Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung
DIETER
Interpretation
DIETERS Orientierung ist gekennzeichnet durch den Versuch, "optimal so" seine "Interessen zu wecken." Gleichzeitig sieht er darin ein grundlegendes Problem. Er befürchtet, "nach einer gewissen Zeit keine Lust mehr" zu haben, "alles irgendwie öde" zu finden. Zwar will DIETER sich in bestehende Strukturen einpassen, ist "zufrieden gewissermaßen", wenn er sich irgendwo einleben kann, so jedenfalls beschreibt er eine Phase während seiner Arbeitszeit. Und dennoch sieht er sich immer wieder zu Abgrenzungen gezwungen, befürchtet persönlichen Zwang, Kontrolle und Bevormundung. Bei auftretenden Schwierigkeiten geht er anderen aus dem Weg und zieht es vor, mit sich allein klarzukommen. DIETERS Beziehungen zu anderen Personen sind ambivalent: Er sucht und braucht den Bezug zu anderen, er erwartet und benötigt Angebote, auf die er reagieren kann, will aber auch keine Extrabehandlung, die ihm "irgendwie selber zu weit gehen" würde, und befürchtet "auf die Schnauze zu fallen", wenn er sich zu sehr auf andere verläßt, sich zu sehr in Abhängigkeiten begibt.
Die Widersprüchlichkeit in der Beurteilung und Gestaltung sozialer Beziehungen ist ein genauer Spiegel der Verhältnisse seiner Kindheit und Jugend. Ähnlich seiner Mutter, die selbst weder eine klare Lebensorientierung besitzt noch vermitteln kann - DIETER beschreibt sie zusammenfassend als "verkrachte Existenz" -, fällt es auch ihm schwer, Bedürfnisse zu entdecken und zu artikulieren, insbesondere dann, wenn er auf Widerstände trifft. In Entsprechung und Fortsetzung seiner Reaktionen auf den "Ärger und Krach" einer "psychisch labilen" Mutter, die "sehr aufs Familienleben drückt", ist auch er nach anfänglicher Auflehnung in Krisensituationen sehr schnell bereit, sich gehen zu lassen, alles hinzuschmeißen. Darin wiederum greift er eine frühkindliche Verlusterfahrung auf, reproduziert das Muster seines Vaters, der mit der Scheidung von seiner Mutter die Beziehung schließlich aufgibt: "Ich versuche meistens dem Ärger aus dem Weg zu gehen (...) und ich bin auch nicht so ein Typ, der sich durchsetzen kann." Trotz allem erkennt er noch bestehende Chancen: Sehr genau registriert er den letztlich gescheiterten Versuch seines Stiefvaters, ihm bei der Entwicklung zur Selbständigkeit zu helfen. Verschärfend kommt jedoch hinzu, daß alle Ansätze einer Orientierungsgewinnung zusammenbrechen, wenn Entwicklungen gegen ihn eskalieren, wenn er feststellen muß, daß etwas "aus der Bahn läuft." Im extremen Fall schwenkt er wieder um auf das Vorbild seiner Mutter, "bricht ein" und gerät unter psychischen Druck. In dieser Konstellation dauerhafter Gleichzeitigkeit einander widersprechender und sich gegenseitig ausschließender Lebensbedeutungen innerhalb der ersten anderthalb Dekaden seiner Biografie ist eine klare und eindeutige Motivbildung und -entwicklung nicht erkennbar und offenbar auch nicht möglich. Und dennoch gehen eben dieses Bedingungen als angeeignete Muster des Aufbaus äußerer und innerer Tätigkeiten zentral in seine Persönlichkeitsentwicklung ein, ihre spezifischen Charakteristika bleiben identifizierbar im weiteren Verlauf der Biografie: In allem, was ihm begegnet, befürchtet er eine Wiederholung der Verhältnisse, ohne daß es ihm selbst letztlich gelingt, sich über diese Voraussetzungen seiner Subjektwerdung hinwegzusetzen, sich davon zu emanzipieren.
