Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung
III Stand der Forschung
1. Internationale Diskussion
Nach der Konferenz der Vereinten Nationen über das Wohn- und Siedlungswesen (HABITAT) 1976 in Vancouver erklärte die Generalversammlung der UNO in ihrer 37. Sitzungsperiode das Jahr 1987 zum Internationalen Jahr für Menschen in Wohnungsnot (UNO-GENERALVERSAMMLUNG 1982). Die Wirkung des Internationalen UNO-Jahres für Menschen in Wohnungsnot ist hinsichtlich der internationalen Diskussion vorrangig in drei Bereichen zu sehen:
- Ein bislang wenig international diskutiertes Problem wird damit in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit gerückt: Wohnungsnot in Verbindung mit Urbanisierung, geringem Einkommen, hoher Arbeitslosigkeit, Vertreibung und Naturkatastrophen ist ein Problem der Mehrheit der Weltbevölkerung (HACKELSBERGER 1992) mit dem Status einer 'globalen Krise' (RAMACHANDRAN 1987).
- Das UNO-Jahr wird zum Anlaß, auch auf nationaler Ebene die Auseinandersetzung über Wohnungslosigkeit zu forcieren, so auch in der Bundesrepublik Deutschland.[1]
- Das von der UNO in globaler Perspektive mit Blick auf die Entwicklungsländer akzentuierte Problem der Wohnungsversorgung relativiert keineswegs das Problem der Wohnungslosigkeit in den hochentwickelten Industrienationen.[2] Wie in der Bundesrepublik Deutschland in den Reaktionen zum UNO-Jahr, wird auch in den anderen Industrienationen[3] und insbesondere in den USA der Ära Reagans - "homeless by choice" - [4] eine Verschärfung des Problems konstatiert, die internationale Verständigung wird vor allem in den Staaten der EU von den nationalen Hilfeorganisationen durch die Gründung der "Fédération européenne d'associations nationales travaillant avex les sans-abri"/ "European Federation of National Organisations Working with the Homeless" (FEANTSA) im Jahr 1989 vorangetrieben.
In der internationalen Diskussion werden vor allem drei Probleme sichtbar:
- Es gibt weder eine allgemeinverbindliche, international anerkannte Definition des Wohnens[5], - "die Bedeutung des Wortes 'Wohnung' ist von Land zu Land unterschiedlich" (IVWSR 1987) - noch in Verbindung damit eine operationale Definition zum Bedeutungsfeld Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit. Am weitesten entwickelt ist die Verständigung innerhalb der Staaten der Europäischen Gemeinschaft.[6] Zwar werden die von GREVE (IVWSR 1987) und SPECHT (BAG-NH 1989) entwickelten Definitionsansätze[7] vom Europäischen Parlament (EUROPÄISCHES PARLAMENT 1987a) und der FEANTSA weitgehend aufgegriffen. Trotzdem wird auch in neueren Publikationen Wert auf die Feststellung gelegt, daß bis heute keine international akzeptierte einheitliche Definition von Wohnungslosigkeit vorliegt und es beim derzeitigen Stand der unterschiedlichen Einschätzung und mangelhaften Information auch nicht geben kann.[8]
- Bezogen auf die Industrienationen, dokumentieren allein schon die Länderberichte aus der EU[9] und Arbeiten aus und über die USA[10] die nationalen Unterschiede des Problems Wohnungslosigkeit und des national-gesellschaftlichen Umgangs damit (Definition, Rechtslage, Konzeptuierung und Institutionalisierung des Hilfesystems, Problemgenese und -verständnis, Entwicklungen). Dazu kommt eine "schlecht zugängliche, fast unübersehbare, zum Großteil graue Literatur" (LICHTENBERGER 1990 bezogen auf die USA)[11]. Tenor aller Dokumente, die sich mit dem internationalen Stand verfügbarer Daten befassen, ist, daß insbesondere Untersuchungen und Forschungsergebnisse nur spärlich vorhanden, in der Regel nicht miteinander vergleichbar sind und entsprechender Bedarf an weiteren Studien besteht.[12] Wiederum muß die internationale Zusammenarbeit innerhalb der EU-Staaten - insbesondere seit Gründung der FEANTSA 1989 - als am weitesten fortgeschritten gelten. Nach einer Reihe internationaler Seminare (Cork 1985, Turin 1987, Vierset 1988, Paris 1989, Lissabon 1990) wird erstmalig 1992 eine internationale Studie zum Hilfesystem für Wohnungslose vorgelegt (FEANTSA 1992). Diese Studie, aber auch andere Arbeiten, wie etwa der Report der International Federation for Housing and Planning (IFHP 1992) und die zweite Studie der FEANTSA 1993 enthalten in erster Linie Aneinanderstellungen der einzelnen Länderdaten. Es dominieren die Verweise auf länderspezifische Besonderheiten. Versuche, trotz aller bestehenden Unterschiede gemeinsame Trends herauszuarbeiten, bleiben noch voll in den Anfängen stecken.
- Mit dem Zusammenbruch des real-existierenden Sozialismus ist und wird Wohnungslosigkeit in diesen Staaten zu einem unübersehbaren und offenbar strukturimmanenten Problem eines umfassenden gesellschaftlichen Umbaus, dessen Zukunft noch unentschieden ist. Eine systematische wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Problem ist bisher, wohl auch aufgrund der desolaten Datenlage, nicht erfolgt. Bislang liegen nur vereinzelt lokale Berichte vor, so etwa über Gizycko, Polen (SCHNEIDER 1993b) oder St. Petersburg, Rußland (SOKOLOV 1993 und 1993a), die sich vor allem mit dem Ausmaß und den Charakteristika des Problems sowie den Anfängen der Hilfe befassen. Wohl als Folge zunehmender Wohnungslosigkeit in den Ländern des ehemaligen Ostblocks sind Migrationsbewegungen in den Westen zu konstatieren. Speziell in Berlin wird ein zunehmender Anteil Wohnungsloser aus eben diesen Ländern konstatiert, die Auseinandersetzung mit diesem neuen Phänomen steckt aber noch in den Anfängen (vgl. VEIT 1994).
Bilanzierend ist festzuhalten, daß in der internationalen Diskussion eine Verständigung über Wohnungsnot und -versorgung angesichts der Vielschichtigkeit und der jeweils besonderen regionalen und nationalen Akzente des Problems noch in den Anfängen steckt. Am ehesten vergleichbar und damit wissenschaftlich erschließbar ist der Stand der Auseinandersetzung (und Forschung) über Wohnungslosigkeit in den Industrienationen, insbesondere in den EU-Ländern. Aber selbst auf dieser Ebene sind nach Einschätzung der vorliegenden Literatur (s.o.) die nationalen Unterschiede noch überaus gravierend. Die unterschiedlichsten Datenbestände, Sichtweisen und Auffassungen des Problems zusammenzuführen und derart zu aufzuarbeiten, daß sie für eine Analyse operational verwertbar werden, eine solche Leistung steht noch aus und würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Deshalb erscheint es ratsam, die weitergehende Auseinandersetzung mit dem Stand der Forschung vorrangig auf den deutschen Sprachraum zu konzentrieren. Ich beginne mit einem Thema, das auch schon die internationale Diskussion maßgeblich bestimmt, nämlich die Auseinandersetzung über das Problem der Definition der Zielgruppe.
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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97