Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

Protokollnotiz 16 von Freitag, dem 8.11.1990, 9:15 - 12:15

Es gibt heute nichts zu protokollieren. Im Ottopark traf ich Georg, gab im die Hand, er sagte, er wolle spazieren gehen. Ich ging durch die Gegend, vor der Markthalle war gegen 10 noch keiner, ging in die TUB Bücherei ein bißchen lesen, ging zurück, sah Kalle in einer Gruppe hinter der Imbißbude in dem Parkstück, vor der Markthalle waren auch einige Leute, die auf der Bank saßen, ich meinte, ich hätte Georg dabei gesehen. Ich wollte keinen Kontakt aufnehmen. Ich bin blockiert. Ich glaube, ich unterliege einem tödlichen Zirkelschluß:

Ich frage mich, wie komme ich bei den Leuten an, glaube, nicht so gut (wieso glaube ich sowas) und glaube dann, daß die Leute mir gegenüber mißtrauisch sind. Und das blockiert. Dieses Zirkel gilt es aufzubrechen. Ich will etwas, und das bring ich auch zur Geltung. Andererseits glaube ich nicht, daß eine solche Vorgehensweise dem Feld gerecht wird. Irgendwie ist alles scheiße scheiße scheiße....

Und eine andere Geschichte. Ich mache mir viel zu viel Gedanken, über das was ich dann wirklich tun sollte müßte könnte (vgl. letztes Protokoll). Und auch das blockiert mir. scheiße scheiße scheiße...

Um das noch anders zu sagen: Ich laufe in Moabit stundenlang durch die Straßen, und es kommt nichts ,aber auch nichts dabei rum. Ich habe den Eindruck, ich muß wieder ganz von vorne anfangen.

Irgendwie habe ich auch Hemmungen, in den Warmen Otto zu gehen.

Jetzt angekommen in meinem Büro, fühle ich mich wieder sicher. Das, worauf es hier ankommt, kann ich: Protokolle schreiben, Briefe schreiben, dumm rumsitzen usw.

Stefan: Was ist bloß los mit Dir?

Nachtrag

Ich muß davon runter, solche Erfahrungen immer gleich in Persönlichkeitskrisen hochzuputschen. Sicher, ich habe mir selbst höchste Anforderungen gesteckt, auch "das Feld" stellt höchste Anforderungen an mich. Niemand aber zwingt mich, mich sklavisch an (m)ein in März am Schreibtisch formuliertes Programm zu halten und das erfüllen zu wollen. Was ich erlebe (und durchlebe), ist Teil des Forschungsprozesses, und allein das, was ich in den ersten Wochen erlebte, war so auch nicht planbar gewesen, es läuft aber in die richtige Richtung. Ich kann das alles nur mit meinen Mitteln machen, und ich kann nicht von mir Erwarten, daß ich mir selbst gestellte Anforderungen aus dem Stand erfülle. Ich muß mich in verschiedene Anforderungsstrukturen hineinentwickeln, sie ausfüllen lernen, das ist der Punkt.

LEO sagt sinngemäß, das Menschen bei der Entwicklung ihrer Tätigkeit immer auch sich selbst, ihre Konstitution und Fähigkeiten usw. berücksichtigen, sozusagen selbstreflektorisch (reflexiv), ohne das das unbedingt bewußt sein müßte. In diesem Sinne kann ich nicht "über meinen Schatten springen".

Es gibt soetwas wie eine Verdichtung von Angst in bestimmten Situation bei Handlungen, die eigentlich schon gekonnt werden, aber noch nicht routinisiert sind. Ich denke, was ich in den letzten Tagen erlebt habe, war soetwas. All das, was daran noch schwierig, unklar usw. ist, verdichtet sich unter bestimmten Umständen (siehe z.B. eigener oder fremder Erwartungsdruck usw.) zu dem, was ich jetzt durchgemacht habe. Na und! Vielleicht sollte ich mal wieder mir selbst etwas gutes tun, und dann gehe ich vielleicht Sa, vielleicht So wieder hin, und dann ist alles ganz anders. Diese Verdichtung von Angst habe ich in sehr viel verkürzterer Form auch am 20.9.1990 erlebt und in Protokollnotiz 1 beschrieben.

Wenn ich jetzt so über die Arbeit die Arbeit nachdenke, habe ich allen Grund, selbstbewußt zu sein, und dazu stehen zu können. Es ist okay, was ich gemacht habe. Und gerade was den Aufbau von sozialen Beziehungen zu den Leuten in Moabit angeht: Auch das ist - okay. Ich denke, in diesem Bereich läßt sich nichts erzwingen. Ich habe in der Hinsicht, was Beziehungen angeht, einen ganz eigenen Zeitrhythmus. Und, wenn ich so an meine verschiedenen Beziehungen zu Leuten denke - ich glaube, ich bin da ziemlich langsam. Es wäre brachial und würde dem ganzen Gewalt antun, wenn ich da anders herangehe, als es mir und meiner inneren Strukturiertheit entspricht. Diese Gedanken sind noch nicht ausgereift, aber das ist eine verdammt gute Idee, an diesem Punkt etwas zu denken.

Also, wenn ich jetzt mal an meine Freundinnen denke. Dieser Bereich von Beziehungen, und das ist das interessante, ist ja unglaublich individuell frei organisierbar. Ich bin da völlig frei drin, niemand macht mir Vorgaben. Alle meine Beziehungsgeschichten haben sich unglaublich langsam entwickelt, über Tage, Wochen, Monate. Ich habe auch daran gelitten...

Je mehr ich mich unter Druck setze, desto mehr blockiere ich mich selbst. Wenn es wirklich ein sehr tief - gründiges Motiv ist, was mich veranlasst, mit diesen Leuten in Kontakt zu kommen, dann muß das Zeit haben, dann werd ich mich schon entsprechend bewegen

Ich geh jetzt mal auf die "Zen" oder Buddha - Ebene und verlasse die kopflastige Wissenschaftsebene. Beispiel: Für mich ist Musik ungeheuer wichtig. Und ich weiß, es ist ein tiefes Motiv oder Bedürfnis, irgendwann einmal Zeit dafür zu haben, selbst Musik zu machen und nicht, wie ich es jetzt mache, mir auch meinen 500 Cassetten das auszusuchen, was a) meine Stimmung ausdrückt oder b) ich mich in meiner Stimmung damit konfrontieren will -z.B. was erzählt mir John Coltranes Saxophon. Und manchmal glaub ich, frage ich in das, wenn ich mich entscheide, ich höre jetzt Coltrane: Ich will jetzt hören, was Coltrane mir dazu sagen kann. Coltrane ist mein "Gesprächspartner".

Was ich sagen will, ich weiß, irgendwann in meinem leben wird der richtige Zeitpunkt kommen, wo alle Voraussetzungen dafür da sind, daß ich selbst Musik mache. jetzt sind meine Lebensumstände so, das das durch andere Motive blockiert, überlagert ist und das kann ich mir nicht freikämpfen, weil es auf kosten dieses Motivs geht. ich kann das, was ich will, nicht nebenbei machen, jetzt in Sachen Musik, es muß "eben der richtige Zeitpunkt dasein". So, wie auch bestimmte Bücher mir zu bestimmten Zeitpunkten nichts sagen, dann aber wieder im richtigen Moment kommen.

wegen der Sache mit der Musik habe ich überhaupt keine sorge mehr - ich bin da wie ein alter, weiser Mann. es wird der tag kommen...da wird dann alles passen...

das war ja mit dem segeln ganz genauso - oder mit Nicaragua. oder ...

Eisermann spricht da von "Karma", das muß soetwas sein

und so ähnlich ist das mit den Wohnungslosen. ich habe da eine richtige Peilung, ich bin da auf dem richtigen weg, aber ich kann da auch viel kaputtmachen, wenn ich den gestaltenden Anteil meiner Tätigkeit überziehe, wenn ich da was erzwingen will...

ich weiß nicht, ob ich mich damit habe verständlich machen können

ich denke da an diesen Begriff von verstand: nicht nur im sinne von ratio, sondern als lebenspraktische Einheit von Gefühl und denken, von tun und lassen, Aktion und Kontemplation usw.

...

Protokollnotiz 17 von Dienstag, dem 12.11.1990, 13:00 - 16:45

Jetzt, jetzt in meinem Büro, ich bin ja soo wütend, so unglaublich geladen. Auch vorhin schon, in der U-Bahn, die Nerven gespannt, das hat richtig in den Fußsohlen, im ganzen Körper gebebt. Ich hab gefroren, die letzten 1 1/2 Stunden, wie ein Schneider - Mensch , ich bin geladen, könnte gleich die ganze Anlage hier auseinandernehmen, zertrümmern, kurz und kleinschlagen, schreiben, mit dem Kopf gegen die Wand hauen, alles entladen, aggressiv, auto aggressiv , fleisch reißen, usw.

Okay, cool, down, denken einschalten, protokollieren, vorher kurz pause machen, in mich gehen.

Bedeutungen wie Käfige, wie Zwangsjacken, Lebenswirklichkeit, steigt in mein Hirn, Käfige werden meine Käfige, schränken mich ein engen mich ein, fühle erfaßt, eingenommen, hilflos, ohnmächtig, schutzlos ausgeliefert, preisgegeben, wie die Tiger im Käfig, nur noch auf und ab laufen könnend, schlimmer noch, wie eine Wand voller Messer, gegen mich kommend, bedrohend, mich einengend, bedrohlich, kalt, without sense, without Zukunft, ich sehe nur soweit meine Hände reichen, dahinter hört die Welt auf, verschränkt , Wasserfälle von schalem Bier, Schleim Eiter, verschränkt Liebe, Haß Geld, Erfahrungen des Überbens, Geschäfte, geliehen, Verstrickungen, der große Rausch, soweit meine Hände reichen, Zärtlichkeit, Pöbel Schrei, Streit, Unerreichbarkeit, Hallelujah. Schmerzen, Weh, wehe, Wut, Lebenswille, rauskotzen...

allright, what has really happened?

