Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung
4. Erklärungsmodelle
zur Verursachung von WohnungslosigkeitUm das Ergebnis vorwegzunehmen: Es gibt nicht die Theorie zur Erklärung der Verursachung von Wohnungslosigkeit. Vielmehr ist eine ganze Vielzahl unterschiedlicher, teilweise sich widersprechender, teilweise sich ergänzender Annahmen zu konstatieren. Die ganze Fülle der theoretischen Ansätze in ihren Facetten und im Kontext ihrer Entstehung und Geschichte darzulegen, kann aber nicht Gegenstand der Erörterung sein,[56] vielmehr geht es hier darum, die zentrale Widersprüchlichkeit der bestehenden theoretischen Reflexion zu Wohnungslosigkeit herauszuarbeiten, in ein Verhältnis zur Ausgangsfrage der Untersuchung zu bringen und dieses kritisch zu bilanzieren. Generell können die Erklärungsmodelle zu Wohnungslosigkeit, wie im folgenden kurz dargestellt, in eher gesellschaftstheoretische und eher individualtheoretische Annahmen eingeteilt werden:
- Wohnungslosigkeit ist gesellschaftlich verursacht.
Wesentlich zum Verständnis der Verursachung von Wohnungslosigkeit sind für ALBRECHT 1985 die Ergebnisse der life-event Forschung. Das Individuum ist - im weitesten Sinne gesellschaftlichen - Einwirkungen ausgesetzt, die in Form von Ereignissen auftreten, die direkt oder indirekt auf das Individuum treffen oder einwirken. In ähnlicher Weise ist für RUHSTRAT 1991 der soziale Abstieg in die Wohnungslosigkeit strukturell determiniert und erfolgt über "Schlüsselsituationen". In der marxistischen Gesellschaftananlyse, die ROHRMANN 1987 referiert, ist Wohnungslosigkeit in Analogie zur Arbeitlosigkeit ein Ergebnis von Prozessen der beruflichen Dequalifikation und Deklassierung, von strukturell bedingter Langzeit- oder Dauerarbeitslosigkeit sowie den damit einhergehenden Prozessen zunehmender Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt und aus dem Wohnungsmarkt. Für GIRTLER 1980 ist Wohnungslosigkeit eine Reaktion auf gesellschaftliche Zuschreibungsprozesse (Stigmata). Für WEBER 1984 ist Ausgangspunkt für Wohnungslosigkeit eine Armutslage, deren weiterer Verlauf wesentlich durch gesellschaftliche Situationsdefinitionen determiniert ist. Diese bedingen und verstärken abweichendes Verhalten, persönliche Handlungs- oder Verhaltensbeeinträchtigungen bzw. Defizite. Der Weg in die Wohnungslosigkeit besteht nach GIESBRECHT 1987 aus einer Reihe von gesellschaftlich oder individuell bedingten "Hürden", die je nach individueller und gesellschaftlicher Disposition nicht bewältigt werden können. Gesellschaftstheoretische und individualtheoretische Annahmen werden bei GIESBRECHT einfach kombiniert.
- Wohnungslosigkeit ist individuell verursacht.
Für die Autoren der GRUNDLAGENSTUDIE 1991 stellt Wohnungslosigkeit "eine späte, aber nicht notwendige" Konsequenz aus Beeinträchtigungen und Benachteiligungen im Verlauf der Sozialisation in einer frühen oder späteren Phase der Individualentwicklung dar. Weitere Konzepte sind die des "Wandertriebs" (ADERHOLD 1970), das Konzept der "Psychopathen" (STUMPF 1938), der "evasiven Konfliktlösung" (WICKERT/ HELMES 1977) sowie der "depressiven Persönlichkeit". HUBER 1991 benennt in einem hypothetischen Erklärungsmodell 12 Phasen der menschlichen Individualentwicklung und konstatiert auf jeder der benannten Stufen mögliche Ursachen für die Entstehung besonderer sozialer Schwierigkeiten (i.e.S.: spätere Wohnungslosigkeit). Allerdings wird der Geltungsanspruch von HUBERs Erklärungsmodell bereits von vorneherein relativiert: "Nicht jeder, der alleinstehend und wohnungslos ist, zeigt ganz oder teilweise die ... beschriebenen Persönlichkeitsentwicklungen und Verhaltensweisen." (HUBER 1991, S. 185).Beide Tendenzen der oben angedeuteten Theoriebildung bleiben letztlich unbefriedigend: ROHRMANN 1987 macht auf das grundlegende Problem dieser Annahmen aufmerksam: Wenn Wohnungslosigkeit gesellschaftlich determiniert ist, dann sind die Wohnungslosen bloße Opfer, sie können gar nichts für ihre Wohnungslosigkeit. Wenn Wohnungslosigkeit im Ergebnis individuellen Defiziten zuzuschreiben ist, können die Betroffenen erst recht nichts für ihre Situation. Wohnungslosigkeit ist demzufolge schlüssig weder als allein gesellschaftlich verursacht, noch als allein individuell defizitbedingt zu erklären, auch eine Kombination beider Annahmen - im Sinne von "gesellschaftliche Bedingungen bewirken individuelle Defizite" ist wenig überzeugend.
Eine beide Positionen vermitteltende Annahme wird von ROHRMANN 1987 - relative Handlungsfähigkeit - sowie von AVRAMIS/ KRÜGER 1988 - Tätigkeit und Persönlichkeitsentwicklung - vertreten. In historisch-dialektischer Weise wird angenommen, daß Individualentwicklung von vorneherein gesellschaftlich vermittelt ist und sich im Prozeß der gesellschaftlichen Tätigkeit bzw. Handlungen des Subjekts vollzieht. Allerdings liegen noch keine empirischen Arbeiten zur Frage der Verursachung von Wohnungslosigkeit bezogen auf diese Annahme vor.
Ist also schon die Frage nach der Verursachung theoretisch nicht eindeutig geklärt, so ist in einem nächsten Schritt zu fragen , wie denn auf der Ebene der bereits eingetretenden Wohnunglosigkeit das Verhältnis Wohnungsloser zu den Hilfeangeboten - m.a.W.: die Frage nach der Distanz Wohnungloser zur Hilfe - theoretisch behandelt wird und welche Erklärungsmodelle dazu vorliegen.
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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97