Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung
 

HANS

HANS ist 48 Jahre alt, kommt aus Berlin-Kreuzberg im Westteil der Stadt.


Biografie

Kindheit, Jugend

Ich bin '44 geboren, und '45 sind ja meine Eltern bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Von daher kann ich sie ja nicht mehr kennen. Nur von Fotos und so. Und dann bin ich zur Verwandtschaft gekommen, nach Berlin-Charlottenburg. Und da bin ich dann aufgewachsen. Die Verwandten haben das so ziemlich gut gemacht, als wenn es meine Eltern wären. Aber sie haben mir natürlich immer aufs Brot geschmiert: "Wir sind bloß die Verwandtschaft und nicht deine leiblichen Eltern!" Die hatten eine 4-Zimmer-Wohnung. Die beiden Söhne in einem Raum. Ich hatte, heute könntest du sagen, das ist wie so eine Abstellkammer, so, wenn du jetzt eine große Außentoilette nehmen tust, jetzt im Altbauhaus draußen mal, so einen Raum hatte ich gehabt. Aber natürlich mit Fenstern drin, ein Bett, ein Schrank, ein Tisch, zwei Stühle, und das war alles, was reinpaßte. Aber ich hatte mein eigenes Reich. Und die Tante hat ja sowieso sauber gemacht, also da hatte ich ja nichts mit zu tun gehabt. Und wenn ich mal gesagt habe, ich gehe einkaufen, da hieß es: "Nein, du brauchst nicht einkaufen gehen, dafür kriegen unsere Söhne nämlich jeder zwei Mark, da brauchst du nicht auch noch gehen, das wären nämlich sechs Mark und du kriegst von uns kein Taschengeld." Immer wieder das vorgetischt bekommen. Weil ich nun mal eine Belastung, so kam ich mir vor, ich bin wirklich eine Belastung für die Verwandtschaft, und das hat mich angekotzt!

Exkurs: Obdachlosigkeit in den 50er Jahren

Als Kind hast du ja nie daran gedacht, mal so tief oder überhaupt mal so abzurutschen. Wer denkt denn schon, was in den nächsten zehn Jahren passiert? Worüber in der Schule - du weißt ja, daß es in den 50er Jahren schon die Obdachlosigkeit gegeben hat - schon aufgeklärt wurde. Naja: "Durch was kannst du abrutschen?" - "Du bist zu faul zum Arbeiten!", wurden wir aufgeklärt. "Das sind Menschen, die sind zu faul zum Arbeiten, die gehen zum Sozialamt." Da haben wir mal einen Rundgang gemacht als Kinder, uns das mal angeguckt. Wie sie ihr Geld bekommen, und was da noch alles ist. Und da habe ich die ganz dumme Frage gestellt: "Und das sind immer die, die in den Ecken sitzen und saufen und auf den Parkbänken schlafen? Und das immer da, wo wir die Rutschrinnen und Schaukeln haben und der Buddelkasten ist, da pennen die doch immer?" - "Na, das sind die." Und das habe ich noch wahrgenommen. Weil wir ja in diesem Sozialamt drin waren und uns die ganze Scheiße angeguckt haben als Kinder, wie das da zuging. Und da habe ich mir im Stillen gedacht: "Na hoffentlich kommst du nicht mit so einer Scheiße in Berührung mal in deinem Leben." Denn das ist ja nun, manch einer hat gesagt, das ist der Abschaum der Menschheit. Ich sage: "Und wenn das dein Vater wär, hättest du's dann auch gesagt?" Ich sage: "Der kann ja unschuldig reingerutscht sein." Die Firma oder irgendwas hat Pleite gemacht, und dann ist aus, der Ofen.

Ich glaube, das waren, ich meine, das waren... - Im alten Deutschland können das Leute gewesen sein, die schon nach dem Krieg keine Lust hatten, richtig zu arbeiten. Weil die erst gar kein Interesse haben wollten. Die vielleicht gesagt haben: "Du lebst vom Sozi oder vom Arbeitsamt!", gab's damals auch schon, "Und dann geht's dir besser, als wenn du arbeiten gehst!" Oder hier sind sie mit dem Argument gekommen: "Ich bin Alkoholiker, ich bin aus dem Krieg gekommen, ich kann nicht anders, ich bin Seilfahrer." Und sowas habe ich also auch zu hören gekriegt. Und die dann wirklich kein Interesse gezeigt haben, überhaupt aus sich was zu machen. Die gesagt haben: "Laß die Karre rollen, wie sie rollt, wenn ich tot bin, bin ich tot, dann kräht keine Sau mehr danach!" Ja, so kam mir das vor, damals, daß sie so sinnlos mit dem Leben umgegangen sind, und nicht irgendwie sich an irgendwas festgehalten haben, um zu sagen: "Ich will einen Anschluß haben!" Dann kam '47/'48 die Geldentwertung noch dazu, und da haben dann die meisten durchgedreht. Haben das wieder nicht klarbekommen dann.