Ich will das mal versuchen, zu formulieren. Wenn ich nach Moabit gehe, und dort mit den Leuten zusammentreffe, mich ihnen rede, oder auch nur dabei bin (Ich bin nicht "Motor" des Geschehens), dann passiert etwas. Eine Kommunikation, sprachlich zumeist , zwar auch anders vermittelt, über Gegenstände, Gesten usw. Aber ich nehme mal die Sprache als Mittel Nr. 1. Die Gegenstände unserer Unterhaltungen sind Bedeutungen. Sprachliche Bedeutungen. Umgekehrt verweisen sprachliche Bedeutungen auf eine gegenständlich Wirklichkeit. Ich verstehe diese Bedeutungen, aber es sind nur zu einem Teil die Bedeutungen, mit denen ich mich ausdrücke. Und diese Welt der Bedeutungen, die ich dort erlebe, erscheint mir, weil sie gehen über in mein Denken, in mich, so eingeschränkt, so zukunftslos, perspektivlos: So nahe am Leben, so verstrickt in den Alltag, so im Alltag verwoben, diffus verschränkt mit Emotionen zwischen Liebe und Haß, Angst, so getrieben seiend, so wenig gestaltend. Zum Ausdruck kommt das Leiden, diese Trostlosigkeit, die Nacktheit des Lebens, das Geworfen sein, das innere Antrotzen, bestehen müssen, wollen, so ein unintellektueller Alltagszynismus oder Überlebenssarkasmus, trotz alledem, scheiß drauf, manchmal mit Worten gesagt, manchmal nur als Unterton der Stimme, mit Alkohol etwas flüssiger, phrasiert. Vom leben abgeschliffen, ohne alle Feinheiten, direkt darauflos, passend oder nicht, sofort bereit, haßlaut herauszubrechen (Karin), für Momente nur, Zusammenbruch, den Tränen nah. Alle unsere bürgerlichen Beziehungskrisen, hier verdichtet situativ. Alle unsere bürgerlichen Dramen und Probleme, hier verdichtet auf halbe Tage, Stunden, bisweilen Minuten. Ständige Relativität alles gesagten (Heiner), um nur keinen Anschluß zu verpassen, und wenn doch, drauf geschissen. Auf der anderen Seite, die ständige Latenz der Dinge: Weil Alltag, alltäglich präsent. Damit will ich sagen, der Zeitfluß, den wir kennen, ist hier zerstört. Er ist in zwei Richtungen aufgehoben: In eine unglaubliche Verdichtung (jedenfalls von meinem Standpunkt aus), zum anderen: Auf Ewigkeit gestellt (ebenfalls von meinem Standpunkt aus). Will sagen: Wieviel halte ich aus, weil ich weiß, es gibt noch das andere: Tausende Beispiele: Etwa Georgs Marathon. Wie nun, wenn ich weiß, dieses andere gibt es für mich nicht. Diese Kälte, Bedrohung, ständige Unsicherheit, Schmerzen auf Dauer gestellt, egal was ich tu, egal, wohin ich geh? Von daher: Verdichten müssen, um den Preis des eigenen Untergangs, weil es existenziell ist.Pläne pläne, ich schaffe mir meine eigene Welt, meinen Mikrokosmos darin, Beziehungs- Erfahrungsgeflecht für den Augenblick, Pläne für den Tag, bis übermorgen. Pläne für die ganze Welt, Pläne für den Kosmos unglaublich, neu erschaffend, aus diesem Stoff ist das Leben, schöpfe ich Leben.

Woher haben die noch Gefühl für den Tag, für das Jahr. Peilung durch die Bedeutungen der BZ, im im Mülleimer gefunden, in einer der nüchternen Minuten gelesen, in einer der nüchternen Ewigkeiten.

Ich weiß es genau: Die nächste Flasche Schnaps, sie wird mich erlösen, der nächste Fick, er wird mich erlösen, das nächste große Fressen, es wird mich erlösen, ich weiß es genau, es wird mich erlösen, der Tod ist ein meister aus Deutschland... Ich weiß es genau und weiß doch genau, es wird nicht so sein, wird niemals so sein, es wird doch wieder so sein.... Wenn ich dann morgens aufstehe und mir drönt der Schädel, trotzdem, diesmal wird es so sein, diesmal wird der Suff mich erlösen, der Fick mich erlösen, ich seh das nicht eng, der Tod ist ein meister aus Deutschland...Ich steck in der scheiße ich zieh mich da raus, grab weiter und weiter hinein in die scheiße, freß scheiße und scheiße, und grab mich hinein, komm tiefer und tiefer, und irgendwo ist Erlösung, ist tiefeste Ruhe ist tiefester Frieden

Ich schreib jetzt einfach so, will mich gar nicht groß kontrollieren, achten nicht mehr auf die Perspektive, die uns ich, wieso mich abgrenzen, wieso wieso,

ich esse Beton, ich stehe im Dreck, ich fresse scheiße ich will doch nur leben ich will doch nur leben, laßt mich in Ruhe, leckt mich doch alle, leckt mich leckt mich, ihr könnt mich alle mal.

Die ganze Welt ist nur noch im Suff zu ertragen, ich bin nur noch im Suff zu ertragen, ich saufe und saufe: ICH WILL MICH ERTRAGEN, will mich tragen, wieweit trag ich mich noch, wie weit trägt die Last der Welt, was trägt, wer trägt, wohin, wozu. Kann ich mich ertragen?

Was ich mich gefragt hab, aber mich nicht zu fragen traute: Warum habt ihr nicht längst schon einen Strick genommen und Euch ein Ende gesetzt? Warum eigentlich nicht: Warum haltet ihr das Tag für Tag immer wieder aus? Warum? Warum? Warum? Von den ganzen Leuten ist Haschi der wahrhaft intellektuelle. Das ist kaum zu glauben, aber was der alles draufhat und weiß, das ist einfach unglaublich. Woher hat der das alles? Nürnberger Trichter, Prager Fenstersturz, Wittemberg, Ketzer usw. Wo Karin sich müht, und sie Schwierigkeiten bei dem Wort "psychisch" hat, solche Begriffe knallt Haschi (Robert) runter wie nichts, und noch viel mehr.Alles klar, noch Fragen?Alles in Butter, oder was.

Ich bin ziemlich fertig. Soll ich jetzt etwa noch schön brav alles protokollieren, was ich erlebt, erfahren habe, schön der Reihe nach. Mensch Leute, das geht aber echt an die Substanz.

Aber ich will es versuchen.

Was ist passiert: Ich steige, wie immer Turmstraße aus und gehe sehr zielstrebig auf den Platz vor der Markthalle zu, wo sich die Gruppe immer trifft. Dazu ist zu sagen, erstens meine vorherigen Erfahrungen waren nicht so sonderlich gut, ich habe dann mich erstmal entschlossen, eine Pause zu machen..., mich nicht unter Druck zu setzten. Heute allerdings hatte ich wieder vor, hinzugehen, denn von nichts kommt nichts.

Zweitens hatte ich heute , als ich hier im Büro saß, ein ziemlich gutes Gefühl, so eine Art professionelles Gefühl: Naja, das ist mein Job, und dann mache ich das halt, so wie ich dann auch hier im Büro ganz souverän das gemacht hab, was ich habe machen wollen (soweit ich dazu gekommen bin, aber wenn der Kopierer besetzt ist, was soll ich machen...)

Dort hab ich Haschi getroffen. Er hat mich gefragt, ob ich ihm ein Bier spendiere. Das hab ich dann auch gemacht, und wir kamen ins quatschen. Später fragt er mich, ob ich denn in den W.O. mit ihm gehen wolle. Ich sagte ja und...

Scheiße, 19:00, ich hab jetzt die Schnauze voll, ein wenig einen bedrönten Kopf, hab keine Lust mehr, werde jetzt hier Schluß machen, nach Hause gehen, versuchen, dort weiterzuschreiben.... (Wobei ich weiß, das das schon fast der Absturz dieses Protokolls ist. Oder soll ich mich hier noch weiter quälen... Ich weiß, daß ein Teil des Dings auch in der Schwierigkeit liegt, daß das so schwer zu fassen ist, was da passiert ist...

Es sind im Wesentlichen vier Teile:
1) Haschi
2)Heiner
3)Heiner/Karin
4) Karin

okay, lets go!

Fortsetzung der Protokollnotiz 13.11.1990, 11:00

1) Ich komme, Haschi fragt, gibst du einen aus. Entsprechend meiner Überlegungen sage ich ja, gehe in die Markthalle, hole eine Dose Bier, eine Dose Selters, wir stoßen miteinander an, unterhalten uns. Er fragt, was liegt an? Ich sage, daß ich mal wieder hierherkommen wollte, mal sehen, ob mir vielleicht jemand ein Interview geben wollte. Kenn ich, sagt Haschi, da kommen alle halbe Jahre Leute...

Es ist unglaublich, wieviel Realitätssinn Haschi in bestimmten Situationen zeigt, und dann ist der anderen voraus. Allerdings fing er danach wieder mit seinen Assoziationen an.

Sein Sprachgebrauch unterscheidet ihn von anderen. Seine Worte verraten Bildung, Ich rede heute wieder mit Haschi, weil außer Alfred (?) den ich noch von früheren Zeiten kenne, keiner da ist, den ich kenne. Komischerweise bin ich gar nicht mal enttäuscht. Nur als ich dann so mit Haschi quatsche, und die anderen sich auch langsam entfernen, wird mir das ein bißchen zu einseitig und ich blicke umher, ob nicht andere Leute kommen. Auch Haschi macht das, daß er sich über das Gespräch hinaus immer mit Blicken in der Gegend orientiert, was Sache ist. Haschi ist heute ziemlich nüchtern, es kommt ein flüssiges Gespräch zustande, ich fühle mich nicht in der Lage, das hier wiederzugeben, an stellen, wo mir etwas dazu einfällt, spreche ich auch von mir, oder sage meine eigene Meinung. Es ist fast ein freundschaftliches Gespräch, also, es kommt darin eine Art Vertrauensebene zustande, vielleicht liegt es auch daran, daß Haschi ziemlich nüchtern ist, wir unterhalten uns bestimmt eine Dreiviertelstunde, und er trinkt dabei nicht mehr als das eine Bier - ich glaube mich erinnern zu können, ihn im selben Zeitraum auch wesentlich mehr trinken sehen.

Vielleicht gibt es sowas ja (was die distanzierte Sicht des Nichtalkoholikers nicht zeigt): Daß es bei Leuten, die regelmäßig viel Bier trinken, es durchaus differenzierte Unterscheidungen gibt wie: Heute wenig getrunken, quasi das übliche, versus heute mal wieder ganz schön gebechert.

Wenn ich mich recht erinnere, hat sich Henri einmal in diesem Sinne geäußert.

Als ich mit Haschi da stehe, kommt ALFRED BÄCKER vorbei... Den gibt es also auch noch. Sie grüßen sich, als Alfred schon fast vorbei ist.

Schließlich fragt Haschi mich, was ist, gehen wir in Warmen Otto?. Ich überlege, ob ich in seinem Zustand mit ihm guten Gewissens in den W.O. gehen kann! Ich bin mir nicht völlig sicher, denke aber, tendenziell ja, denke noch dazu, daß muß ich jetzt darauf ankommen lassen, und sage: Ja, können wir machen.

Im W.O. sehe ich einige, die ich vom sehen kenne, u.a. Georg. Bei Georg habe ich das Gefühl, er beäugt mich kritisch. Es ist einigermaßen voll, wir sind zuerst im Gang, nehmen uns Brühe, Haschi besorgt sich aus der Küche noch ein Brot mit Kochschinken, er setzt sich im hinteren Raum auf den beheizten Ofen, ich lehne mich, neben ihm, auf das Kommodenschränkchen, wir reden über den Nürnberger Trichter, den Prager Fenstersturz, die Ketzer zu Wittenberg usw.

