Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

6. Erklärungsmodelle
zu den Ursachen des "Wohnungslos-Bleibens"

Auffällig ist, daß die diskutierten theoretischen Modelle zur Verursachung von Wohnungslosigkeit[59] keine Aussagen enthalten, die sich explizit auf das Problem des "Wohnungslos-Bleibens" beziehen. Es gibt kein theoretisches Modell, welches hinreichend erklären könnte, weshalb und unter welchen Voraussetzungen ein Teil der Wohnungslosen dauerhaft wohnungslos bleibt, während einem (kleineren) anderen Teil die Wiederbeschaffung einer Wohnung gelingt. Auch gibt es keine einheitliche Definition von dauerhafter Wohnungslosigkeit. Im folgenden referiere ich die in den Modellen enthaltenen Positionen zur Frage des "Wohnungslos-Bleibens", befasse mich dann mit der Problematik der Definition von Langzeitwohnungslosigkeit und fasse abschließend die Ergebnisse zusammen.

Dauerhafte Wohnungslosigkeit ist nach Ekke-Ulf RUHSTRAT 1991 eine Folge der Auseinandersetzung Wohnungsloser mit dem Hilfeangebot und seiner Mangelhaftigkeit. Wenn Problemlösungen mit dem Hilfeangebot nicht zustande kommen, gehen die Betroffenen in Distanz zu den Hilfeinstitutionen oder suchen - meist erfolglos - nach alternativen Lösungsmöglichkeiten. Heinrich HOLTMANNSPÖTTER 1980 und 1982 führt das Phänomen dauerhafter Wohnungslosigkeit auf die Struktur des Hilfesystems selbst zurück. Insbesondere das Phänomen der Stadt- bzw. LandstreicherInnen ist für ihn eine mögliche Folge des dauerhaften Verbleibs im System der Nichtseßhaftenhilfe (sekundäre Devianz = dauerhafte Wohnungslosigkeit); auch innerhalb des Systems der Nichtseßhaftenhilfe sind Wohnungslose z.T. dauerhaft untergebracht, bleiben also wohnungslos. Wenn trotz einer Hilfestruktur der Ausstieg aus der Wohnungslosigkeit nicht gelingen kann, ist das für Andreas STRUNK ein Problem "kollusiver Vernetzung" an der Schnittstelle von Wohnungsmarkt und der Wohnungslosenhilfe. Für die Wohnungslosen ist das gleichbedeutend mit einer "Achterbahn":

"Menschen, die es in dieser 'Achterbahn' aushalten müssen, werden langsam 'irre im Kopf', wie es ein Klient ausgedrückt hat" (STRUNK 1988, S. 112).

Auch Untersuchungen zum Mobilitätsverhalten Wohnungsloser[60] belegen, daß die Mobilität Wohnungsloser weniger auf das Erlernen "evasiver Verhaltenstendenzen" (HUBER 1976), sondern vielmehr auf den "Drehtüreffekt" (Wiseman 1979 cit. nach STUMPP 1991) der "vertreibenden Hilfe" (HOLTMANNSPÖTTER 1982) zurückzuführen ist. Dagegen ist nach Roland GIRTLER 1980 der Aufenthalt in Obdachlosenheimen die "letzte Phase des Sandlerlebens" und "durch alkoholische Tendenzen ... geprägt" (GIRTLER 1980, S. 127).[61]