Zwei Passagen markieren den weiteren Verlauf seiner Biografie, beide sind genaue Momentaufnahmen gesellschaftlicher Zustände. Die erste, der Übergang von Schule über Ausbildung in ein Arbeitsverhältnis, ist bezeichnend für die Organisation und Modellierung von biografischen Werdegängen in Gesellschaften des realexistierenden Sozialismus. Der Ausbildungsplatz ist eine vermittelte, nahegelegte und dann ergriffene, aber vorrangig nicht selbst gewählte Lebensbeziehung, die insofern eine subjektiv sinnvolle Alternative zur vorherigen Lage darstellt, als daß er nun eine relative, aber nicht zu große Distanz zu den Eltern herstellen und gleichzeitig eine gewisse Nähe zu seinem bisherigen Bezugsort, dem Prenzlauer Berg, erhalten kann. Dennoch ist die neue Lage eher eine Transformation denn eine Lösung bestehender Konflikte, DIETER sieht und findet in den sozialen und gegenständlichen Inhalten von Ausbildung und Arbeit keinen Raum für eine Entwicklung und schmeißt die Lehre, kann und darf aber nach den damaligen Regeln des Arbeitsrechts als Lohnarbeiter bleiben. Daß er in Reaktion auf massive Konflikte und persönlichen Druck - der Chef ist für ihn die Provokation selbst - auf der Arbeit nicht erscheint und stattdessen die Zeit tagelang auf der Straße verbringt, ist Ausdruck der subjektiv erkannten und wahrgenommen Handlungsmöglichkeiten. Er hat kaum Sanktionen zu befürchten, sondern ist in einem Netzwerk sozialer Mindestsicherung bei relativer Gleichgültigkeit gegenüber seinen Arbeitsleistungen mehr oder weniger gut aufgehoben, in dieser Hinsicht ein positiver Effekt der Dysfunktionalität realsozialistischer Ökonomie. Die Gefahr des Herausgedrängtwerdens aus den Durchschnittsstandards gesellschaftlicher Partizipation existiert zu diesem Zeitpunkt nicht, auch im Bewußtsein sind die Risiken von Arbeitslosigkeit oder gar Wohnungslosigkeit fremde, unbekannte Realitäten[5] und in keiner Weise Bestandteil der kollektiven oder individuellen Antizipationsleistung.
Die zweite Passage, der Übergang vom Arbeits- und Unterkunftsverhältnis in die Wohnungslosigkeit, ist Ausdruck der neuen Lage nach Wende und Einheit. Auch in DIETERS konkreter Situation verändern sich grundlegend die gesellschaftlichen Handlungsprinzipien, gegenüber den nun durchgesetzten Kriterien Leistung und Effizienz rentieren sich weder Arbeiterunterkünfte noch unzuverlässige Arbeitskräfte, in relativer Gleichgültigkeit gegenüber dem einzelnen Individuum wird Arbeiterinnen und Arbeitern wie DIETER als ersten nahegelegt, zu vollziehen, was ohnehin für sie schon beschlossene Sache ist. Die ihm vor der Kündigung noch angebotene Ersatzunterkunft, eine "verschandelte und verdreckte Bude", in der er ohnehin nur eine weitere Zumutung und zusätzliche Provokation erblickt, lehnt er in Fortsetzung der bislang erfolgreich eingeschlagenen und ihm adäquat erscheinenden Strategie partieller Verweigerung ab, er erkennt nicht den Ernst der Situation und zieht auch nach Beginn seiner Arbeitslosigkeit weiter auf der Straße umher.