Hans (Soz.Arb.) kommt kurz hinzu, guckt nur verständnislos, drückt aus: Na, was der Haschi hier wieder mal für einen Mist erzählt...

Raff Oma war auch da, später, als ich noch mit Haschi da stand, sah ich Karin mit ihr an einem Tisch sitzen.

Heiner sitzt direkt nebenan an der Kopfseite des Tisches, in einem dicken Pelzmantel, mit einer dicken Pelzmütze, vor sich eine Tasse Brühe, eine Käsestulle.

Auf ihn aufmerksam werde ich, als er lauter spricht, die Pelzmütze abnimmt, seinen kahlgeschorenen Kopf zeigt - absolut ungewohnter Anblick für mich. Auffällig auch seine Brille, Nickelbrille, Kastengestell. Ich glaube, ich kenne ihn gar nicht mit Brille. Mit scheinen die Bügel ein wenig zu kurz zu sein. Als dann später ein Platz neben ihm frei wird, setze ich mich, und frage ihn, was denn mit seinen Haaren ist.

Er erzählt (die rührselige Geschichte), daß er kürzlich Sozialhilfe erhalten hätte, und dann habe er in der Birkenstraße zwei Leute ... (ich mußte nochmal nachfragen, er benutzte einen Ausdruck, an den ich mich nicht mehr erinnere, sinngemäß: Abgefüllt), dann kam es zu einem Streit und sie hätten ihm die Haare auf der einen Seite abgerissen (?)/(abgeschnitten?). Und weil er dann wieder zum Sozialamt mußte, habe er sich gedacht, so könne er nicht hingehen, und dann hätte er sich den Kopf scheren lassen - Karin (?) hätte gesagt, schade um die schönen Locken - aber sie wachsen ja wieder nach...

Er hätte dann festgestellt, daß ihn der Kopf friert. Er sei dann zu Herti gegangen und wollte dort eine Perücke klauen, mußte dann aber feststellen, daß es dort keine Perücken gab... Dann sei er in die Hüteabteilung gegangen und hätte diese Pelzmütze geklaut. Er machte den Eindruck, als sei er ganz stolz auf diese Pelzmütze.

Da schaltet sich der Tischnachbar mir gegenüber in das Gespräch ein. Er hat schwarzes, pomadiertes hochgekämmtes Haar, saß am Tisch, Zigarillo rauchend, BZ lesend in Jackett, Oberhemd, mit Schlips und Mantel da, fast schon vornehm aussehend - naja, ein wenig das Elend und den Mief der anderen karikierend, fast nach dem Motte, hier im Otto ist die ganze Szene skurriler Typen beieinander - er paßt irgendwie nicht dazu - und irgendwie doch. Wie läßt sich ein solcher, bei mir auch emotional wirkender Eindruck, an den ich mich ganz genau erinnere, angemessen protokollieren???Er wirft ein, halb zu mir, halb zu Heiner gewandt, etwa sinngemäß, Heiner solle mal nicht so angeben und sich so wichtig tun. Er hätte die Mütze auch vom Sozialamt bekommen können...

Es gibt einen kurzen, von beiden sehr heftig geführten Disput darüber.

Heiner sagt:Was wisse er den schon darüber. Das das mit dem Sozialamt eben nicht so einfach geht. Was er denn schon vom Leben wisse...

Der andere. Eine Ganze Menge, und das man eben nicht klauen müßte usw.

Er vertrat die Position des Anstands und der Moral.

Heiner sagt, er sei Moabiter, bei einem Pfarrer (Baumann) sei er eingesegnet worden, er sei ein christlicher Mensch, immer hier in Moabit gewesen, weil das ja auch eine christliche Einrichtung sei, diese Wärmestube (den Salmon kenne ich ja nun schon von damals von ihm). Er sei auch ein wenig betrunken, er würde sich ja auch zusammennehmen, und der Hans, der meine es ja auch nicht so, aber vor den anderen, da müsse er es ja auch schon sagen (Hans kam während ich mit Heiner da saß, er die Stulle langsam aß und wir uns unterhielten, mehrfach an und sagte, nun eß mal die Stulle auf und gehe, deswegen, denke ich, Heiners Rechtfertigung). Er erzählte dann auch die Geschichte, wo er im Knast saß und kein Geld mehr hatte und der Gemeinde einen Brief schickte, und sie hätten ihm einen Tag vor Ostern einen Brief geschickt, und er zählt wieder auf... 2 Päckchen Tabak ... usw.

Er sagt, dann wäre zwar ein Tag später sein Geld gekommen, aber das hätte er nicht wissen können, und sie hätten damals hier im Warmen Otto Geld gesammelt für das Päckchen, und die Leute hier, die alle auch nichts haben, hätten dann das Geld zusammengebracht...

Dann wieder ein kurzer Disput zwischen Hans und Heiner bezüglich Heiners Mantels. Es ging anscheinend darum, daß Heiner den Mantel vom W.O. erhalten hatte, daß Hans ihm aber offenbar unterstellt hatte, er würde den Mantel "wieder" einfach nur "verscheuern" wollen. Heiner argumentierte mit dem Faktischen: Daß ja zu sehen sei, daß er den Mantel noch anhabe...

(ich hatte da damals Winter 88/89 auch so eine innere emotionale Auseinandersetzung mit diesem einen Typen (der mir bis heute noch wegen dieser Sache in Erinnerung ist) und dieser braunen Lederjacke.

Ich verbinde mit einer solchen braunen tollen Lederjacke ein bestimmtes System an Bedeutungen, die aber in einen ganz anderen Verhältnis stehen als zu dem praktischen Nutzen und den Bedeutungen, die die Leute damit verbinden: Der rapide "Verschleiß" all dieser "schönen Sachen" - die könnten ja vielleicht wirklich etwas besser auf all die schönen Sachen achtgeben...

Aber das ist eine andere Geschichte...

Schließlich kommt Karin an. Sie "herzt" stehend den am Tisch sitzenden, ohnehin kleinen Heiner, erwischt dabei mehr Mütze als Kopf, die Mütze muß Heiner wieder zurechtrücken, sie nimmt dann entschlossen ein Ei aus ihrer Papiertüte, sagt (sinngemäß), sie wolle jetzt dem Heiner mal was gutes tun, schlägt das Ei auf und tut das rohe Ei in Heiners, noch mit Brühe gefüllter Tasse, dabei gerät etwas auf den Unterteller, sie nimmt Teller und Unterteller hoch und schüttet den Rest von der Untertasse in die Tasse. Heiner: "Ich danke dir schön meine liebe", holt vom Tisch nebenan einen Plastiklöffel, verrührt das rohe Ei mit der Brühe, wird das Gebräu dann später langsam trinken...

Heiner fragt mich, ob ich ihm nicht eine drehen könne? Ich krame aus meinem Mantel meine Packung Polnischer Zigarette, lasse, welche herausrutschen, lege die Packung ihm anbietend auf den Tisch. Er bedankt sich, findet das wohl nett, daß ich ihm eine Fertige anbiete.

Auf die Wiederholte anmache von Hans erwidert Heiner immer wieder, daß es die Stulle noch aufessen wolle, das Essen dürfe man nicht verkommen lasse, er müßte sonst das Essen wegschmeißen, und das wolle er nicht. Er betont, daß es weiß, was Hungern ist, und er hätte in seinem Leben schon viel Kohldampf geschoben.

Schließlich, als Heiner dann am Ende mit der Stulle und der Brühe ist, erhebt er sich, will gehen, wird von (?) noch angemacht, ob er denn nicht seine Tasse wegräumen wolle, das macht er dann auch, von meinem linken Tischnachbarn (ein Stammgast im W.O.) höre ich dann noch abfällige Bemerkungen über Heiner, wie man den nur so dumm sein könne? Könne man schon, wir hätten ja ein Beispiel hier eben gesehen... usw.) Da ich ja nicht unbedingt den weiteren Tag in der Wärmestube verbringen wollte, stehe ich auf, um Heiner nach draußen zu folgen, überhaupt um zu sehen, was draußen los ist...Ich sehe im noch im vorderen Aufenthaltsraum, er macht Sperenzchen, d.h. er will den Raum nicht verlassen, ich lade ihn ein, mit mir eine zu rauchen, aber draußen, Hans, der dabeisteht, stimmt den zu, sagt nachdrücklich, aber dann draußen, sagte mir er sei ein wenig genervt, weil gerade in der Situation vorher noch mehrere schwierige Sachen gewesen sein, wir stehen draußen, Heiner und ich rauchen, Heiner sagt, er warte noch auf Karin, geht nochmal kurz rein, ruft nach Karin, läßt die Tür offen stehen, andere Besucher fühlen sich durch die offene Tür gestört, machen die Tür etwas entnervt wieder zu (es zieht!), Heiner spricht draußen mit mir positiv über Karin, daß sie in Ordnung sei, daß er bei ihr auch pennen konnte, da sei aber weiter nichts gewesen, nur auf die kumpelhafte, nichts mit ihr sonst (ficken usw.).

Dann kommt Karin und noch einer, ein sehr ordentlich gekleideter mittelalter Mann mit Schnurrbart, Jeans, der später auch kaum etwas sagt, immer nur so ansatzweise, um positive Stimmung, sich verständnisvoll einzubringen bemüht, ein überkronter Schneidezahn, er wird später ziemlich frieren, wie ich auch.

Ich bin nicht so sicher, als die drei draußen sind und in Richtung Markthalle sich bewegen, ob das okay ist, mitzugehen. Karin schaut mich an, bedeutet mir mit einem Augenzwinkern (?) und/oder einer Kopfbewegung, ich solle mitkommen.

(Ich kann gar nicht beschreiben, welch ein positives Gefühl das bei mir auslöste...

Ich habe das Gefühl, auf einer informellen Ebene - ich in integriert, ich bin akzeptiert, aufgenommen, einbezogen ... alles klar, jetzt geht es los, jetzt öffnen sich mir Perspektiven, Innenansichten usw. Mensch, super, glorreich, toll...

13.12.1990, 24:00

Bin mit meinem Protokoll immer noch nicht zu Potte gekommen. Verdammt woran liegt das nur? Ich setze mich also nochmal ran und versuche zu Potte zu kommen.

Heiner, Karin, der andere Mann und ich gehen in lockerer Formation Richtung Markthalle. Ich laufe mit Heiner Karin und dem Mann hinterher. Als wir die Bremer überqueren (auf der Seite des W.O.), sehen wir gegenüber zwei Leute, die mir vom sehen her bekannt vorkommen. Einer der beiden sieht uns (oder sieht Heiner), kommt zu uns herüber, bleibt aber auf der Straße stehen. Ein Junger, großer Mann mit langen (längeren) braunen Haaren, einem Schnurrbart. Später erfahre ich, daß das offenbar Kohlen-Uwe gewesen ist (vgl. vorherige Protokolle). Er kommt herüber, spricht Heiner an, das er noch etwas mit ihm zu bereden hätte. Heiner will zu ihm rüber gehen, Karin versucht ihn davon abzuhalten, Heiner geht aber doch. Karin, der Mann und ich gehen weiter, wir bleiben vor der Markthalle stehen.