Dauerhafte Wohnungslosigkeit trotz oder wegen der Wohnungslosenhilfe, dauerhafte Wohnungslosigkeit trotz oder wegen eines Bezugs Wohnungsloser zu eben diesen Einrichtungen - in der theoretischen Diskussion werden beide Positionen vertreten. Im Gegensatz dazu wird von anderen AutorInnen[62] aufgrund vorliegender Befunde argumentiert, daß die Frage einer relativen "Nähe" bzw. "Distanz" zur Hilfe für Wohnungslose eben nicht primär ausschlaggebend für den dauerhaften Verbleib in der Wohnungslosigkeit ist. Vielmehr seien auf dem Hintergrund der spezifischen Bedingungen der Lebenslage Wohnungslosigkeit, der jeweils individuelle Umgang mit der Drogenproblematik sowie die Fähigkeit zum Aufbau und zur Gestaltung von Beziehungen und (Arbeits-)tätigkeiten ausschlaggebend für dauerhafte Wohnungslosigkeit. So stellt Gabriele STUMPP bezogen auf die von ihr untersuchten Wohnungslosen auf der New Yorker Bowery[63] positiv fest: "Am effektivsten erweisen sich solche Ausstiegsversuche, wo zum einen das Suchtproblem unter Kontrolle gebracht wird und zum anderen sich das Ausmaß gesellschaftlicher Eingebundenheit beispielsweise durch eine neue Beziehung oder Arbeitssituation erhöht. Zudem spielt das institutionelle System eine entscheidende Rolle bei der Verhinderung erfolgreicher Ausstiegsversuche" (STUMPP 1991, S. 215f). In ähnlicher Weise argumentieren auch Chrysula AVRAMIS und Rolf KRÜGER 1988 zur Begründung ihres Projekts "Berber-Zeitung" (Tätigkeit), sowie Eckhard ROHRMANN 1987 (Handlungsfähigkeit).

In diesem Zusammenhang müssen auch unterschiedliche soziale Orientierungen (Normalitäts-, Szene- und Institutionsorientierung) und Bewältigungsstrategien in der Wohnungslosigkeit - so Manfred GEIGER und Erika STEINERT in einer Studie über wohnungslose Frauen - auf dem Hintergrund von "Biographiebrüchen und Veränderungen der Lebensverhältnisse" gesehen werden (GEIGER/ STEINERT 1992, S. 118). Soziale Orientierungen und Bewältigungsstrategien in der Wohnungslosigkeit, entstanden "im Spiegel des Selbst", sind demnach die entscheidenden Parameter, die für die Beantwortung der Frage nach den Ursachen dauerhafter Wohnungslosigkeit primär relevant sind.

Ebenso, wie die Frage nach den Ursachen des "Wohnungslos-Bleibens" in der theoretischen Diskussion völlig ungeklärt ist, liegt noch nicht einmal eine Definition darüber vor, wann und unter welchen Voraussetzungen von dauerhafter Wohnungslosigkeit gesprochen werden muß. Anhaltspunkte, um sich einer möglichen Definition anzunähern, ergeben sich aus einer Reihe vorliegender Erhebungen und Untersuchungen (s.o.), die sich in aller Regel auf die Inanspruchnahme und Nutzung der Hilfeeinrichtungen beziehen. In ihnen wird gewöhnlich zwischen "Neuauftritten" und "Wiederauftritten" Wohnungsloser (KlientInnen) unterschieden. Demnach sind "Wiederauftritte" gegenüber der erstmaligen Erfassung als "Neuauftritt" immer noch oder erneut wohnungslos. Gewöhnlich werden diese Erhebungen in Jahresfristen durchgeführt, so daß von einem "Wiederauftritt" in der Regel erst dann gesprochen wird, wenn der oder die als "Neuauftritt" erfaßte KlientIn nach Ablauf eines Jahres immer noch (oder schon wieder) als Wohnungsloser gegenüber der Institution in Erscheinung tritt. Sofern die Dauer des Verbleibs in der Hilfe bzw. der Zeitpunkt des Beginns der Wohnungslosigkeit festgehalten wurde, kann daraus die Dauer der Wohnungslosigkeit bzw. der Verbleib in der Hilfestruktur ermittelt werden. Folgt man dieser pragmatischen Unterscheidung, so ist es in Hinblick auf eine notwendige Definition von dauerhafter Wohnungslosigkeit plausibel, dann von Langzeitwohnungslosigkeit zu sprechen, wenn der Tatbestand der Wohnungslosigkeit länger als ein Jahr vorliegt. Und entsprechend der Definition von Wohnungslosigkeit muß auch dann von Dauerwohnungslosigkeit gesprochen werden, wenn eine Unterbringung in einer Hilfeeinrichtung, die in der Regel nicht dem Kriterium von "eigenem gesicherten und den Mindestansprüchen genügenden Wohnraum" genügt, vorliegt.