Obwohl er der Sache nach seine Strategien kaum geändert hat, erweist sich die veränderte Lage in der Verbindung mit der fehlenden Unterkunft nun als eine Problemimplosion mit neuer Qualität. Das heißt, mit Auflösung einer gesellschaftlich-staatlichen Ordnung, die ihn getragen hat, steht DIETER vor einer Rei- he von Schwierigkeiten, die allesamt auf ihn zurückfallen, die er mit seinen bisherigen Mitteln nicht bewältigen kann, auf die er in keiner Weise vorbereitet ist. Er verbraucht zunächst das einzige Mittel, über das er noch verfügt, sein Geld. Nachdem dies aufgebraucht ist, wendet er sich in einer für ihn typisch abwartenden Haltung an verschiedene Behörden, um zu fragen "wie es so läuft wegen Unterstützung und (...) Papiere", und muß zwangsläufig die Erfahrung machen, daß nichts läuft. Die Anforderungen machen ihm Angst und überschreiten in der Spaltung von Zuständigkeiten und bei Unklarheit der Rechtslage sein aktuelles Handlungsvermögen, erst im Nachhinein wird ihm klar, daß er bestimmte Leistungen hätte einfordern können. Aus den negativen Erfahrungen zieht er den Schluß, "daß da echt groß nichts los ist", er sich auf die Inanspruchnahme von Behörden und ihren Leistungen letztlich nicht verlassen kann[6] und unabhängig von ihnen klarkommen muß. Damit verliert er weiter an Boden - "dann wußte ich selber nicht mehr, was ich machen wollte" - und gerät in existenzielle Schwierigkeiten, sich überhaupt im nun zu führenden Kampf ums Überleben auf der Straße zurechtzufinden. Die erreichten Grenzsituationen sind für ihn ein zusätzlicher Hinderungsgrund auf andere zuzugehen und Hilfen in Anspruch zu nehmen, selbst wenn es KollegInnen sind, "die da irgendwie Mitleid hatten" und ihn "durchfüttern": Es ist ihm peinlich, er schämt sich. Ohne jeglichen Spielraum zur Veränderung seiner Situation sieht er sich zu Überlebensstrategien gezwungen - "Flaschensammeln" -, von denen er sich bewußt hat immer abgrenzen wollen. Und selbst damit ist er innerhalb kürzester Zeit der Konkurrenz anderer verarmter Leute ausgesetzt, sein Monopol ist dahin, die Situation in S.Stadt wird zunehmend schwieriger und aussichtsloser.
Sichtbar werden hier Ansatzpunkte zur kritischen Erfassung von sozialen und psychischen Konsequenzen der Einheit. Die im Einigungsvertrag durchgesetzte Abwicklung und Transformation der zerfallenden realsozialistischen Gesellschaftsformation der DDR durch die BRD unter dem Diktat einer in der Form moderaten, in der Sache unbedingten Zurichtung auf allgemeine Wertverwertungsinteressen konfrontiert eine unübersehbare Anzahl von Menschen mit fatalen Folgen einer Neubeurteilung des Verwendungszwecks gesellschaftlichen Reichtums. Ohne daß sein Fall die gesamte Entstehungsproblematik von Wohnungslosigkeit im Gebiet der Fünf Neuen Bundesländer aufdeckt, eröffnet sein Beispiel doch den Blick auf marktwirtschaftliche Aussonderungsprozesse entlang der Prinzipien Leistung, Effizienz und Wettbewerbstauglichkeit in ihren Auswirkungen auf so zentrale Lebensbereiche wie Arbeit, Wohnen und Verfügung über Einkommen. In ihrer Summe zeigen sich die Resultate objektiver Umgestaltung (Arbeitslosigkeit, Neubestimmung der Eigentums- und Nutzungsverhältnisse auch im Bereich des Wohnens, erhebliche Verteuerungen notwendiger Lebensmittel einschließlich Wohnungen, veränderte Funktion staatlicher Behörden bei einem Mangel von Mechanismen und Institutionen zum Auffangen und Bearbeiten derart produzierter Probleme) bei gleichzeitiger Auflösung vergesellschafteter Formen realsozialistischer Beziehungsnetze als eine umfassende Freisetzung der Subjekte von relevanten Möglichkeiten gesellschaftlicher Partizipation.