Als ich dann mit

Kohlen - Uwe,

Platte streitig machen, Krätze am Arsch, wo sind die 10,--, Taschen durchsuchen, Erklärungsmodell haben, Karin Tochter 8 Jahre, Karin bis 21 im Heim, Vater verpisst, wieder aufgetaucht, besoffen, Karins Krankheiten, epileptische Anfälle, Hohlkreuz, Schilddrüse, Unterleib,

Bh mit 13 - Schock, gut in der Schule, aber frech,
Heiner: du weißt ja gar nicht was das ist, Karin: du Buch, kannste schreiben, Tagebuch, Mutter hat verbrannt, Reporter, Lebensgeschichte, kannste drucken,
Angst vor Kohlen Uwe, Platte in Gefahr, Sohn aus Knast- der wird den verprügeln, sonst hab ich vor keinem Angst
Heiner- du Schwuli, zurücknehmen,
Haschi kommt vorbei mit Tüte, Weinflaschen drin usw.
Platte schön eingerichtet auf Bahnhofsgelände usw,
Stichwort: Körperlichkeit...

Protokollnotiz 18 von Sonntag, dem 18.11.1990, 16:00 - 18:00

Ich weiß nicht genau, woran es liegt, wenn ich es seit meinem letzten Feldbesuch am Montag nicht geschafft habe, wieder ins Feld zu gehen. Ich vermute, daß hat mehrere Gründe: Zum einen hast mich mein letzter Feldbesuch sehr mitgenommen, ich habe noch am Mittwoch dazu Protokoll geschrieben. Zum anderen war ich noch so in den Diskussionen am Institut verstrickt, und auch das muß ja erstmal verarbeitet werden. Und gewisse Ängste habe ich immer noch, außer dem hat mich gestern Abend auf Dirks Fete Hatley ganz schön ins Schleudern gebracht. Jedenfalls beschloß ich, daß ich da heute wieder hinmuß. Ich bin also mit der U-Bahn hochgefahren, und als ich Berliner Str. in die Linie 9 umsteige, sehe ich im Waggon Spinne. Es ist einer der modernen Wagen, und Spinne hängt auf einem der Sitzbänke, so viel Platz einnehmend, daß sich kaum noch ein anderer traut, sich neben Spinne zu setzen. Da ich eh' keine festen Pläne hatte, beschließe ich, erstmal "mit Spinne mitzufahren", einfach um einmal zu studieren, was weiter mit Spinne passiert.

So richtig Anstoß nimmt niemand an Spinne, allerdings ist die U-Bahn auch nicht sonderlich voll um diese Zeit. Leopoldplatz steigen junge Ausländer ein, die sich offenbar über Spinne unterhalten, sie steigen aber nächste Station schon wieder aus.

Dann ist Endstation. Wie üblich werden alle Fahrgäste aufgefordert, die U-Bahn zu verlassen. Dann geht einer der BVG-Bediensteten wie üblich nocheinmal den ganzen Zug ab, um wirklich zu kontrollieren, ob alle raus sind. Auch der Fahrer des Zuges (wir waren im ersten Waggon) öffnete die Tür zum Waggon hin um so auszusteigen (?), er hätte Spinne eigentlich sehen müssen, wenn er darauf geachtet hätte. Doch die anderen Fahrgäste sind längst ausgestiegen, die BVG-Leute entdecken Spinne nicht, und so fährt Spinne mit dem Zug weiter. Ob der Zug dann an der Endstation lange im Verschiebebereich bleibt, oder ob Spinne mit seinem Zug gleich wieder die Rückfahrt Richtung Rathaus Steglitz antreten wird, kann ich nicht sagen.l

Jedenfalls schaute ich mich bei der Gelegenheit gleich noch ein wenig auf dem U-Bahnhof Osloer Str. um:

Der ganze Bahnhof Osloer Straße scheint mir ein einziger Verschiebebahnhof für Penner und andere (zwielichtige) Subjekte zu sein. So nach dem Motto, wenn es draußen ungemütlich wird, dann fahren wir eben U-Bahn. Auf dem Bahnsteig traf ich dann noch zwei, die auf den halbkreisförmig in die Wand eingelassenen Sitzen schliefen, auch eine Etage höher im U-Bahnbereich hielten sich Leute auf, die wohl nichts rechtes mit sich anzufangen wußten. Ich wollte ein Photo machen vom im Zug schlafenden Spinne, ich hab mich aber angesichts der vielen Leute nicht getraut. Das ist komisch, bei fast allen Sachen, die "man" nicht tut, hab ich Hemmungen, es sei denn, ich bin besonders gut drauf. Woher kommt das nur: Nur nicht auffallen, nichts außergewöhnliches tun, irgendsoein perverses, unhinterfragtes Bedürfnis, im Vollzug angeeigneter Bedeutungen und vor allem Konventionen meinen Schutz zu suchen, quasi die Maske, hinter der ich mich verstecke! Aber war das nicht typisch für meine Gesamte bisherige Sozialisation: Was ICH WIRKLICH will, war doch nie der Gegenstand, ich selbst habe das doch immer relativiert an dem, was ich dachte, was mein Handlungsrahmen ist (Bedeutungen!), was "man" von mir erwartet. Scheiße, scheiße, scheiße!

Protokollnotiz 19 von Dienstag, dem 20.11..1990, 15:45 - 16:15

Ich hatte geplant, mich mal wieder um Feld sehen zu lassen. Die ganzen letzten Tage waren regnerisch, kalt. Unter solchen Bedingungen hatte ich keine große Lust, mich groß auf den Straßen herumzutreiben. Beim vorletzten Mal hatte ich tierisch gefroren. Irgendwie habe ich auch noch immer Vorbehalte, mich einfach so in den W.O. zu begeben. Ich weiß noch immer nicht so genau, woran das liegt: Vielleicht, weil ich mich da (obwohl es kaum rationale Gründe dafür gibt) zu sehr von den Pädagogen beobachtet fühle und mir nicht so sonderlich wohl dabei ist.

Als Haschi mir beim vorletzten Mal von sich aus vorschlug, in den W.O. zu gehen, das fand ich sehr gut, weil da meine Legitimation über einen Besucher definiert war. Es ist ein interessanter Hinweis auf meine momentane psychische Verfassung, wenn ich nicht zu dem, was ich eigentlich meine, was ich tun soll, stehen kann. Wenn die Blockade, wie nehmen mich die anderen wahr, so stark ist, das mich das im Vollzug meiner Handlungen blockiert. Woher kommt diese Unsicherheit bezüglich meines Tuns, was ist der tiefere Grund dafür?

Natürlich (?) war bei dem Wetter keiner auf dem Platz vor der Markthalle. Im Eingangsbereich sah ich den Langen mit der Kastenbrille stehen im Gespräch mit einem mir unbekannten verwickelt. Da ich eh' dem Langen gegenüber ein unsicheres Gefühl habe, bin ich dann gar nicht erst angehalten, sondern gleich weitergegangen, Richtung W.O. . Meine Unschlüssigkeit dabei, in den W.O. zu gehen, habe ich schon weiter oben beschrieben. Ich ging also nur daran vorbei, nicht ohne einen Blick hineinzuwerfen, aber eigentlich schon entschlossen, da nicht hineinzugehen. Entgegen meinen Erwartungen war es, entsprechend diesem Wetter eigentlich fast leer, d.h. ich hätte bequem Platz gehabt. Im Büro sah ich durch das Fenster zwei oder sogar drei der Soz.Arb. um den Schreibtisch hocken. Ich ging weiter auf der Suche nach der Kiezküche, die in der Waldenserstr. 2 - 4 sein sollte (Fernsehbericht vom Vortag), fand diese aber nicht. Dann fiel mir ein, daß heute ja der Vortrag von der Frau Nowotny im WZB sein sollte, und ich war doch erleichtert, daß ich nun etwas konkretes vorhatte.

In der U-Bahn sah ich dann noch Haschi sitzen. Klar dachte ich, wenn es regnet, verziehen die Leute sich auch auf Plätze, wo es sich angenehmer aushalten läßt. Ob Karin beispielsweise jetzt auf ihrer Platte ist? Und auf der anderen Seite jetzt gleich die Frage, ja, werde ich die Leute dann auch noch finden, wenn es kalt wird und sich alle in ihre Ecken und Nischen verziehen?

Protokollnotiz 20 von Samstag, dem 23.11.1990, etwa 21:00

Will nach Hause fahren. Sehe U-Bahnhof Spichernstraße die Frau, die mich vor einigen Wochen mal in der Markthalle begrüßt hat (Kennen wir uns nicht von irgendwoher?) mit zwei Männern sitzen. Ich habe sie zwischenzeitlich schon öfter gesehen. Ich setze mich auf die selbe Bank, allerdings auf der anderen Seite. Sie unterhalten sich, es geht darum, daß der eine Mann etwas für sie erledigen soll, daß er das auch machen will, es geht auch um ihre Beziehung (Nee, ich bin nicht Deine Frau!), dann kommen sie auf den Kyffhäuser zu sprechen, die beiden Männer zitieren ein offenbar allgemein bekanntes Gedicht (Schulwissen ihrer Generation?): "Als Kaiser Rotbart lobesam...", es geht um den Nachweis von "Bescheidwissen", so mein Eindruck.

Einer fragt mich nach Zigaretten, ich gebe ihm drei (für seine Kollegen auch eine), er bietet mir dafür einen Schluck aus meiner Vodka-Pulle an, den ich auch annehme (nippe bloß). Dafür wird er dann von den Kollegen angemacht: Daß er nicht jedem etwas aus der Flasche anbieten könne. Die Auseinandersetzung darüber verläuft aber nicht, wie ich es nach meinen Erfahrungen erwartet hätte, heftig ab, sondern eher ruhig.

Kurz darauf setzt sich eine junge Frau neben mich auf die Bank. Der eine, der mir die Vodka-Flasche gegeben hatte, dreht sich zu ihr um und fragt, ob sie Feuer habe. Sie hat kein Feuer, es ergibt sich eine kurze Unterhaltung zwischen uns dreien, es stellt sich heraus, daß der Mann tatsächlich selbst Feuer hat und und ich sage, daß es ihm nur darum gegangen sei, die Frau anzumachen. Das bestreitet es auch gar nicht.

Protokollnotiz 21 von Mittwoch, dem 27.11.1990, 13:00

Sehe gegen 13:00 U-Bahnhof Bayerischer Platz Spinne auf einer Parkbank lang liegen und schlafen.

