Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung
JENS
Lebenslage
Kulturarbeit
Dann habe ich die Kulturgruppe kennengelernt. Da erinnere ich mich an mich selbst: "Ich bin doch auch früher in Museen gegangen, habe mir Ausstellungen angeschaut, habe Sachen mitgemacht und so, mit dem Ben Wagin. Du bist doch nicht dumm, mach doch was daraus! Du hast doch eine andere Qualität an Lebenserfahrung gemacht, du hast 16 Jahre die Pädagogik von denen miterfahren! Das war vielleicht eine kurze Zeit nur, aber ein Weg, auch ein Schritt um eine eigene Findung!" - Und da habe ich mit denen ab Sommer, ab Mai habe ich da mit einer Kultursache, damit angefangen. Dann habe ich mit M. da was aufgebaut, da habe ich die Sommergeschichten gemacht et cetera. Und seitdem ging's so aufwärts persönlich. Also jetzt so von der Motivation her. Mit der Hohenstaufenstraße. Da habe ich eine Kulturgruppe aufgemacht. Wir haben jetzt einen Fernseher besorgt. Wir haben uns eine Tischtennisplatte besorgt. In diesem letzten Sommer haben wir Veranstaltungen gemacht. Wir haben eine Stadtfahrt gemacht, wir haben Museumsbesuche gemacht, wir haben Grillfeste inszeniert und gestaltet. Wir haben versucht, Gelder locker zu schlagen, wir wollen jetzt ein Weihnachtsprojekt machen. Da werde ich auch noch reden, werde eine Rede halten beziehungsweise auf das Problem der Wohnungslosen und auf die Perspektiven und Sehnsüchte dieser Leute.
Ich kann nicht erwachsene Persönlichkeiten zu ihrem Glück zwingen. Ich kann durch mein eigenes Interesse, meine eigenen Vorstellungen Kulturarbeit machen. Die Leute anstupsen. "Komm, machen wir doch mal einen Ausflug! Oder machen wir eine Stadtrundfahrt oder machen wir eine Dampferfahrt!" Da kommen auch einige Leute. Gut, 15 Leute schreiben sich in eine Liste ein, im Endeffekt sind es dann nur noch acht oder sieben, die übrigbleiben.
Hegelplatz - Besetzung (1. Berliner Obdachloseninitiative)
Und in dieser Arbeitslosenphase habe ich natürlich dann, über den Seelingtreff, die Chance wahrgenommen, die Hegelplatz-Container-Besetzung[7] mitzumachen. Als eine Art bewußtes Abenteuer. Aus den Erfahrungen, was ich früher gemacht habe. Die Zeit, die ich damals erlebt habe, nicht zu vergessen, sondern sagen: "Ich stehe dazu!" Dadurch habe ich versucht einen Weg zu finden, da mitzuarbeiten, solange ich arbeitslos bin. Ich denke mir, das ist redlich, wenn ich das so sagen kann. Aus der Not heraus, aus dem Mangelzustand, keine Arbeit zu haben. Aber ich weiß, daß ich eine Aufgabe suche. Warum nicht da, wo ich die Problematik doch kenne? Dadurch kamen Stimmen hoch, als ich die Besetzung mitgemacht habe: "Der ist ja kein richtiger Obdachloser! Der will sich hier hervortun." Das stimmt aber gar nicht. Sicher wohne ich in einer Wohngemeinschaft, aber das ist auch noch keine richtige Lösung. Die begreifen es ja nicht, wie ich früher gelebt habe. Was ich für Erfahrungen gemacht habe, als ich nach Berlin gekommen bin, das haben sie auch nicht gesehen.
"Auch noch keine richtige Lösung"Ich erinnere mich noch an Streitgespräche im Seelingtreff, wo das Problem war: Was machen wir diesen Winter für eine Aktion? Da hat jeder jeden angebrüllt und nicht ausreden lassen. Das muß neu gelernt werden, miteinander umzugehen, sozial umzugehen. Wir müssen ein Selbstbewußtsein unter den Leuten haben, daß man nicht sagt: "Ihh, das sind doch die Penner!"
Nein, wir haben Kräfte! Wir haben Berufe gelernt. Wir sind die Menschen, die man uns in der Zeit der Maueröffnung einfach alleingelassen hat. Die Mietexplosion et cetera. Das spielt eine große Rolle. Und das ist das Problem: Es gibt keine Solidarität. Es gab erst eine Solidarität untereinander, als die Leute den Hegelplatz besetzt haben. Und das, was gelaufen ist, ist einmalig in Deutschland. Hätte mir vor ein paar Monaten jemand gesagt, wir besetzen den Hegelplatz mit Erfolg, hätte ich ihn als einen Spinner betrachtet.