Vor dem Ergebnis dieser doppelten Beschränkung der Lebensbezüge ist es bezeichnend für DIETERS Verarbeitung seiner Lebenslage, daß er wohl die zentralen Probleme seiner Situation vor Augen hat und sich in groben Zügen über seine psychisch labile Verfassung im klaren ist, auf der anderen Seite aber in der akut werdenden Krise weder über reale Handlungsmöglichkeiten noch über eine orientierende Perspektive, ein Motiv verfügt, an seiner Lage grundlegend etwas zu ändern. Als einer, der sich ohnehin schon immer intensiv und sensibel mit den Umständen seines Lebens auseinandersetzt, ist er auf dem Hintergrund dieser Situation gezwungen, die Bearbeitung objektiv bestehender Probleme und Schwierigkeiten nun weiter nach innen zu verlagern. In der Folge werden die objektiv ungünstigen Gegebenheiten unter diesen subjektiven Bedingungen der Aneignung verstärkt Gegenstand psychischer Tätigkeit, beinhalten aber notwendig im Prozeß der Widerspiegelung alle Charakteristika der beginnenden Isolation. In Verbindung mit den eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten erweisen sich die Bewußtseinsprozesse als immer weniger angemessen in ihrer orientierenden Funktion, sie verselbständigen sich relativ, DIETER erfährt es als psychischen Druck. Konkret sind die partiellen Wahrnehmungsstörungen, von denen er spricht, Ausdruck seines Versuchs, die erfahrene Realität der Ausgrenzung partiell zu negieren, zum anderen äußert sich die subjektiv empfundene Ausweglosigkeit als blockierte Verdichtung von Orientierungsnotwendigkeiten in Angst- und Wahnvorstellungen und eskaliert in einem zeitweiligen Kontrollverlust, ohne daß jedoch DIETER den Realitätsbezug vollständig aufgibt. In der rückblickenden Betrachtung bilanziert er diese Zeit mit den Worten: "Das erfüllt mich heute noch mit Grauen."
Allgemein gesagt: Im Zuge der Prozeßdynamik von Einheit wird die Dialektik individueller Lern- und Aneignungsprozesse als notwendige Leistung gegenüber den aufbrechenden Realitäten bis hin zur Unvereinbarkeit aufgeworfen und zu einem Problem der Vermittlungsleistung des Bewußtseins überhaupt, und ist gleichzeitig doch die zentrale, bei Strafe des Untergangs zu lösende Aufgabe. Kann - aus welchen Gründen auch immer - das in der Praxis der Lebensvollzüge entstehende kritische Spannungsverhältnis nicht mehr integriert werden und gelingt die notwendige Um- und Neuorganisation psychischer Orientierungsfunktionen nicht, ist das Subjekt existentiell in Frage gestellt und 'auf seine eigenen Bestände verwiesen' (NIETHAMMER). Ein solcher 'Schock der neuen sozialen Erfahrungen' (KIRK) wird in Verbindung mit Armut zum dauerhaften Trauma einer 'Einheit, die in der Deutung zerbricht' (SCHMALRIEDE) und zeigt sich in multipler Lähmung subjektiver Handlungsfähigkeit. Der mit dem massenhaften und bis heute unüberschaubaren Auftritt von Wohnungslosigkeit im Gebiet der früheren DDR entstehende psychische Schaden ist materiell nicht bezifferbar, anhand von DIETERS Beispiel könnte jedoch in Reminiszenz an eine Position von BERRIGAN konstatiert werden, daß damit in jedem einzelnen Fall ein zu hoher Preis für diesen Weg der Einheit gezahlt wird. (Dagegen: Ernesto CARDENAL: "Die Waffen brachten Leben.") Wie dem auch sei, DIETER gehört zusammen mit der Gruppe derer, die schon zu DDR-Zeiten in halb- oder nichtlegalen Wohnverhältnissen wohnten und nun von VermieterInnen und EigentümerInnen herausgedrängt werden, und mit der Gruppe der Haftentlassenen noch zu den Ersten aus dem Gebiet der ehemaligen DDR, die im Zuge der Einheit wohnungslos werden.[7] Es sind vor allem Menschen aus dem direkten Umland Berlins, dem Land Brandenburg, sowie aus der ehemaligen Hauptstadt der DDR, Ost-Berlin, die in Ermangelung adäquater Angebote und Hilfen mehr der Not als der Neugier folgend in den Westteil der Stadt kommen.
