Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung
 

JENS

JENS ist 27 Jahre alt und kommt aus Hannover.

Biografie

Mein Vater ist Pakistani, meine Mutter ist Deutsche, und ich bin Deutsch-Pakistani sozusagen. Durch Streitigkeiten meiner Mutter mit meinem Vater haben sie sich dann getrennt als ich vier Jahre alt war. Ich bin bei meiner Mutter aufgewachsen. Mit meinem Vater habe ich seitdem wenig Kontakt. Als Bildungsweg hatte ich Mittlere Reife gemacht, Realschule. Bin aufs Gymnasium gekommen. Nach der 11. Klasse habe ich abgebrochen, weil ich keinen Bock mehr hatte und keine Perspektive. Die Leistungen waren auch nicht mehr so, weil ich ganz andere Inhalte gehabt habe. Ich habe Sport gemacht: Leichtathletik, wettkampfmäßig.

Ich bin dann nach Berlin gezogen, da war ich 18, wegen der Bundeswehr et cetera. Mein Vater lebte in der Zeit auch in Berlin, aber ich wußte nicht wo. Ich bin nicht gegen die Bundesrepublik Deutschland, muß ich ehrlich sagen. Ich bin damals mit Leuten zusammen gekommen, deren pädagogische Entwicklung doch vom Schlag der 60er war. Da habe ich ziemlich viele Erfahrungen gesammelt. Das war eine Jugendgruppe, Jugendfreizeitheim, ziemlich linksorientiert. Im nachhinein reflektiere ich das so.

Berlin

Und dann war ich also wohnungslos. Am Bahnhof Zoo ganz alleine, mit meinen Sachen. Auch keine Bekannten in Berlin gehabt. Ängstlich war ich nicht, mir war das schon klar. Ich war in der Zeit auch schon ziemlich selbständig. Ich wußte nicht, wie ich unterkommen sollte. Da war ich dann in der Bahnhofsmission, und die haben mich weitergeschickt zur Heilsarmee. Da konnte ich ein paar Tage dann nächtigen. Und dann erst hat sich herausgestellt, daß ich ab 18 auch Sozialhilfe empfangen kann. Dann bin ich durch Sozialarbeiter, die haben mir dann eine Läusepension, was man heute so bezeichnet, gegeben gehabt. Da war noch die Frage, ob ich nicht vielleicht in ein Jugendheim untergebracht werden sollte. Aber da war ich schon wieder zu alt. Dann habe ich versucht rauszukriegen, wo mein Vater wohnt, das habe ich auch durch Telefonbücher rausgekriegt. Aber das waren so Sachen, weil ich auch den Kontakt nicht habe richtig knüpfen können. Er war auch im Weg, weil er hatte eine andere Lebenskultur, und dann war ich auch noch mit ihm im Krach. Da war ich ziemlich auf Trebe oft dann. Das heißt Kumpels, man hat sich kennengelernt dadurch, auf dem Bahnhofsstrich zum Beispiel. Und dann gab es immer Möglichkeiten, woanders zu schlafen, das meine ich als Trebe sozusagen. Und das war dann für mich eine ganz andere Erfahrung. Ich habe Beziehungen gehabt, das waren so Abenteuerbeziehungen, naja, man muß sich ja auch ein bißchen ausleben. Und das ist in der Szene ganz tödlich, sich ausleben zu wollen. Nicht wegen Aids, das meine ich jetzt nicht, ich meine jetzt auch: "Mit wem werde ich alt?" zum Beispiel. Das waren immer so lockere Beziehungen, ein paar Monate so, und dann aus, so ungefähr. Das ist auch die Erfahrung, die ich gemacht habe. Ich bin nicht mehr 20 oder 17. Mit 17 macht man Halli-Galli-Stories, und das ist auch gut, um Erfahrungen zu sammeln, Szene und so. Das ist schon interessant, wenn man sich wieder zurückerinnert. Da kommt ein bißchen die Wehmut hoch. Die Jahre, die ich obdachlos war und in Pensionen gelebt habe, ich habe das nicht als schlimm empfunden. Aber ich muß ehrlich sagen, wiederholen würde ich die nicht mehr so. Jetzt kann ich sie auch nicht mehr so machen. Weil ich bin älter geworden und ganz andere Lebensvorstellungen habe. Das war alles nicht falsch. Vielleicht mußte das so kommen. Aber ich möchte auch nicht, was ich immer als falsch beurteile, Mitleid. Ich brauche kein Mitleid. Und die anderen brauchen auch kein Mitleid.