Berufswahl und erste Wohnung

Das Arbeitsamt kam zur Schule hin und fragte: "Wer möchte was lernen, wer möchte Arbeiter und Arbeiterin werden?" Und ich habe mich gemeldet unter Arbeit. Und da haben sie mich gefragt, was ich mir so unter Arbeit vorstelle, und da habe ich gesagt: "So Lager- und Transportarbeiter bei einer Speditionsfirma." Ja, und die habe ich auch nachher bekommen. Und als ich 15 war, habe ich gesagt: "Leckt mich am Arsch! Adios! Weg bin ich!" Da habe ich mir zum ersten Mal ein möbliertes Zimmer genommen, da habe ich auch Arbeit gehabt und alles in bester Ordnung. Und da habe ich gewohnt von '59 bis '63 und dann nachher in so einer Ruinenbude, kannst du bald sagen, das war ein Sanierungsgebiet aber. Und da habe ich mir gesagt, das ist ja genau das Richtige, wenn die hier den ganzen Scheiß abreißen, sie müssen dir ja eine andere Wohnung geben und genau da ziehst du hin. Egal wie die Bruchbude aussieht. Du brauchst ja nichts einrichten, Hauptsache, du hast deine Arbeit und hast dein Geld.

Arbeitsplatzwechsel

Bloß die Speditionsfirma hatte ja, weil auf einmal zu viele Speditionsfirmen gekommen sind und wir waren bloß eine kleine Bude, vielleicht fünf Lkws so, und mehr waren das gar nicht, die hat 1969 sowieso zugemacht. Und das hatten sie noch vorher gesagt, und dann bin ich auf eine Speditionsfirma, da bin ich überhaupt nicht warm geworden. Also: "Was bist du, was bin ich?", verstehst du, "Du kommst von da hier her, und wir sind doch hier schon, und wir sind die Kings!" Und dann wurdest du so ein bißchen so an die Seite lang gearbeitet, sozusagen, und das hat mir nun überhaupt nicht geschmeckt. Zehn Jahre in einer Bude, und jetzt kommst du in so eine Bruchbude, das hat mir nicht geschmeckt. Naja, dann haust du wieder ab. Und dann ging das dann von Tür zu Tür los nachher. Bis ich mir wieder eine gefunden hatte, wo wirklich alle in einem Boot sitzen und wo wir zusammen arbeiten. Und wie das so mit dem Klima ist, mit den Arbeitskollegen. Darauf kommt's ja auch immer noch an.

Wohnungswechsel

Und das habe ich mir, wie gesagt, so vorgestellt, daß sie das sanieren, instandsetzen, das Haus. Aber das haben sie dann abgerissen. Die haben dann anstandslos, da haben ja noch andere Leute drin gewohnt, eine andere Wohnung sofort bekommen. Das war eine richtige Altneubauwohnung. Mit Kabelfernsehen, Telefonanschluß drin, Badezimmer drin. Und da wollte ich an für sich bloß eine 1-Zimmer-Wohnung haben. War nichts zu machen! Zwei Zimmer, Küche, Bad. 1.000 Mark. Mußte ich nehmen! Mir blieb nichts anderes übrig. Das war damals 1973. Weil sie dann in Kreuzberg über die Hälfte flach gemacht haben. Da haben sie dann Neubauten hingezogen, und ganz teuer. Das Ding hat schon damals, so eine Neubaubude, zwei Zimmer, etwas über 1.000 Mark gekostet. Das konnte ich mir gar nicht erlauben. Und dann kam nachher in den 80ern der Tiefschlag.

Arbeitslosigkeit

Ich habe ja meine Arbeit nicht durch meine Schuld verloren, sondern ich habe die Arbeit verloren, weil die Firma bankrott gemacht hat. Ich habe das Schreiben zu Hause, daß es gar nicht mein Verschulden ist. Ich habe ja gar nicht gekündigt. Ich bin ja bis zum letzten Tage, wo es dann hieß, heute kommen die Briefe, die Firma ist bankrott. Die Firma konnten wir nicht mehr retten, weder der Senat, noch das Abgeordnetenhaus, noch das Arbeitsamt oder irgend ein anderer. Keiner hat sich auch dafür interessiert für die Firma, um die überhaupt zu retten, daß wir quasi drinbleiben und weiterarbeiten können. Aber wir waren immer noch in der Hoffnung, daß der Senat vielleicht der Firma ein bißchen was zubuttert oder daß sie das Exportgeschäft ein bißchen ankurbeln. Daß sie also mit den, das waren so kleinere Teile für Computer und alles, und das war jetzt schon überlaufen, der Markt damals, aber wir waren alle in der Hoffnung, daß der Senat vielleicht durch Werbung und durch Finanzierung das Werk abstützt. Und daß die Firma dafür durchs Exportgeschäft dann zurückbezahlt hätte. Da waren wir ja sogar bereit gewesen, wenn der Senat das machen würde, als Arbeiter weniger Lohn mal zu nehmen, daß die Firma aus dem Schuldenberg wieder rauskommt. Aber der Senat hat gesagt: "Nein, danke!" Die Firma ist pleite und damit ist Feierabend.