Dabei sind in der spezifischen Situation der Großstadt drei Phasen auszumachen, die eine typische Vorgehensweise nicht nur von DIETER darstellen: Eine annähernde Orientierung an die Angebote der Hilfe, eine von DIETER zutreffend als "Freßtourismus" bezeichnete Phase, sowie schließlich eine dritte Phase der differenzierten und kontinuierlichen Nutzung einiger Angebote. Zunächst sucht und findet DIETER eine Bleibe im Wartesaal eines Vorortbahnhofs von Berlin. Viele Wohnungslose ohne jegliche Unterkunft machen seit der Öffnung der Mauer von der Möglichkeit Gebrauch, mit den letzten S-Bahnen in die entlegenen Außenbezirke zu fahren und in den dort abgestellten Zügen oder den Wartehallen unter Duldung des S-Bahnpersonals einige wenige Stunden Schlaf zu finden. DIETER findet so Kontakt zu anderen Wohnungslosen, die ihn in die Welt der (West-)Berliner Angebote für Wohnungslose einführen. Er lernt dadurch eine Reihe von Angeboten kennen, er könnte, wenn er sich anderen anschließt, ohne weiteres noch andere Angebote kennenlernen, zieht es aber vor, sich selbständig zu orientieren. Dabei sind ihm die in den Einrichtungen aushängenden Informationen von Adressen und Öffnungszeiten weiterer Einrichtungen behilflich. Trotz seiner extremen Not - er ist völlig durchgehungert - ist die Hemmschwelle, solche niedrigschwelligen und niedrigstschwelligen Angebote zu betreten, sehr hoch. Allein schon das Hineingehen kostet Selbstüberwindung, eine Unsicherheit, die häufig bei neuen Besuchern von Einrichtungen zu beobachten ist.
Im Laufe der Zeit bleibt es nicht aus, daß er eine Reihe von Einrichtungen kennenlernt und weiß, wann und an welchen Tagen sie geöffnet haben und was er dort erwarten kann. Seinen Tages- und Wochenrhythmus ist er darauf eingerichtet. Sobald der S-Bahnbetrieb im Morgengrauen wieder beginnt, fährt er in die Stadt und wartet, bis die erste Einrichtung öffnet. Der weitere Tagesablauf besteht aus aufeinander abgestimmten Stationen, bis die letzte Einrichtung schließt. Das Gerüst dieser Tour bilden die öffentlichen Verkehrsmittel, sie ermöglichen eine Mobilität zwischen den Einrichtungen. DIETER kennt die Verbindungen, die Umsteigemöglichkeiten, die Fahrdauer. Ständige Begleiterin bei den Schwarzfahrten ist die Angst, in eine Kontrolle zu geraten, die 60 DM erhöhtes Beförderungsentgelt besitzt er ohnehin nicht, im wiederholten Fall droht ihm ein Verfahren wegen Beförderungserschleichung und ob seiner Mittellosigkeit die erste Haftstrafe. Trotzdem muß er zum Besuch der Angebote das Risiko der Kriminalisierung in Kauf nehmen, um für kurze Zeit, wie viele andere Wohnungslose auch, ein solches alltagsstrukturierendes System der Nutzung verschiedenster Wärmestuben zu entwickeln: Er nimmt zunächst alles mit, was er kriegen kann, stellt aber bereits nach kurzer Zeit fest, daß diese Überlebensform für ihn kein dauerhafter Zustand und Inhalt sein kann, daß sich seine Bedürfnisse darin nicht erschöpfen: Es wird ihm zuviel.