In einem Exkurs sei kurz die Entwicklung des Problems dauerhafter Wohnungslosigkeit beschrieben: Folgt man der o.g. Unterscheidung in "Neuauftritte" und "Wiederauftritte" Wohnungsloser und nimmt an, daß ein "Wiederauftritt" den Beginn langzeitiger Wohnungslosigkeit markiert, so ist festzustellen, daß der überwiegende Teil der Wohnungslosen, die im Kontakt zur Wohnungslosenhilfe stehen, langzeitig wohnungslos ist. Ergänzend zu den Erhebungen, die die Dauer der Wohnungslosigkeit der Gruppe der Wohnungslosen untersuchen, die über das Hilfesystem erfaßt wurden, ist lediglich die Erhebung von WEBER 1984, die sich auf eine Gruppe von 219 befragten sog. "StadtstreicherInnen" bezieht, heranziehbar. Zwar belegen die Ergebnisse die These, daß "auch für die Mehrzahl der befragten StadtstreicherInnen die Obdachlosigkeit bereits zum chronischen Dauerzustand geworden" ist (WEBER 1984, S. 66), auf der anderen Seite widerlegt ein Anteil von über 40%, die weniger als 1 Jahr wohnungslos sind, die These, daß das Problem dauerhafter Wohnungslosigkeit ein spezifisches Problem sog. "StadtstreicherInnen", d.h. einer Personengruppe, die in relativer Distanz zur Wohnungslosenhilfe steht, ist. Untersuchungen, die sich auf Wohnungslose beziehen, die aufgrund ihrer Inanspruchnahme der Hilfeangebote erfaßt wurden, kommen zu ähnlichen Ergebnissen, so zum Beispiel RUHSTRAT 1991: Bei 58,5% der von ihm erfaßten Wohnungslosen liegt der Zeitpunkt der erstmaligen Wohnungslosigkeit sogar länger als 5 Jahre zurück. Untersuchungen, die sich auf den Zusammenhang der Dauer der Wohnungslosigkeit und dem Verhältnis zur Wohnungslosenhilfe beziehen, liegen nicht vor. Aber allein die Tatsache, daß weitaus mehr als die Hälfte der Wohnungslosen, die sich an entsprechende Hilfeeinrichtungen wenden, sogenannte. "Wiederauftritte" sind, kann als Beleg dafür genommen werden, daß dauerhafte Wohnungslosigkeit - trotz Wohnungslosenhilfe - bei weitem keine marginale Erscheinung ist.

Zwar nimmt in den letzten Jahren der Anteil der "Neuauftritte" Wohnungsloser gegenüber den "Wiederauftritten" kontinuierlich zu[64], gleichzeitig ist aber in den letzten Jahren - insbesondere nach der Einheit - auch die Zahl der Wohnungslosen insgesamt, sowohl bezogen auf die Bundesrepublik[65] als auch in Berlin[66] absolut weiterhin am steigen. Zusammengenommen müssen beide Entwicklungen als Indiz dafür gelten, daß auch das Risiko, nach Auftritt der Wohnungslosigkeit wohnungslos zu bleiben, weiter eskaliert.

Damit kann festgehalten werden: "Wohnungslos-bleiben" bzw. das Phänomen der Langzeit- oder Dauerwohnungslosigkeit ist ein in der bisherigen Forschung wenig untersuchtes Problem; die Frage nach den Ursachen ist alles andere als befriedigend geklärt. Die vorliegenden Erklärungsansätze sind in hohem Maße widersprüchlich. Ist dauerhafte Wohnungslosigkeit eine Situation in relativer Distanz zum Hilfesystem, ein Resultat der Auseinandersetzung Wohnungsloser mit einer defizitären Hilfestruktur, oder fällt das Phänomen dauerhafter Wohnungslosigkeit letztlich mit der Unterbringung in einer Obdachloseneinrichtung zusammen? Oder ist nicht das Verhältnis zu den Hilfeinstitutionen, sondern die Fähigkeit zur Bewältigung von Problemen, zur Gestaltung von Beziehungen und Arbeitstätigkeiten ausschlaggebend? Oder sind letztlich subjektive Orientierungen und Bewältigungsstrategien entscheidend für die Frage dauerhafter Wohnungslosigkeit?

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97