Dann war die Zeit, wo ich nicht mehr in der Läusepension wohnen wollte. Das war mir irgendwo auch nicht so'n Ding. Okay, wir hatten auch Jüngere. Für mich war es nicht eine böse Zeit, sondern es war auch eine interessante Sache. Aber man hat irgendwie keine Familie richtig gehabt. Da hat man gesagt: "Scheiße, du bist jetzt in Berlin, hast gar nichts so richtig!" Und da hat man sich Gedanken drüber gemacht. Dann bin ich zum Sozialamt hingegangen, habe ein Gespräch gehabt, daß ich nicht so weiterleben möchte. Daß ich irgendwie eine ganz normale Wohnung haben möchte. Ich weiß nicht, ob es Zufall war, da kam mir eine Möglichkeit zu wohnen. Nicht über das Sozialamt, über die Sozialarbeiter. Ich weiß nicht, ob die mehr mit denen zusammengearbeitet haben, das kann ich jetzt heute nicht mehr so richtig sagen, aber dann habe ich da eine Wohnung in Kreuzberg bekommen.

Ausbildung

Es geht darum, daß ich dann die Wohnung hatte und versuchte, eine Ausbildung zu machen. Das war für mich der Ausweg, eine Ausbildung, die für mich die Chance gegeben hat, über mich noch mal nachzudenken, über alle Sachen und alle Probleme, die ich gehabt habe, mir klar zu werden und umsetzen zu können. Diese Ausbildung geht im Sozialwesen, ein Fachbereichsstudium. Das habe ich abgeschlossen mit Kolloquium, staatlich anerkannt, alles fertig. In der Ausbildung habe ich BAFöG bekommen. Durch die Ausbildung konnte ich auch die Chance, in ein internationales Studentenwohnheim einzuziehen, erhalten. Das habe ich dann gemacht. Und das hat geklappt dann. Das hört sich alles ganz einfach an, aber es war nicht so einfach. Ich habe wirklich spekulieren müssen mit einem Jahr, daß sich das nur auf ein halbes Jahr gezogen hat, war Glück. Nach dem Fachstudium mußte ich raus, und dann ging's wieder, um eine Wohnung zu finden.

Wohnung - Arbeitslosigkeit

In der Zeit habe ich Glück gehabt, daß ich Arbeit gehabt habe, so daß ich auch eine Wohnung beziehen konnte. Eine Kollegin hat durch drei Wege herausbekommen, daß eine Wohnung frei wird. Jetzt wohne ich natürlich in Moabit. Das ist eine Wohngemeinschaft mit drei Leuten, man kann sagen, das ist eine WG. Die Leute sind auch noch Studenten, und ich wohne da jetzt regelrecht fest. Jeder hat ein Zimmer für sich, und die Miete wird ausgerechnet. Ich habe einen richtigen Mietvertrag. Wir haben Probleme mit der Küche, das klappt irgendwie alles nicht so. Nicht eine Zwangs-WG, aber Hauptsache, wir haben eine Wohnung. Und das ist gesichert. Ich wohne da jetzt seit '88, knapp drei Jahre.

Ich habe nur Zeitverträge gehabt. Dann habe ich mich beworben, bei verschiedenen Einrichtungen. In der Zeit, als die Mauer gefallen ist, wurde ich arbeitslos. Durch die Wende wurde im Sozialen Bereich sehr viel abgestrichen. Seitdem bin ich arbeitslos.

Freßtourismus als Lebensinhalt?

Ich muß dir ehrlich sagen, am Anfang war ich resigniert. Da habe ich keine Chance gesehen. Dann habe ich gehört - von Leuten, es gibt andere Wärmestuben. Die erzählten mir: "Hier in Berlin brauchst du nicht zu verhungern." Einer hat mir erzählt: "Frühmorgens gehe ich in die Osloer Straße, hole ich meine Butterstullen ab. Dann gehe ich frühstücken in den Seelingtreff. Dann gehe ich zum Warmen Otto. Dann in die Levetzowstraße. Abends um 17 Uhr gehe ich in die Wärmestube der Katholischen Kirche, hole ich da mein Essen ab." Das habe ich einen Tag mal mitgemacht. Du kommst wirklich nicht raus aus der Kiste, wenn du nur Fressen gehst. Das soll ein Lebensinhalt sein? Ich habe gedacht, das kann doch nicht sein, jeden Tag nur essen zu gehen. Da habe ich mir sogar einen Stundenplan gemacht. Um zu sehen, wie ich es zeitlich schaffe, zum Arbeitsamt zu gehen, zum Essen zu kommen. Das ist faszinierend, du bist nur am Rennen, als hättest du eine Arbeit vor. Du, und das ist erstaunlich. Die Gefahr in diesen Einrichtungen ist, das habe ich auch am Anfang gemacht, sich fallenzulassen. Am Anfang war ich so resigniert, persönlich: "Ach, was soll ich noch machen? Ich bin doch gar nicht mehr wertvoll. Der Senat hat die Gelder gestrichen. Ich komme auch nicht mehr in meinen Beruf rein. Dann sitze ich hier, esse meine Suppe, bin ich der glücklichste Mensch der Welt eigentlich!" - So eigene Lügen in die Tasche zu zaubern. So selbst etwas aufzubauen, eine Illusion, die eigentlich nicht mehr stimmt. Und da habe ich mich einfach fallengelassen, dann habe ich auch gesagt: "Jetzt gibt's keinen Weg mehr. Es ist aus, vorbei." - So eine Phase gab's auch.

