosigkeit. Vor diesem Hintergrund erscheinen die darin enthaltenen Einstellungen nicht nur überaus pragmatisch, sie beinhalten auch ganz offensichtliche Handlungsvorteile für das alltägliche Überleben. Trotzdem bleibt eine Ahnung zurück, daß es auf Dauer so nicht weiter gehen kann: "man wird ja auch nicht jünger."

HERBERT gehört zu der Generation Wohnungsloser, die die Entstehung und den Aufbau ambulanter Hilfeeinrichtungen Ende der 70er Jahre als sogenannte "Betroffene" von Anfang an miterlebt haben. Er beurteilt den Ausbau der Hilfestrukturen als deutliche Verbesserung der Situation, aber dennoch hat sich dadurch an seiner Lebenslage nahezu nichts geändert, was für die Interpretation sehr aufschlußreich ist. HERBERT nutzt das Angebot der Wohnungslosenhilfe instrumental und spontan für seine Zwecke des Überlebens in der Wohnungslosigkeit - alle anderen Möglichkeiten sind außerhalb seiner Wahrnehmung.

Im Verlauf langzeitiger Wohnungslosigkeit ist partielle Renitenz zu einer Frage von überlebenswichtiger Bedeutung geworden. Zwar äußert HERBERT von sich aus den Wunsch nach einer eigenen, spartanisch eingerichteten kleinen Wohnung in Moabit, die ihm vollkommen genügen würde, auf der anderen Seite wird durch den Kontext seiner Aussagen klar, daß er die dafür üblichen notwendigen Leistungen nicht erbringen kann und will. Einmal abgesehen von den physischen Voraussetzungen der Arbeitsfähigkeit (Gesundheitszustand) und der fehlenden Praxis der Berufsausübung steht die zu leistende Arbeitszeit im Widerspruch zum benötigten Zeitbudget für die Pflege der subjektiv hochbedeutsamen Szenekontakte. Darüber hinaus wäre es nicht einsichtig, weshalb er für einen Betrag, der nach allen Abzügen (Alimente, offene Geldstrafen, Schulden!) wahrscheinlich nur unwesentlich höher ausfallen würde als der Sozialhilfesatz, auch noch arbeiten sollte. Auch mit einer eigenen Wohnung im Moabiter Kiez und einem weiterbestehenden regelmäßigen Sozialhilfeeinkommen würde er seine bisherige Lebensweise fortsetzen wollen, weiterhin den Kontakt zu seinen Kumpels aktiv suchen und herstellen, den einen oder anderen einladen, bei sich wohnen lassen und damit unbewußt das Erreichte gefährden.

Den entscheidenden Hinweis bezüglich der Kriterien für ein adäquates, erfolgversprechendes Hilfeangebot an HERBERT liefert eine Begebenheit, die kurioserweise beinahe dreieinhalb Jahrzehnte zurückliegt: Die Vermittlung von Nachhilfeunterricht durch den Vormund. In einer angstfreien, gleichberechtigten (Sonder-)Situation ohne Vorhaltungen, Vorwürfe, Anklagen und Reglementierungen kann er offen über seine Ängste sprechen. Ihm wird auseinandergesetzt, daß er mit der resignativen Einstellung gegenüber den an ihn gestellten Anforderungen einen konkret auf der Hand liegenden materiellen Vorteil - den höheren Lohn - in den Wind schlägt. Zugleich wird ihm in Bezug auf seine Ängste ein - von der konkreten Betreuungssituation unabhängiger - Weg eröffnet, den er selbst nicht gesehen hat: "Da kommst du entschieden besser bei weg". Noch in der Erzählung ist die starke emotionale Reaktion auf diese Maßnahme erkennbar: "Und das war meine Rettung!" Die konkrete Schwierigkeit einer Analogie zur aktuellen Lebenslage besteht darin, daß nahezu alle konventionellen Hilfeangebote, die ihm eröffnet werden könnten, im Widerspruch zu zentralen Mechanismen seiner Lebenslagebewältigung stehen.

Als Langzeitwohnungsloser im Stadtteil Moabit ist HERBERT kein Einzelfall. Heiner LEGEWIE dokumentiert 1987 in einer am gemeindepsychologischen Ansatz orientieren Feldstudie zu Alltag und seelischer Gesundheit im Stephansviertel im Norden Moabits die Biografie und aktuelle Lebenssituation von "Otto":

"Und dann wieder, wenn ich seine kindliche Freude an Kleinigkeiten erlebe (...) kommt er mir vor wie ein liebenswertes großes Kind."
(LEGEWIE 1987, S. 99).

Verblüffend ist vor allem die Übereinstimmung beider Fälle hinsichtlich vieler struktureller Elemente sowohl in der Lebensgeschichte als auch bei der Bewältigung und Verarbeitung der aktuellen Lebenslage. Der Kontakt bricht ab, weil "Otto" nicht mehr auffindbar, nicht mehr zu erreichen ist. Auch HERBERT kennt viele Wohnungslose aus seinem engeren Lebensumfeld in Moabit, deren Situation mit der seinen vergleichbar und ebenso gefährdet ist, z.B. durch Unfälle, Entzug, Haft, Krankenhaus, Verlust der Platte usw.

Die Interpretation von HERBERT, aber auch die von "Otto" bei Heiner LEGEWIE machen deutlich, daß insbesondere bei Langzeitwohnungslosen das Ziel der Hilfeleistung zunächst darin bestehen muß, die Lebenslage derart zu stabilisieren, daß der Blick für die eigentliche Problematik frei wird. Voraussetzung dafür ist in erster Linie die sichere Verfügung über gesellschaftliche Mindeststandards des Lebensvollzugs, vor allem ein eigener Wohnraum, möglichst innerhalb des Stadtteils, sowie die Sicherstellung eines Mindesteinkommens, in der Regel wohl Sozialhilfe - ohne daß dafür konkrete Gegenleistungen erwartet werden. Damit wäre eine vorläufige Basis für weitere Schritte geschaffen, die HERBERT und Otto in Freiheit und ohne das Gefühl von Zwang und Bevormundung gehen könnten. Die institutionelle Entsprechung eines solchen Denkansatzes wäre ein stadtteilbezogenes Gemeinwesenprojekt als offenes Angebot an einem zentralen Ort der Lebenswelt armer Menschen, zum Beispiel innerhalb der Moabiter Markthalle. HERBERT und Otto würden dort die Erfahrung machen, daß sie über die Zufälligkeiten des Alltags hinaus und trotz ihrer Eigenarten, Schwächen und Macken toleriert, akzeptiert und als gleichwertige Gesprächspartner ernstgenommen werden - und daß sie jederzeit willkommen sind. In einem solchen einladenden Klima wäre jederzeit Raum genug vorhanden, offen über Ängste und Sorgen zu sprechen und sinnvolle Hilfestellungen zur Gestaltung des eigenen Lebens zu ermöglichen. Entsprechende Konzepte liegen bereits vor, sie müssen nur richtig kombiniert und umgesetzt werden, in inhaltlicher Hinsicht das Konzept der Lobby-Restaurants aus Frankfurt[21], in formaler Hinsicht das Gestaltungskonzept eines Cafés für die Moabiter Markthalle von Andrea BUTTKE (1994).

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97