Protokollnotiz 22 von Donnerstag, dem 28.11.191990,11.47 Uhr 12:00 - 15:30

Ich bin soo müde. Ich glaube, die arbeitsorganisatorische Fragen, mich jeden Morgen mit Ulla zu treffen und mit einer Art Ritual den Arbeitstag zu beginnen, könnte klappen und ganz gut werden. Die andere Frage ist die nach meinem Verhältnis zum Feld. Ich fühle mich nicht wohl dabei, ich fühle mich nicht wohl bei der Vorstellung, jetzt ins Feld gehen zu müssen. Und ich muß nicht. Frei in meiner Arbeitsorganisation könnte ich das mal wieder auf morgen, auf den Sankt-Nimmerleinstag verschieben. Der Vorwand wäre, daß ich soo müde bin. Aber das ist nur ein Vorwand und ich weiß es. Das ist ja sonst auch kein Hinderungsgrund für mich, etwas zu tun. So geht es nicht weiter. Ich gehe jetzt los und mache einen auf cool down. Und wenn es dann wieder einen Vorwand gibt, mich möglichst schnell aus dem Feld zu verpissen, ist das immerhin besser als gar nicht dagewesen zu sein.

Okay, mein erstes 10 Finger-Langzeitprotokoll. Ich hatte ja, s. o. erhebliche Bedenken, wieder ins Feld zu gehen. Und im Nachhinein stellt sich dann meistens heraus, es war unheimlich gut. Ich fühle mich jetzt absolut leer, und da ist nichts, was noch über ist, nichts, womit sich die Leere anfüllen könnte, wo mein Kopf doch sonst immer so voller Gedanken ist, die förmlich aus mir heraussprudeln, heute ist da nichts, und in diesem Zustand muß und will ich jetzt auch noch ein Protokoll aus mir herausziehen. Es ist komisch, beim letzten großen Ding feldmäßig hatte ich das Gefühl, mordsmäßig Gefühle, die Bedeutungen engen mich ein, heute war es auch sehr gut, glaube, zu einigen Leuten meinen Kontakt verbessert zu haben, zu anderen neuen Kontakt hergestellt zu haben, diesmal sogar in anderer Qualität, daß die Leute von sich aus Angebote gemacht haben, mit mir auch zukünftig in Kontakt aufrechtzuerhalten. Besser kann das doch gar nicht laufen, nun kommt es darauf an, inwieweit ich am Drücker bleibe und das Beste daraus mache.

Diese Verabredung mit Dieter, der mir morgen sein Gedicht bringen will, und mit dem ich mich auf seine Frage hin für morgen zwischen 11:00 und 12:00 vor der Markthalle verabredet habe, um dann irgendwo eine Tasse Kaffee zu trinken, wo ich dann einen Notizblock und alles was ich brauche mitbringen kann, ist für mich unheimlich wichtig.

Ebenso Boddys Einladung an mich, am Montag mit ihm zum Sozialamt zu gehen wegen seinem Weihnachtsgeld, damit ich einmal sehe, was da so los ist. (Darauf muß ich später noch eingehen)

Wichtig insofern, als daß ich jetzt das erste Mal ein soziales, verpflichtendes Motiv habe, da wieder hinzugehen und mich mit den Leuten zu treffen, weil uns etwas gemeinsames verbindet. Ich glaube, es war ein Teil meiner Angst, bisher dorthinzugehen, weil es dieses verbindende Motiv nicht gab und ich immer neu anlaufen mußte. Dieses, immer einen neuen Anlauf zu nehmen, ist mir ganz schön auf den Sack und an die Nieren gegangen.

Ich hatte zwar schon einmal eine Einladung von Heinz gehabt, aber ich Idiot war so dumm und habe die Sache verbockt, d.h. verschlafen. Scheiße, das hätte ich schon alles früher haben können. Heinz selbst ist auch so ein Fall für sich und hätte mich mit meinen Kontakten sicherlich in andere Richtungen geführt, aber das wird ja nicht schlecht und Unkraut vergeht nicht. Wegen eines möglichen Kontaktes zu Heinz glaube ich, muß ich mir keinerlei Sorgen machen. Der Kontakt zu Heinz scheint mir pflegeleicht zu sein.

Eine andere Frage mit hoher Brisanz scheint mir die nach dem Alkohol zu sein, und zwar im Zusammenhang mit meinem forschungspraktischen Vorgehen. Das zerfällt eigentlich in zwei Fragen, die eine nach meinem spendieren von Alkohol, die andere nach meinem Trinken von Alkohol. Beides hängt natürlich zusammen, und damit verbunden auch noch die Frage meiner Glaubwürdigkeit gegenüber mir selbst. Was passiert mit mir, wo ich mich doch aus guten Gründen für konsequentes Nichttrinken entschieden habe, wenn ich nun doch aus diesmal wissenschaftlichen Gründen mit dem Saufen anfange? Aber war meine Sauferei vordem nicht auch aus wissenschaftlichen Gründen? Die Frage ist, inwieweit ich in der Lage bin, meine Subjektivität unter diesen Umständen zu behaupten, aus taktischen, forschungstaktischen Überlegungen den Schein des mittrinkens herzustellen, ohne mich aber im eigentlichen Sinne am Trinken zu beteiligen, quasi dieses "mich den ganzen Tag an einer Flasche Bier festhalten". Die Frage ist, mache ich das gerne? Ich sage nein, ich trinke in diesen Situationen nicht gerne, versuche mich immer und wenig standhaft dagegen zu wehren, schließlich überwiegt in mir das Motiv, ich würde mein Ziel, dort als Forscher und Mensch schneller integriert zu sein, so effektiver erreichen und ich mache dann und deshalb dieses (Gruppen-)Ritual mit.'

Ich bin ja auch in der Hinsicht des Bier-ausgebens und Zigarette ausgebens bzw. eine drehen lassen nicht so zimperlich. Die Leute machen das untereinander, ich finde das okay, auch mir wird Bier angeboten, was ich bisher dankend abgelehnt habe, aber um dazuzugehören, da mitmachen zu können, war es mir bisher selbstverständlich, anderen auch etwas vom Tabak anzubieten, ich halte das für eine bedeutsame Qualität im sozialen Umgang miteinander, eine Konvention, die ich bei Leuten, gegen die ich nichts habe, gerne einzuhalten bereit bin. Das habe ich, seit ich rauche, auch immer so gehalten. Ähnlich mit Alkohol, zu den sozialen Biertrinkerzeiten war der Suff, der in der Küche oder im KSJ-Büro oder im Club war, immer für alle da, und ähnliches habe ich von anderen auch erwartet, daß sie für mich Bier dahaben, oder auch im "Notfall", wenn es denn in eine Kneipe auf ein Bier gehen sollte und ich kein Geld habe, mir das wohl ausgeben würden. Das war normal und das halte und hielt ich auch für normal, wieso sollte das bei der Gruppe vor der Markthalle anders sein, es ist dort nur radikaler und extremer. Insofern habe nur ich mich geändert, als daß ich nun keinen Alkohol mehr trinke.

Ich habe noch den Eindruck, daß ich das mit dem Biertrinken unter Kontrolle habe, und daß das in dem Maße, wie meine Anwesenheit in der Gruppe selbstverständlicher ist und wird, dies weniger Bedeutung haben wird. Die Leute werden einfach mitkriegen, der Typ trinkt nicht viel und nicht gerne, das ist seine Sache und auch okay so, und das macht dann weiter nichts. Aber da ist zu sehen, wie sich der Sachverhalt praktisch entwickeln läßt. Und das mit dem Bier-ausgeben hat sich so entwickelt, Haschi hat mich beständig, wenn wir uns trafen, als eigentlich erstes danach gefragt, ob ich ihm ein Bier ausgebe, ich habe das eigentlich immer abgelehnt, dann habe ich mir mal in einer Feldbegehung darüber Gedanken gemacht, in einer für mich krisenhaften Situation, und in der nachträglichen Reflexion beim Protokollschreiben habe ich das für mich nicht mehr ausgeschlossen, Leuten ein Bier zu spendieren. Der Punkt, und darauf hat mich auch Dieter hingewiesen, ist einfach der, daß ich aufpassen muß, nicht ausgenutzt zu werden. Dieter hat das für seine Situation ganz klar gesagt, er könne mir die 4,-- DM für das Sixpack auf der Stelle zurückbezahlen, "so wär das ja nicht, das ich davon abhängig bin".

Wie das geht mit dem Trinken und Essen mit denen auf der Straße, hat mir Boddy ausführlich am Beispiel der Szene um den Bahnhof Zoo und dem Ku-Damm erklärt, darauf ist später noch einzugehen.

Die Frage mit dem Alkohol ist ausführlich noch mit Bettina am besten zu klären.

Ein kurzer Überblick, was heute tatsächlich passiert ist:

Grobe, selbstgestellte Zielvorgabe war, Kontakt aufzunehmen mit den Leuten, die ich auf dem Platz vor der Markthalle antreffen würde, insofern sie mir bekannt sein würden (nur kein Risiko eingehen!), dann oder als Alternative in den Warmen Otto gehen, um zu sehen, wen ich dort finden würde. Zusätzlich hatte ich noch die entwickelten Bilder dabei, von Karin, Frank, Haschi usw. Ich hatte das Gefühl, mit Hilfe dieser Bilder es leichter zu haben, in einen Gesprächskontext zu kommen.

Haschi, Frank, Jacqueline, Boddy, Angelo, ein ausländischer Freund, später Dieter, später dieser Typ, mit weißen Turnschuhen und Trainingshose, jung, schwarzhaarig, Vollbart, mit schmalem Gesicht, der mit sagte, daß er Alkoholiker ist.

Diese Pillen, die er schluckt, jeder scheint ihren Namen zu kennen, um runterzukommen vom Alk, wo man aber keinen Alk bei trinken darf.

Ich komme zu der Gruppe, Haschi ist eigentlich, wenn er da ist, immer der erste Gesprächspartner, weil er selten in eine ernsthafte Diskussion mit anderen vertieft ist, und weil ich zu ihm einen ziemlich guten Kontakt aufgebaut habe. Er fragt mich als eine der ersten Fragen, ob ich ihm ein Bier ausgeben wolle, ich lehne das zunächst ab, weil ich das Bierausgeben nicht zur Regel, zu einem Begrüßungsritual machen will. Haschi wendet sich ab, ich begrüße die anderen, dann stehe ich rum und mir fällt ein, das ich die Bilder ja bei mir habe und ich nehme Haschi beiseite, um ihm die Bilder zu zeigen. Er schaut sie sich an, freut sich, erkennt sich, mich und die anderen wieder, er ruft nach Frank, weil der auch auf Fotos drauf ist, Frank und Jacqueline kommen zusammen, sehen sich die Fotos durch.

Mann, das ist ja wieder solch eine Menge zu schreiben, wie schaff ich das alles nur.

Protokollnotiz 23 von Freitag, dem 29.11.1990, 11:45 - 13:30

Bin nach Moabit gegangen aufgrund der Verabredung mit Dieter. Er wollte mir sein Gedicht mitbringen und stellte mir in Aussicht, vielleicht mal uns zu einer Tasse Kaffee zusammenzusetzen, und er wollte mir dann ein bißchen davon erzählen, wie es ist, obdachlos zu sein. Ich ging also recht zielstrebig Richtung Markthalle, heute ist den ganzen Tag schlechtes Wetter und so wunderte es mich nicht, daß auf dem üblichen Platz vor der Markthalle keiner war. Aber im Eingangsbereich der Markthalle stand dann eine Gruppe: Haschi, Frank, Jacqueline, Angelo, verschiedenen andere, die ich vom sehen her kenne. Ich begrüße Dieter, Frank, der mich begrüßt mit: "na, mein Kleiner!", Jacqueline mit Handschlag, die anderen durch ansehen und zunicken, soweit sie mich beachten. Dieter fragt mich, wie es mir geht. Ich sage ihm, daß es mir gut geht, irgendwie kommt kein richtiges Gespräch in Gang.