Gleichzeitig, und das kennzeichnet den Übergang zu einer differenzierten Nutzung der Angebote, ermöglichen ihm die so entdeckten Realitäten und die daran entwickelten Kompetenzen des Überlebens, sich vom Zwangszustand panischer Not freizumachen und vom "Freßtourismus" Abstand nehmen zu können. In emotionaler Orientierung wählt er entsprechend seinen Fähigkeiten einen schmalen Weg zwischen verschiedenen Abgrenzungen. Er vermeidet Anforderungen und Anfeindungen, vor allem wenn er die Heraushebung seiner Person im Rahmen einer "Extrabehandlung" befürchten muß, wehrt sich durch Nichtinanspruchnahme gegen persönlichen Zwang, den er mit dem Angebot einer Notunterkunft verbindet, und bleibt im Rahmen seiner Möglichkeiten, wenn er stattdessen vorzieht, "meistens so optimal eine Platte zu erwischen in der S-Bahn." Der eingeschlagene Weg ermöglicht ihm, unauffällig und ohne viel Reibung über den Prozeß einer schleichenden Gewöhnung in bestehende soziale und institutionelle Strukturen hineinzurutschen. Nur zögerlich ergreift er immanente Möglichkeiten zu sozialen Beziehungen - "wenn du ständig mitmachst, dann kennt man die Leute näher" - und relativen Freiräumen gegenüber den Zwängen der Straße - "da kannst du ein bißchen mehr machen." Im Laufe der Wochen konkretisiert er daraus ein engumgrenztes Handlungsfeld des Nehmens - "schon mal vorher hingehen und fragen" - und Gebens - "halt saubermachen und so weiter" -, immer unter dem Vorbehalt, sich damit bloß nicht zu exponieren. Die subjektiv wichtige Funktion dieses unabgesprochenen Geschäfts besteht in Erwerb, Sicherung und moralischer Legitimation eines Bleibe- und Nutzungsrechts, charakterisiert sind damit gleichzeitig auch seine Möglichkeiten und Fähigkeiten zur Aneignung, Strukturierung und Gestaltung von gegebenen Handlungsräumen. In objektiver Hinsicht beinhaltet die erreichte Lage für DIETER alle Voraussetzungen, sich in der Wohnungslosigkeit dauerhaft einzurichten: "Das ist auch schon eine Frage der Gewohnheit." Trotz seines Bezugs zu lebenslagebezogenen Hilfen ist eine notwendige qualitative Verbesserung seiner Lebenslage durch eine Unterkunftsmöglichkeit nicht in Sicht, seine Situation ist zwar stabilisiert, aber alles andere als gesichert: Der Zwischenfall auf dem Bahnhof, wo er in Ermangelung von Geld Zigarettenkippen aufsammelt und dabei als "Penner" angepöbelt und in eine handgreifliche Auseinandersetzung verwickelt wird, ist noch eine der harmlosen Gefährdungen. Die zerstörte Brille macht ihn in der Folge noch hilfloser, als er ohnehin schon ist, allein schon ihre Neubeschaffung oder Reparatur wäre für ihn eine weitere schwierige Aufgabe.