Das war so Mitte '86, so Mai, Juni. Und Ende des Jahres '86 hatte ich eine andere Arbeit im Restaurant, und 1987 kam es, daß es dann immer weiter nach unten gegangen ist nachher, ja, da auf einmal war bei den Ämtern eine Kurzschlußhandlung drin.

Beginn der Wohnungslosigkeit

Ich habe damals vom Sozi keine Knete gekriegt, also kein Geld. Und weil ich kein Geld gekriegt habe vom Sozi, konnte ich keine Miete bezahlen. Weil es mit dem Arbeitsamt da alles so ein hin und her, so ein hin und hack Geschäft geworden ist, wer jetzt zuständig ist. Und in der Zeit, wo das so ein Hin- und Hergeschiebe gewesen ist zwischen Arbeitsamt und Sozi, konnte ich natürlich keine Miete aufbringen. Weil ich kein Geld hatte. Und weil ich kein Geld hatte, konnte ich keine Miete bezahlen. Und damit habe ich natürlich, durchs Gerichtsurteil, dann bin ich vor Gericht gegangen, Zahlungsverzug, und habe dann gesagt, solange das da hin und her geht, und das Gericht sich auch eingeschaltet hatte und auch nichts machen konnte, daß ich überhaupt zu Geld komme, habe ich natürlich gesagt, ich gebe die Wohnung auf. Also es war keine sogenannte Zwangsräumung, sondern es war ja im beiderseitigen guten Einvernehmen gewesen, daß ich die Wohnung, weil ich nicht konnte, weil die Scheiße so war. Das war Ende 1988.

Und was habe ich gesagt zur Wohnungsgesellschaft, sie können die Möbel auf den Schrott schmeißen, was besseres habe ich nicht. Die Möbel waren ja nun nicht mehr dementsprechend neumodisch. Ich meine, ich hatte von der Verwandtschaft so'n alten Schrank und sowas. Ich konnte aber meine Garderobe mitnehmen, ich konnte meine Haushaltsgeräte mitnehmen, da konnte ich alles in Ruhe mitnehmen, zur Pension rüber. Wir können da ja auch kochen und so. Ich mußte also in so'n Heim oder Männerwohnheim, wie man heute sagt, du darfst nicht mehr Pension oder Obdachlosenayl sagen, sondern Männerwohnheim. Durch das Sozialamt Wedding[1] damals. Die haben mir nur die Adresse gegeben, aber kein Geld oder irgendwas. Polizeilich dich ummelden, also da abmelden, hier anmelden, mußt du ja sofort, damit deine Post nachher kommt. Und das kostet ja auch alles Geld. Meinen Ausweis hatte ich ja, da brauchten sie ja bloß die Adresse umschreiben.

Und drei Monate später, nachdem ich meine Wohnung freiwillig, kann man sagen, aufgegeben hatte, dann kam das ganze Geld auf einmal. Jetzt habe ich aber dagestanden, a) ich brauchte Klamotten, b) ich brauchte was zu essen, und c) soll ich jetzt den Mietrückstand auch noch bezahlen? Das wär' ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, in diesem Augenblick.

Der Mietrückstand, der bleibt bei mir haften, das ist ganz normal. Das ist ein alter Schuldenberg, der wird extra bearbeitet bei der Wohnungsgesellschaft. Nun bin ich schwarz arbeiten gegangen, ich hatte vom Arbeitsamt Arbeitslosengeld, dazu nochmal Einkommen, ich dachte, das ist eine günstige Situation, und ich konnte fließend hintereinander monatlich 500 Mark abdrücken. Da haben wir uns nachher geeinigt, monatlich auf 500 Mark Zahlung, habe eine Weile bezahlt, ungefähr so 2.500 Mark, und dann kam die Polizei. Schwarzarbeit, Punkt eins. Ich habe aber triftige Gründe, warum, wieso, und weswegen ich schwarz gearbeitet habe, mir allein also Arbeit gesucht habe, und das war für die Polizei wiederum kein Argument. Da gab's eine Spielregel drin, egal wie hoch die Arbeitslosenhilfe jetzt ist, im Monat kann ich mir 480 Mark hinzuverdienen, ohne daß mir die Arbeitslosenhilfe gekürzt wird oder gar eingestellt wird. Aber ich muß mit Arbeitspapieren losdonnern. Und das war der ausschlaggebende Fehler. Ich hatte keine Lohnsteuerkarte mitgenommen, und kein Versicherungsbuch mitgenommen. Und daher hieß es dann: Schwarzarbeit. Aber der Richter, der war nun sehr humorvoll gewesen, der sah die verzwickte Lage, der sah, daß ich schon freiwillig die Wohnung aufgegeben habe, der sah nun guten Willen, ich bezahle meine Schulden ab, der hat mir also keine Gefängnisstrafe gegeben, er hat mir auch keine Geldstrafe gegeben, was sie ja nach dem sonst Üblichen auch noch machen könnten, sondern er hat mich ganz einfach wieder nach Hause geschickt, er hat gesagt: "Das Verfahren ist somit eingestellt."

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97