Dieser Vorbereich der Markthalle ist durch verglaste Türen zur Halle selbst und zur Straße abgegrenzt. Ständig gehen Leute hier durch in beide Richtungen, dabei sind auch häufig Mütter mit Kinderwagen, Omas mit Einkaufswagen, Leute mit Krücken usw., also Leute, für die die Türen ein echtes Hindernis sind. Dieter springt zwei oder dreimal zur Tür hin, hält sie den Leuten auf, sagt freundlich Bitteschön, sagt dann zu mir gewendet: (etwa sinngemäß) "Da sagen die Leute doch, Obdachlose hätten kein Benehmen. Dabei haben die manchmal mehr Benehmen, als die ganzen anderen zusammen, daß die sich eine Scheibe von abschneiden könnten." Wie gesagt, das macht er zwei- oder dreimal, dann läßt er es auch bleiben. Die Gruppe hier im Vorraum der Halle steht etwas am Rande, sodaß die übrigen Leute nicht übermäßig behindert werden, zeitweise nehmen sie aber schon gut die Hälfte des Durchgangs ein.

Wir stehen so rum, später dann geht Dieter in die Markthalle, und kommt eine ganze Weile lang nicht wieder. Dann fragt mich einer, ob ich nicht meine Uhr verkaufen wolle. Ich lehne dankend ab. Das verkaufen von Uhren und das Gespräch darüber schein eine bei dieser Gruppe geläufige Praxis zu sein. Allerdings habe ich bis jetzt nicht herausfinden können, in welchem Kontext dies geschieht. Ich hatte so die Vermutung im Kopf, die Leute machen einen rasend schnellen Prozeß hinein in das Elend, in dem sie für schnelles Geld alle ihre Wertsachen nach und nach verhökern. Ich muß da bei Gelegenheit mal nachfragen, weil ganz so scheint es nicht zu sein.

Nach meinen Vermutungen handelt es sich dabei um so eine Art Kredit-Roulette, also um kurzfristig an Geld zu kommen, werden Sachen an Kumpels oder bei Pfandleihern gegen bares verscheuert, und wenn derjenige, der die Uhr oder den anderen Gegenstand verliehen hat, besteht immer noch die Chance, wenn er wieder an Geld gekommen ist, das Pfand wieder einzulösen. Insofern ist es Roulette, als im Fall, wo das Geld innerhalb einer bestimmten Zeit nicht aufgetrieben werden kann, ist der Wertgegenstand eben futsch. Beim Pfandleiher beträgt dieser Zeitraum etwa drei Monate bis zu einem halben Jahr. Hier gibt es wohl das Problem, daß nicht jeder aus der Gruppe die ich kenne, einfach zum Pfandleiher gehen kann, weil offenbar ein Passport vorgelegt werden muß. Ich denke, für den Fall, daß das Pfand wieder ausgelöst werden muß, daß der Auslöser identifizierbar ist. Ich habe Heiner mehrfach erlebt, daß er sich für solche Dienste angeboten hat. An dem Tag, wo wir mit Karin zusammengesessen haben, hat er für Kohlen-Uwe etwas vertickt, und daß, obwohl er wußte, das Karin schlecht auf Kohlen-Uwe zu sprechen ist. Der Grund für ihn war, das hat er auch benannt, daß es für diesen Dienst einen Zehner für erhalten hat. Und ein Zehner ist immerhin ein Zehner. Wobei ich nicht sagen kann, welches der Gesamtwert der umgesetzten Summe ist. Das verpfänden von Wertgegenständen untereinander, so mein Eindruck, ist weniger ein Geschäft für den, der das nimmt, als eher eine Gewährleistung für das Geld, das er dem anderen leiht. Das ist angesichts der wahrscheinlich wenig verläßlichen Geldverleihaktionen so entstanden, daß einzelne derer, die (in einer bestimmten Zeit) besser bei Kasse waren, sich absichern wollten. Ich sehe das als Hinweis auf die Brüchigkeit und Widersprüchlichkeit der Beziehungen untereinander. Jemand borgt sich Geld, kann das nicht mehr zurückzahlen, traut sich nicht mehr, seinem Kreditgeber über den Weg zu laufen und verpisst sich dann für eine Weile, oder die beiden sind nicht mehr gut aufeinander zu sprechen und es kommt zu einem Konflikt zwischen den beiden vor allem dann, wenn sie betrunken sind.

Auch viele Konflikte im Warmen Otto laufen auf der Ebene. Einer hatte sich mit dem ganzen Einkaufsgeld für ALDI verdrückt und war dann für eine ganze Weile nicht gesehen.

In einer anderen Geschichte tauchte dann einer wieder mit dem Geld auf, wollte es zurückzahlen und dachte dann, das sei damit dann erledigt. Da haben denn die Soz.Arb. vom W.O. interveniert: Die ganzen Besucher des W.O. mußten für einige Wochen wegen Geldmangel auf Kaffee verzichten, und der Typ dachte, es sei alles in Ordnung, wenn er wieder mit dem Geld auftaucht. Die Soz.Arb. insistierten darauf, daß er sich vor der ganzen Mannschaft, also den Besuchern im W.O. entschuldigen sollte. Was aus der Geschichte dann im Endeffekt geworden ist, weiß ich aber nicht.

Ich wartete dann auf Dieter, weil ich (innerlich) gespannt war, was er mir denn so mitgebracht hat, und weil es nicht kam, bin ich dann nach etwa einer Viertelstunde in die Markthalle gegangen, um nach ihm zu suchen. Ich sah ihn dann auch gleich vorne links an dem Stand. Er war gerade dabei, sich ein Sixpack und einen Flachmann zu kaufen und war entsprechend beschäftigt. Er hatte, was ich sonst nur bei Henri und bei Boddy gesehen hatte, eine richtige Geldbörse bei sich, die er aus seiner Cordjacke zog. Außerdem kaufte er sich noch eine Plastiktüte dazu. Ich sprach ihn an, daß er mir doch sein Gedicht mitbringen wollte. Er sagte, er hätte eigentlich mit mir vorgehabt, mit mir dahin zu gehen, wo die ganzen Leute so Platte machen, damit ich mal sehen könne, damit ich mir mal so ein Bild machen könne, wie das so ist. Allerdings sei heute zu schlechtes Wetter, und es sei ein ganzen Stück zu gehen, und wenn es so regnet, würde er ganz naß werden, und das müsse nicht sein. Wir sollten das auf einen Tag verschieben, wo besseres Wetter sei.Und auch sonst könnten wir uns mal in nächster Zeit irgendwo zu einer Tasse Kaffee zusammensetzen - es müsse ja nicht immer nur Bier sein, und das mit dem Gedicht, das habe er einfach vergessen, er sei gestern abend so sehr besoffen gewesen, und wäre heute früh noch so fertig gewesen, er habe einfach nicht daran gedacht. Außerdem hätte er jetzt gleich auch noch etwas zu tun, sodaß es auch heute keine Zeit mehr für mich hätte, aber ich würde ihn hier ja noch öfter treffen können und dann wäre ja immer noch die Gelegenheit. Ich frage ihn, ob er denn viel zu tun hätte so den ganzen Tag lang. Er sagte, ja ja, da sei, immer was, irgendwo müsse ja auch das Geld zum Leben herkommen, von nichts kommt nichts, so beispielsweise hiermal etwas tun, dort mal für Geld eine Wohnung entrümpeln undsoweiter. Wir verabschieden uns und verbleiben so, uns dann in den nächsten Tagen wieder zu begegnen.

(Was ja für die Leute, die ich jetzt kenne, eine durchaus übliche Beziehungsform zu sein scheint. Wenn sowieso die meisten einen großen Teil des Tages auf der Straße unterwegs sind und sich alles zu einem großen Teil auf wenige Straßenzüge innerhalb eines Stadtteil konzentriert, dann ist die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, einen anzutreffen oder durch Befragung anderer herauszufinden, wo einer ist, relativ problemlos. Die andere Frage ist, ob dies auch durch die Art und dem Inhalt gewährleistet ist, diese lockere Form die Beziehungsgestaltung und Verabredung. Es widerspricht, auf jeden Fall dem, was ich gewohnt bin. lch sage selten: Wir sehen uns - nur bei belanglosen Geschichten, in der Regel mache ich feste Verabredungen aus, mit Zeit- und Ortsabsprachen.)

Ich setze mich dann zu Haschi. Haschi ist meist in der Nähe der Gruppe, auf die Gruppe hin orientiert, beteiligt sich aber in der Regel in gesonderten Kommunikationsformen an dem Geschehen. Er sitzt auch im Gegensatz zu den anderen häufig am Bordstein, also der Abtrennung von Bürgersteig und Grünfläche. Hier in der Vorhalle der Wärmestube ist auf der einen Seite ebenfalls ein kleiner Vorsatz in der Höhe eines Rinnsteins, hier sitzt es, meist immer eine Bierflasche in der Hand, meist immer eine rauchend. (Siehe Fotos).

Die Leute haben auch einen sehr körperlichen Kontakt zueinander. In einer Szene sah ich Frank, wie er durch die Stoffhose eines anderen, der dort stand, aus irgendeinem Situationskontext heraus in an den Schwanz griff, daß dieser sich deutlich durch Franks Griff in der Hose des anderen abzeichnete. Frank zog daran, und der andere mußte notgedrungen Franks Ziehen einige Schritte nachfolgen. Das war offensichtlich ein Spaß, die anderen lachten, der Mann nahm es Frank auch offensichtlich nicht übel. Der Mann ging dann zu Franks Freundin Jacqueline, umarmte sie und schleifte sie mehrere Schritte in seine Richtung. Mir ist auch heute wieder aufgefallen, daß die Leute betonen, wie lange sie sich schon kennen: "Mensch, wie lange kennen wir uns nun schon, bestimmt schon seit 10 Jahren!" oder auch auf der vergleichenden Ebene: "Na, den xy, den kenn ich aber schon ein paar Jahre länger als Dich!". Auch vergangene gemeinsame Erlebnisse und Erinnerungen werden immer mal wieder kurz angesprochen und vergegenwärtigt: "Weißt Du noch, damals, wie Du..." oder "Weißt Du noch damals, als wir... (das und das gemacht haben o.ä.). So werden immer mal wieder kurze Beziehungsepisoden oder gemeinsame Beziehungssituationen usw. vergegenwärtigt, erinnert. Die Leute mit ihren aktuellen Beziehungen haben auch zu einem großen Teil eine gemeinsame Beziehungsgeschichte.