Die Bahnhofsepisode, bei der ihm aufgrund einer Provokation "der Kragen platzt", zeigt, daß er noch nicht bereit ist, sich ohne weiteres mit seiner Lage abzufinden. Gleichzeitig verweist diese spontan-aggressive Form von Konfliktbewältigung, bei der er immer nur der Unterlegene sein kann, nicht nur auf die enorme Einschränkung von Handlungs- und Rückzugsmöglichkeiten, die ihm in seiner ungeschützten Lage noch zur Verfügung stehen, sondern gleichfalls auf das Problem nicht angemessener Lösungsstrategien im Zustand permanenter Not insofern, als daß in solchen Situationen das ganze Maß seiner Verzweiflung zum Ausbruch gelangen kann. Angesichts derartiger Hinweise erscheint es als eine bloße Frage der Zeit, wie lange er den ungeheueren physischen und psychischen Belastungen, denen er ausgesetzt ist, noch standhalten kann, was den Umkehrschluß zuläßt, daß allein die Absicherung grundlegender materieller Bedürfnisse durch das Hilfeangebot per se keinen Ausgleich gegenüber dem permanenten Druck von der Straße zu leisten vermag. Im Fall einer Fortsetzung außengerichteter Gewalteskapaden droht ihm der Einstieg in eine Kriminalisierung, in der Logik seiner Biografie wahrscheinlicher jedoch ist die akute Gefahr des wiederholten Rückgriffs auf immer weniger angemesene, relativ verselbständigte Strukturen und Strategien innerpsychischer Verarbeitung der kritischen Lebenslage analog zur Phase des Beginns seiner Wohnungslosigkeit, ohne daß es an dieser Stelle möglich ist, konkrete Aussagen über Verlaufsformen zu treffen. Ob es sich bei diesen Mustern nur um Spezifika eines sensiblen Persönlichkeitsprofils, oder schon um Symptome schizophrenoformer Verarbeitungsstrategien seiner Lebenslage handelt oder handeln könnte, muß mit aller gebotenen Zurückhaltung im Zweifelsfall von Experten geklärt werden, ganz unzweifelhaft jedoch skizziert DIETER sein Problem (auftretender) Wohnungslosigkeit als eine 'Landschaft der Zerreißproben' (DÖRNER/ PLOG).
Ein adäquater sozialarbeiterischer Hilfeansatz hat an DIETERS Aussage "gewisse Dinge muß ich da selber in den Griff kriegen irgendwie" anzuknüpfen. Darin wird seine Ahnung deutlich, daß es in erster Linie auf ihn und seine Tätigkeit, die es zu entwickeln gilt, ankommt, zum anderen artikuliert DIETER mit dem beiläufig und stereotyp dazugesetzten "irgendwie", daß ihm gerade dieser Zugriff fehlt, d.h. die Fähigkeit, sich in praktischen Tätigkeitsbeziehungen zu behaupten und diese zu strukturieren. Zudem äußert er das Bedürfnis, ein eigenständiges Leben führen und die Vergangenheit hinter sich zu lassen zu wollen. Diese Bedürfnislage steht im äußersten Widerspruch zu seinen erreichten Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeiten. Seine Orientierungslosigkeit, die ambivalente Umgehensweise mit Beziehungen, die Skepsis gegenüber Erwartungen, Anforderungen, seine Ablehnung gegenüber Zwängen und Bevormundung, die Behördenängste, sowie weitere Befürchtungen und negative Erfahrungen treten in Verbindung mit dem Tatbestand seiner Armut verschärfend hinzu und hindern ihn an Schritten zu einer grundlegenden Veränderung seiner Lebenslage, unter der er gleichzeitig leidet.
DIETER braucht in einem für ihn überschaubaren Rahmen Handlungsangebote zu konkreten Verbesserungen seiner Lebenssituation, die ihn auch in die Lage versetzen, selbsttätig Perspektiven und konkrete Ziele zu finden und im Zuge ihrer Umsetzung selbständiger zu werden. Ein zentraler erster Beitrag dazu ist, ihn bewußt in kooperative Handelnszusammenhänge einzubeziehen, um ihn in Widerspiegelung seines Beitrags vor allem dabei zu unterstützen, in kritischer Unterscheidungsfähigkeit ein realistischeres Bild von sich, seinen Fähigkeiten und Kompetenzen, aber auch von seinen Grenzen zu entwerfen. Ein langfristiger Hilfeansatz auf der Basis eines gesicherten, von ihm selbst gewählten Unterkunftsverhältnisses sollte ihm ermöglichen, sich in der Entwicklung von Tätigkeit mit den entstandenen und nicht gelösten Problemen, Ängsten, Befürchtungen und Zwangszuständen seiner Biografie auseinanderzusetzen und diese konstruktiv zu bearbeiten, um in relativer Freiheit von der Last seiner Vergangenheit sein
- "eigenes Leben (zu) leben dann auch."
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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97