Ich habe mich am Hegelplatz wirklich engagiert, als einer der Sprecher wurde ich auch angenommen. Als ich gewählt worden bin, haben sich die Sozialarbeiter zurückgehalten. Die haben ja Angst, wenn sie sich zu weit reinhängen und sich groß aufspielen. Darum haben wir uns da natürlich reingehangen aus dem Boot. Und ich denke, das war politisch klug. Und wir haben natürlich das Diakonische Werk zum Handeln gezwunden. Und auch andere Institutionen.
Für mich war der Hegelplatz ein Schlüsselerlebnis. Ich habe vorher noch nie so stark geredet über das Thema, muß ich ehrlich sagen. Es war wichtig, das rauszubrüllen. Ich hab's ja nicht rausgebrüllt, ich hab's in vernünftigen Bahnen artikuliert. Aber für mich war es eine Befreiung. Auch vor der Presse endlich einmal neu darüber zu reden. Für einen Außenstehenden, der es nicht weiß, wie der Begriff zu definieren sei, muß die Sache ganz neu definiert werden. Neu definiert heißt einfach, darüber nachzudenken, ein neues Forum zu schaffen, mit Leuten ins Gespräch zu kommen, Öffentlichkeitsarbeit zu leisten, was jetzt auch angefangen hat. Ich habe nur Angst, daß das kaputtgeht. Durch bestimmte Persönlichkeiten, die immer noch soviel saufen müssen, daß die das vielleicht noch kaputt machen, das ganze Bild. An den ersten zwei Tagen wurden Scheiben eingeschmissen im Suff. Da habe ich gesagt: So weiter kann das nicht gehen. Das ZDF oder andere warten ja nur darauf, und dann heißt es wieder: "Das haben wir doch gar nicht anders erwartet." Was ich erlebt habe, gab es eine neue Solidarität. Aber auch die Solidaritätsbeiträge, was wir auch erfahren haben. Hätte ich nicht gedacht. Plötzlich kamen Spenden überall her, von normalen Leuten, von denen man es nicht geglaubt hätte. Decken, Hemden, das doppelte, was eine Wärmestube oftmals an Kleidervorrat hat, haben wir bekommen. Als wir eingezogen sind, haben wir gar nichts gehabt. Wenn diese Solidarität weitergetragen wird, dann braucht keiner mehr auf der Straße zu stehen.
Auch wenn's nur kleine Schritte sind. Nur 80 Menschen besetzen den Hegelplatz. Wo waren wir nicht überall in der Presse? Für mich ist das Medium schlechthin eine Machtstruktur. Daß ich gesagt habe, und der Senat hilft uns, als es eigentlich noch gar keine Senatsverhandlungen gab. Da habe ich eine Manipulation rübergebracht, die positiv rübergekommen ist. Die waren unter Druck. Ich habe gemerkt, durch Medien kann man politischen Druck schaffen. Man hat uns politisch - was ich damals in meiner Euphorie nicht gesehen habe - herausmanöveriert aus dem Einzugsbereich der Reichen, der City, als wir die Rhinstraße jetzt bekommen haben. Sozialen Sprengstoff eben in die Rhinstraße, wo er weit weg ist. Das habe ich erst später erkannt durch mehrere Gespräche, weil ich in der Euphorie war, alle freuten sich: "Wir haben etwas geschafft!" Und wir haben jetzt auch was geschafft in der Rhinstraße. Da haben wir auch einen Raum, wo die Leute zusammenkommen können. Das gab's noch nicht. Und das ist schwierig in einer Gesellschaft, die Fehler, die Mängelzustände, die sie erlebt haben in ihrem Leben, kann man nicht auf einmal in ein paar Tagen und paar Wochen oder Jahre zurückbiegen. Das ist nicht mehr machbar. Aber jetzt, wie ich das sehe, ich muß ehrlich sagen: Die Politiker sind jetzt gefordert, etwas zu machen. Die Verantwortlichen müssen jetzt - nicht nur die Politiker, sondern auch Wirtschaftsköpfe, die wirklich Geld haben - endlich mal Häuser zu bauen. 40 Mark für eine Pension, das tut mir echt weh. Richtig wäre, wenn sie uns Häuser geben, da kommen wir vielleicht noch billiger weg. Und da möchte ich vom Thema Penner nichts sehen und nichts hören.