Gleichwohl herrschen Spannungen in der Gruppe, genauer gesagt zwischen einzelnen Mitgliedern in dieser Gruppe: Es ist mir nicht klar geworden, was der inhaltlich Grund dieser Spannungen war. Da war dieser Stille Typ, einer, den ich schon von vorherigen Feldbesuchen her kenne, der immer den Eindruck auf mich gemacht hat, als wäre er ziemlich stark angesoffen und hätte wohl, auch angesichts seines Zustands, nicht so das Bedürfnis, sich mit anderen zu unterhalten. Er stand also immer in der Nähe von Gesprächen, ohne sich selbst daran zu beteiligen, dann ging er zwischenzeitlich einmal kurz rüber zu Haschi, beugte sich zu ihm, der auf dem Vorsprung saß, nieder, sprach zu ihm, seinen Kopf dicht an Haschis Ohr. Später dann, als ich mit Haschi auf dem Vorsprung sitzend saß, gab es plötzlich ein Handgemenge, zwischen einem aus der Gruppe und dem Stillen Typen, bei dem der Stille Typ das Opfer war. Das ging alles in Sekundenschnelle. Der Stille bekam einen Schlag, dessen Wucht in zu Boden schleuderte, dabei ging eine auf dem Boden liegende Bierflasche in Scherben, wir sprangen auf, der Typ lag mit dem Gesicht zur Erde auf dem Boden und blieb dort lange, für mich bange Sekunden lang liegen.

Dann endlich bewegt es sich, versucht aufzustehen, bewegt sich in Richtung Tür zur Straße, ich helfe ihm auf, er bewegt sich sehr langsam, hat Mühe, hochzukommen, ist dem ersten Anschein aber nicht verletzt, und er geht dann langsam nach draußen, ohne sich noch nach hinten (zur Gruppe hin) zu orientieren.

Ich bin etwas verwirrt in dieser Situation. Eine derartige Gewaltmanifestation habe ich bisher noch nicht erlebt in diesem Kontext. Die ausführende ist noch kurzzeitig etwas aufgeregt, aber so ein außergewöhlicher Vorgang scheint das gar nicht zu sein. Typisch war für mich die Äußerung eines der dabeistehenden: "Also ich halt mich da raus!" Zum einen, weil ich meine, eine solche Äußerung schon in anderen Konfliktzusammenhängen gehört zu haben, zum anderen, weil diese Äußerung ziemlich genau auch meine Position beschreibt. Ich hatte nun wirklich nichts damit zu tun. Das ging auch so schnell, ich hätte da auch gar nicht eingreifen können. Ein anderes wäre es gewesen, wenn der Schläger sein wehrloses Opfer noch länger bearbeitet hätte. Hätte ich mich auch noch heraushalten dürfen.

---- Diese komische Assoziation: "Hier herrschen andere Gesetze!" Über diese Frage ist sicher noch nachzudenken.

Nach eine Weile kommt eine Frau aus der Markthalle in den Eingangsbereich. Ich bekomme nicht mit, was sie sagt, aber die Intention ist klar, wir sollen den Eingangsbereich verlassen. Haschi und ich stehen als erste auf und verlassen die Markthalle. Wir stehen buchstäblich draußen im Regen. Bei den anderen herrscht Unruhe, es gibt aber keine Gegenwehr, auch nicht verbal, das ganze löst sich auf in verschiedene Grüppchen auf, vorher werden noch vereinzelt Verabredungen getroffen, was jetzt getan werden soll, und die Leute verlassen nach und nach die Vorhalle. Die Aufforderung war anscheinend auch dahingehend, die Bierflaschen und Flachmänner zu entfernen, und das bleibt wie üblich an den letzten hängen, die sich darüber draußen beschweren.

- die Beziehung zu Haschi, die Bilder
- der Blinde und die Feuerwehr

Protokollnotiz 24 von Dienstag, dem 3.12.1990, 10:00 - 12:00

Ich mache zunehmend den Übergang zu einer professionellen Arbeitsweise: Ich habe langsam eine akzeptierte Stellung bei der Gruppe von der Markthalle, bin ansatzweise einbezogen, habe laufende Kontakte. Damit verbessert sich auch meine Befindlichkeit. Habe zunehmend weniger Ängste, ins Feld zu gehen. Der Punkt ist einfach der, daß das, was ich jetzt mache, etwas ganz anderes ist als meine Mitarbeit in der Wärmestube. Insofern war es ernsthaft unrealistisch, die Kontaktaufnahme innerhalb eines Monats zu planen. Es ist vielmehr eine Struktur beginnender und sich entwickelnder Beziehungen. Heute in der Markthalle, als ich dann die Raff-Oma traf und andere Leute mit Kopfnicken auch begrüßte, wurde mir klar, jetzt kommt ein Prozeß zustande, wo ich dann bald zu dem Stadtteilbild rund um die Markthalle dazugehöre, ein Teil werde von dem komplexen Beziehungsgeflecht, zu dem viele arme, kranke und auch obdachlose Leute gehören. Und wenn diese Beziehungen wachsen, umso mehr kann ich mich darin entfalten. Um so mehr kann ich mich einbringen, so wie ich bin, um so mehr erfahre ich über die Binnenstruktur, umso eher habe ich eine Basis dafür, etwa mit Interviews zu arbeiten. Auch in der Frage sollte ich mich nicht unter Druck setzten lassen.

Die Leute haben untereinander eine Gesprächsebene, die auch mich und meine Anwesenheit betrifft, darüber kann ich aber im Moment nur Vermutungen anstellen. Ein interessante Hinweis ist, daß ich gegenüber einem (Heiner oder der "unrasierte Pulverbruder") erwähnte, daß ich wissen wollte, wo Karin steckt, weil ich ihr Fotos zeigen wolle. Karin konnte nur ganz kurz bei der Gruppe gewesen sein, schon kam sie an und sprach mich auf die Fotos hin an. Die Leute, das schließe ich daraus, haben ganz genau in der Peilung, was ich mache, sage, tue. Vielleicht ist das aber auch nur wieder so eine Überinterpretation von mir, aber irgendwas scheint da schon zu laufen: Ist ja auch klar, in den Zeiten, wo ich Gruppenarbeit gemacht habe, hatte ich auch ganz genau in der Peilung, wer da neu auftaucht und ich hab dann auch mit meinen Kumpels darüber gequatscht, wer das denn nu ist und was für ein Eindruck der so auf uns gemacht hat und was wir von dem so halten sollen. Und genau diese Prozesse sind in ähnlicher Form bei den Leuten wahrscheinlich auch gelaufen. Jetzt muß ich nur sehen, daß ich mich dieses Vertrauens, daß sie mir in Form ihrer Akzeptanz entgegenbringen, auch "würdig" erweise.

Um jetzt im einzelnen auf den heutigen Tag einzugehen. Ich gehe am Sozialamt vorbei, und, weil ich davor keinen sehe, den ich kenne, gehe ich in die Markthalle und frage dort (Hugo), ob er Boddy gesehen hätte. Boddy hatte mich letzten Donnerstag eingeladen, ich könne am Montag mit ihm mit aufs Sozi kommen, wenn er sein Weihnachtsgeld holen wolle, er erwartete einige Schwierigkeiten, und ich solle ruhig mitkommen, um auch dort dem Sozialarbeiter meine Meinung zu sagen, (er selbst habe keine Geheimnisse), und das könne nur gut für mich sein, das mal mitzukriegen. Ich suche jetzt Boddy.

Er (Hugo) sagt, er habe ihn nichts gesehen, auch sonst laufe er schon die ganze Zeit herum, es sei noch keiner da, ich solle aber mal aufs Sozialamt gehen, da könne er vielleicht sein. Ich gehe also zum Sozialamt. Auf dem Weg dorthin kommt mir eine Gruppe entgegen, die anscheinend direkt aus dem Sozialamt kommt: Heiner, Haschi, der Typ mit der Lederjacke und noch einigen andere, die ich vom sehen her kenne. Ich grüße sie, gehe an ihnen vorbei zum Sozialamt, finde dort in Wartebereich im ersten Stock Boddy nicht, gehe zurück zur Markthalle, wo ich die Gruppe von vorhin im Eingangsbereich auf der Seite der Arminiusstr sehe. Ich stelle mich dazu.

Haschi hat Geld erhalten, die anderen anscheinend auch. Die zwei oder drei Sixpacks, die Flasche Vodka stehen in einer Ecke, eine Packung Filterzigaretten wird unter das Volk verteilt, ich weiß nicht, wer das genau verteilt hat. Einer hat Lebensmittelgutscheine erhalten, es wird darüber diskutiert, ob man davon auch Zigaretten beziehen könne.

Der Lederjackenmann und ein anderer stehen um Haschi herum. Hugo sagt sinngemäß, das sind immer nur dann Freunde von Haschi, wenn er Geld hat.

Protokollnotiz 25 von Mittwoch, dem 11.12.1990, 5:00 - 7:00

Momentaufnahmen: Hat das erste Mal in diesem Winter geschneit, die ganze Nacht. Fahre mit U-Bahn und Bus zur "Börse" ( Arbeitsamtschnellvermittlung Beusselstr.). In der U-Bahn tödliches Schweigen, fast alle vor sich hinstarrend, dieser Gesichtsausdruck, diese Augen bei den Leuten. Oder sehe ich das nur so, weil ich selbst auch noch so vermatscht bin. Mehrere aus dem Bus gehen in die selbe Richtung. "Börse" macht schon ab 4:00 Uhr auf. Wie die Leute da hin kommen, wenn noch keine U-Bahn fährt vor 4:00? Muß mal um diese Zeit hingehen.

"Börse" selbst ist ein verrauchter Raum, mehrere Holzbänke angeordnet in Blickrichtung auf die Stirnseite, wo die Schalter sind. Viele, riesig große Aschenbecher. Vielleicht 25 - 30 Personen da, im Alter von 25 - 55 vielleicht. Eben wie Arbeiter gekleidet, manche schon Arbeitsschulen, Arbeitskleidung, Taschen. Einige BZ lesend, andere trinken Bier. Immer mal wieder werden Namen aufgerufen, die Leute gehen nach vorne, holen sich Papiere ab, ziehen ab. Langsam lehrt sich der Raum. Einige sitzen vereinzelt, andere kennen sich, sitzen zusammen. Spärlich Unterhaltungen. Meistens über Jobs. Schneebeseitigung. Alles ein wenig trostlos. Hörte die Bemerkung, heute werde wohl nicht viel reinkommen. Alles erinnert an die studentische Arbeitsvermittlung, so wie ich sie kennengelernt habe. Nur daß die Leute alle älter sind. Kenne aber keinen von ihnen.

Ich gehe wieder, laufe durch die Straßen Moabits. In der Markthalle entfalten sich schon erste Aktivitäten, auch der Schnee ringsherum wird geräumt. In der U-Bahn am Zoo war auf der Hinreise schon die typische Belegschaft zu sehen, der harte Kern eben, auf ihren Stammplätzen.