Wärmestuben - Kleiderausgabestellen - Sozialarbeiter

Nach der Maueröffnung waren alle Wärmestuben wegen Überfüllung zu, auch im Sommer voll. Wenn wirklich ein paar zugemacht werden, dann staut sich das alles. Durch die Maueröffnung, ich habe das erlebt. Man hat wirklich nur Angst, man kriegt kein Essen mehr. Am Anfang ging es mir so: "Aha, Konkurrenz findet auch bei den Wohnungslosen wieder statt." Jetzt in der letzten Zeit haben wieder neue im Osten aufgemacht, mit einem neuen Einzugsbereich, in den neuen Bundesländern, und jetzt ist wenigstens ein bißchen Ruhe eingekehrt.

Wenn du nicht kommst schnell, und du paßt nicht auf, dann sind die besten Sachen weg. Du kommst zu spät zur Toms-Kirche, da in Onkel-Toms-Hütte. Es war so schwierig, Schuhe zu finden für meine Größe. Die anderen kriegen Schuhe, modische Schuhe schon für 35 Mark. Und ich muß mich durchkämpfen um die Schuhe. Auch als ich auch auf'm Sozi war: "Es gibt einen Etat von 89 Mark, damit müssen Sie auskommen." Es gibt natürlich nicht einen Extra-Etat für Sondergrößen, und ich muß für 89 Mark Schuhe suchen.

Man muß immer wieder überprüfen, mit wem man es zu tun hat. Manche Sozialarbeiter tun sehr viel, sind engagiert, vielleicht, weil sie ein bißchen jung sind oder andere Erfahrungen haben. Weil sie die Perspektivlosigkeit nicht erleben wollen. Sie wollen auch nicht immer nur Suppe verteilen, oder Sozialscheine ausfüllen oder die Leuten abtippen lassen. Das ist eine Frage der Routine, aber auch, das sehen zu können und zu wollen. Ich denke, es gibt gute Sozialarbeiter wie K.H. als Beispiel, der wirklich für positive Entwicklungen offen ist, der sich bemüht. Der unter den Leuten was zusammengebracht hat. Er hat in Köpenick eine Aktion[6] gemacht, die haben die Häuser besetzt, die haben Erfolg gehabt. Wir haben jetzt den Hegelplatz und so weiter. Es gibt gute, die ihren Hals hinhalten. Es gibt natürlich auch Arschlöcher. Die einfach nur ihrer Job sehen und ihre Arbeit nicht verlieren wollen. Das rollenspezifische Verhalten, daß die sagen: "Ihr seid da, und wir sind hier." Obwohl ich den Beruf auch habe.

Drogen

Das war aus der Resignation, keine Arbeit zu finden. Man bewirbt sich regelmäßig, man steht früh auf, und man macht alles. Und da habe ich gesagt: "Das geht so nicht weiter! Ich mache meinen Ämtergang und was ist? Die Polen, die polnischen Juden, die russischen Juden, die reinkommen," - das war mir halt so damals, ich kann es Gott sei Dank definieren - "die kriegen alles in ihren Arsch gesteckt vom Sozialamt". - So habe ich das damals gesehen, obwohl ich das nicht böse gesehen habe. Aber ich habe richtig Haß da mal gehabt im Gefühl: "Die kriegen alles, und die Asylanten, und ich muß die Bewerbungen machen und kriege gar nichts. Du kommst zu nichts." - So war mein Bild. Ich bin kein Rechter, aber mir war das manchmal so, einfach nur so alles zum Kotzen, einfach, daß einem der Hut hochgeht. Und dann war ich so fertig, da habe ich gesagt: "Jetzt trinke ich nur!" - Bier, also nicht harte Sachen, nur Bier. - "Scheißgesellschaft! Ich habe mein Fachstudium zu Ende gebracht, und jetzt sitze ich trotzdem in der Wärmestube!" - Das hat mich angekotzt gehabt. Dann habe ich nur getrunken. Das hat mich total angenervt. Und dazu immer spät aufgestanden, du hast nicht die Kurve gekratzt, du warst auch nicht mehr so fit, duschen ging noch, aber ich habe gestunken. Und dann habe ich gesagt: "So weiter geht's auch nicht!" Da habe ich an meine Vernunft appelliert: "Jens, so darf's nicht weitergehen!" - Also, ich bin nicht aufgerüttelt worden, ich bin auch nicht angeküßt worden von jemandem, sondern ich habe mir persönlich gesagt: "Nein, so geht's nicht weiter!" - Also eigene Kräfte, die sagen: "Nun komm, du kannst doch was leisten!"

Weiter (= Linear Lesen)

Zurück zur Homepage dieser Arbeit

© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97