Die Hegelplatzaktion hat mir wieder gezeigt, es gibt trotzdem Wege und Hoffnungen. Und es war so schön zu erleben, daß ein paar Leute, die ich gesehen habe jetzt in der Zeit, wo ich mitgemacht habe, wirklich was anderes auch noch wollen. Und ich bin auch ein Typ, der auch was anderes will. Das hat mich so stark motiviert, daß ich jetzt weitermachen möchte daraufhin. Wenn man mir keinen Zugang in der gesellschaftlichen Arbeit gibt, die ich in der staatlichen Ebene haben wollte, dann werde ich da etwas aufbauen. Wären die Sachen alle negativ gelaufen, dann wäre ich auch am Ende gewesen. Dann wäre mir alles unwichtig gewesen. Es war für mich ein Impuls. Wenn wir eine Lobby hätten mit 20.000 Wohnungslosen, wenn sie sich eintragen würden zu einem Verein, was dann für ein Zündstoff da ist! Das wollen sie doch gar nicht, gesellschaftlich. Was wir am Hegelplatz gemacht haben, wenn wir das im großen Rahmen nochmal machen würden.
Reflexionen
Es ist klar zu sagen, es ist eine miserable Geschichte, daß eine große Gesellschaft, die Geld hat, es zuläßt, Obdachlose zu produzieren. Der Staat ist nicht daran schuld, aber die Gesellschaft. Denn wer im Arbeitswesen drin gewesen ist und arbeitslos geworden ist, da liegen wirtschaftliche Kräfte dahinter. Und wen man nicht braucht, den können wir fallen lassen. Nur wird es nicht deutlich gesagt. Das ist einfach nur eine Sache, die wird nicht gesehen. Die Menschheit lebt immer in einem Widerspruch. Das war ja vor 200 Jahren auch nicht anders. Die Armut und der Reichtum. Man hat es immer noch nicht verstanden, das richtig umzuverteilen. Und dann sind die Kirchen wieder da und nehmen ihre Armen. Die können dann wieder vorzeigen: Da kommen alle wieder in die Kirche! Denn die wollen natürlich die Wohnungslosen ruhighalten. Geben ihnen schön Süppchen, sind sie ruhig, sind sie beleckt worden. Kriegen Weihnachtsgeschenke, kriegen Söckchen. Ich muß zufrieden sein, daß ich Söckchen geschenkt gekriegt habe von der Baptistengemeinde in der Bismarckstraße. Natürlich ist es interessant, die Leute ruhig zu halten. Was wäre mit der Arbeit, wenn alle Wohnungslosen weg sind? Dann wären sie ihre Arbeit los. Und das darf ja auch wiederum nicht sein. Die Gesellschaft braucht ihre Prozente. Die Prozente, die verrückt sind, brauchen wir auch noch, sonst kann der Doktor nicht arbeiten. Oder wird das geschürt von der Gesellschaft? Das wäre zu überprüfen. Diskriminalisierung ist das einfach, um auszugrenzen: "Guck mal, die! Die sind ja nicht mehr normal, abweichendes Verhalten zeigen sie doch in ihrem Zwang des Wohnungslos-Seins, so herumlaufen zu müssen." - Weil die so gemacht worden sind, die sind so geformt von der Gesellschaft. Natürlich sind sie gesellschaftlich behindert, wenn sie kein Geld haben, und beschnitten in ihrem Lebensinhalten und -qualitäten. Das ist doch klar. Es ist einfach so. Knallhart. Wenn man das ausrufen sollte: Wohnungen für Wohnungslose, ein rechtliches Wohnen für diese Wohnungslosen. Grundrecht auf Wohnung, auch in den Gesetzbüchern manifestiert. Dann gibt es eine Chance, um zu helfen. Die amerikanischen Fehler sollten wir nicht machen. Möchte ich auch nicht haben. Ich sehe einfach hier, wie die jetzige Chance ist: Die deutsche Einheit ist vollzogen, es sind noch große Probleme, Sozialen Sprengstoff wird's noch geben. Und das tut uns leid. Ich will auch sagen: Wir wollen mit keiner Randgruppe konkurrieren. Die Asylanten sind uns nicht über und nicht unter. Wir machen da keine Konkurrenzgeschichte: Die deutschen Wohnungslosen und die bösen Asylanten. Das ist wichtig, daß das rauskommen sollte.
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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97