Sollte mal zusehen, bei einer Gelegenheit mal mit jemanden zur "Börse" mitzugehen, auch mal miterleben, wie es vor und um 4:00 da zugeht.

Protokollnotiz 26 von Samstag, dem14.12.1990; 14:00 - 15:30

Ganz eindeutig war heute so gut wie niemand von meinen Bekannten zu finden. Der Warme Otto war auch schon zu, auf dem Platz vor der Markthalle war niemand, in der Markthalle traf ich auch keinen, allein Haschi, der im Eingangsbereich zur Bugenhagener Str. im Gespräch mit Klaus vertieft war, ich wollte sie nicht stören, außerdem hatte ich auf Haschi heute keine Lust. Auch sonst traf ich keinen, weder den Blinden auf der Turmstraße, noch hinter der Imbißbude gegenüber dem Sozialamt, nichts. Dabei war es gar nicht regnerisch oder ausgesprochen kalt. Vor der ev. Heilandsgemeinde traf ich dann Klaus und Orlando (einer der Besitzer und der damalige Koch von der ehemaligen Kneipe Fogelvrei, Alexandrinen Ecke Gitschiner Str., wo ich mal ein Jahr lang gearbeitet habe) , die obligatorisch jedes Jahr dort auf einem eigenen Stand Weihnachtsbäume verkaufen. Klaus sagte, wenn ich hier etwas über arme Leute erfahren wolle, sei ich hier ganz richtig. Daß wir uns dann wohl öfter noch sehen würden und daß ich das nächst Mal ruhig was zu essen mitbringen dürfe, etwas anständiges: Schokolade, Kekse, Gummibärchen usw.

Ich werde von nun an täglich nach Moabit gehen bis zum Jahresende. Ziel wird es sein, einzelne mir bekannte Leute für ein Interview zu gewinnen. Die Fragen, um die es geht, habe ich, was die grobe Zielrichtung anbetrifft, im Kopf. Der Rest muß sich aus den Situationen heraus ergeben. Die Leute sind die Experten ihrer Lebenslage, nicht ich. Ich muß endlich mal zu Potte kommen mit meiner Arbeit. Und wenn ich erst die ersten Interviews habe, wird das alles schon weitergehen.

Protokollnotiz 27 von Samstag, dem 15.12., 14:30 - 15:30

Heute war nichts: W.O. zu, Markthalle schon zu, an den Plätzen, wo ich die Leute sonst immer antreffe, war keiner. Bin dann wieder gegangen. Sah den "Blinden" U-Bahnhof Turmstraße auf einer Bahnhofsbank sitzen. Scheint wohl sehr regelmäßig in dieser Gegend zu sein. Macht vielleicht sogar kontinuierlich "Sitzung" an der Turmstraße. Wohnt vielleicht auch in der Gegend oder hat eine "Platte". Auffällig ist, daß ich ihn in letzter Zeit immer alleine angetroffen habe. An den "Blinden" traue ich mich bisher noch nicht ran. Ist mir zu hart. Kenne ihn noch vom Sehen aus den W.O. Tagen. War da in Begleitung einer Frau, die sich ein bißchen um ihn gekümmert hat. Hat er den Weg nach unten gemacht? Oder war es für ihn eine Emanzipation von einem Abhängigkeitsverhältnis?

Protokollnotiz 28 von Montag, dem 17.12.1990, 15:30 - Dienstag, 18.12.1990, 9:30.

Markthalle bis Montag, 17:30:
Kalle, Haschi, "einer mit Anzug und Brille, der zur Franklinstr. will", Dieter, Uwe, u.a., danach Dieter und ich,
Tonbandaufnahme
gegen 18:00 bis 20:00 bei mir zuhause,
anschließend in die Kneipe, mit Dieter nach Schöneberg.

Das mit Dieter ist so eine Sache. Er hatte mir mal angeboten, er wolle mir ein Gedicht mitbringen, wolle mir mal alles zeigen. Als ich ihn an der Markthalle treffe, spreche ich ihn darauf an. Ich kann mich nicht mehr genau

Protokollnotiz 29 von Dienstag, dem 18.12.1990, 15:00 - 15:30

Dieter, Angelo, der Alte, den ich vom sehen kenne, mit dem Pickel im Gesicht.

Kurz "Guten Tag" gesagt. Muß irgendwie Beziehung mir Dieter klären. Mit ihm "lockere Verabredung" für morgen 11:00.

Protokollnotiz 30 von Montag, dem 7.1.1991, 14:30 - 14:45

Gegen 14:30 komme ich aus der Levetzowstr. und gehe zum U-Bahnhof Hansaplatz. Vor dem Bahnhofskomplex ist eine Kleingrünanlage. Direkt davor spricht mich ein Mann an, den ich schon vom sehen als der Zielgruppe zugehörig erkenne. Wir sehen uns beide an, ich gehe auf ihn zu, muß ja sowieso da lang, er spricht mich an, ob ich nicht Geld für mich hätte. Jeans, Windjacke, rundes Gesicht, leicht gerötet, Bart. Ich sage ja, wir stehen da rum, ich krame mein Geld hervor, er quatscht mich voll, das er ehrlich sagen würde, was los ist, ich komme mit ihm ins Gespräch, daß er ehrlich sage, was Sache ist, betont er mehrfach, ich frage, ob er denn wenigstens Sozialhilfe empfange, er antwortet, er hätte fünf bis sieben Jahre Knast offen, deswegen ginge das nicht. Später erklärt er denn, warum, er hätte einen aus der S-Bahn geworfen, der ein blindes Mädchen vergewaltigt hat. Er bereue es nicht, würde es auch wieder tun, ich solle mir vorstellen, es sei seine oder meine eigene Tochter, sagt er noch, als wolle er sich nocheinmal legitimieren.

Frage ihn, ob er sich nicht eine drehen wolle, zeigt auf seine linke Hand, meint, das ginge nicht (gebrochen oder verkrüppelt oder so). Sehe Tätowierungen an seiner Hand, drehe ihm eine, bitte ihn, während der Zeit meinen Aktendeckel zu halten, gebe ihm die Zigarette und Feuer, drehe mir dann auch eine, er betont, daß ich ein netter Kerl sei, der noch ein Herz habe, deutet das auch an, schlägt mit der Hand aufs Herz.

Fragt mich, was ich wohl glaube, wieviel er schon heute getrunken hätte, ich sehe auf die Uhr, sage zehn, meine Dosen Bier, er sagt drei, sagt dann aber noch hinzu, aber richtig Schnaps. Dann zu seinem Alkoholkonsum, er sei sonst immer recht freundlich und nett, aber wenn er zuviel gesoffen hat, würde es selbst bei seinem Kumpel ausrasten.Wenn er zuschlägt, gäbe es keine Verletzten, sondern nur Tote, er sagt, er würde ein Streichholz nehmen zwischen die Finger seiner Faust, und dann an die Schläfe schlagen, und dann sei aus. Daß er drei Flaschen in sich habe, würde er gar nicht merken, im Gegenteil, noch eine Flasche, und er würde eher wieder nüchtern werden.

Er würde viel rummachen hier, immer Leute ansprechen, aber nie auf die dumme, sondern immer auf die nette Art, wäre 15 Jahre Fernfahrer gewesen, auf dem Bock, hätte sich in der Zeit eine Menge Menschenkenntnis erworben, er würde die Leute nur ansehen, dann wisse er schon, ob er etwas kriegen würde oder nicht. Gerade wenn hier Theater sei, würde es sehr gut laufen, gnädige Frau, darf ich auf ihr Auto aufpassen, und schon hätte er wieder fünf Mark verdient. Er würde am Tag hier so 120 bis 150 Mark machen, wär dann aber auch den ganzen Tag am Rudern. Das sei ganz schön anstrengend, aber er sei noch ganz mobil, was er dann auch gestisch andeutet, nicht so wie die da, da sitzen noch andere auf der Bank, auf die er deutet. Trotzdem gehe ihm das Leben so ganz schön auf den Senkel. Er deutet auch mit Bemerkungen an, daß er sich in der Szene ganz gut auskennt, Zoo, Moabit undsoweiter würde er kennen alles. Dahinten an der Bank ist eine Art Rucksack, nebst Plastiktüte, er sagt, sein Schlafzimmer, würde nachts in der Toilette übernachten, wenn Leute kämen, während er schläft, würden die ihn ausrauben oder zusammenschlagen, weil so im Schlaf sei er hilflos.

Scheint auch eine Menge Leute zu kennen, die er beim Vorbeigehen begrüßt, stellt auch Frauen hinterher, die er "anmacht", aber ohne Erfolg. Alles so nebenbei beim Gespräch. Er erzählt, was er so alles erlebt habe, davon könne man ein Buch schreiben, das wiederholt er nochmals, ich gehe darauf ein:

Ich erzähle, daß ich eben von der Levetzowstr. von der Beratungsstelle kommen würde, daß ich zu Obdachlosigkeit forsche, daß ich mir angesehen habe, wie die dort arbeiten, was die dort machen. Das würde er alles kennen, sagt er, ich frage ihn, ob er nicht Lust hätte, mir ein Interview zu geben. Er springt gleich darauf an, sagt, hier, oder woanders, ich denke nach, will, obwohl ich ein Aufnahmegerät bei mir habe, das nicht gleich machen, sage, am Mittwoch, er gibt zu verstehen, daß da was rüberwachsen müsse, ich frage, wieviel, er gibt keine klare Antwort, er will noch genauer wissen, wann ich käme, ich sage, ich würde ihn schon finden, ich würde einfach nach "Truck" fragen, er bohrt nach, schlägt 11:00 Uhr vor, ich willige ein, verabschiede mich. Er reißt bei der Gelegenheit noch seine Lebensgeschichte an, er habe fünfzehn Jahre einen Truck gefahren, deswegen würden ihn alle "Truck" nennen, ich stelle mich als "der Stefan" vor, das würde heute nicht mehr gehen, ist ja auch klar, bei dem Alkoholkonsum, auch sei er 10 Jahre in Bautzen gewesen, habe er alles mitgemacht, er ist jetzt 45, also Jahrgang 1945, er wäre dann rübergekommen, das sei aber schon eine ganze Weile her, war auch verheiratet, die Frau sei ihm vor 2 Jahren gestorben, seitdem ist er völlig aus der Bahn, er habe sie wohl zu sehr geliebt, er hatte auch mal 35 Mark, er verbessert sich, 35.000 Mark gespart, die wären dann irgendwie wegen der Frau weggewesen, bzw. seit ihrem Tod hätte er sie versoffen, das ist mir nicht ganz klar geworden.

Nach und nach füllte sich die Bank, wo sein Rucksack stand, in etwa 50 Metern Entfernung von unserem Standpunkt mit drei Leuten an, die er mir im Verlauf unseres Gesprächs auch vorstellte, der eine sei ein guter Kumpel von ihm, allerdings nicht so aktiv wie er in Sachen "rudern", der andere sei ein Pole, von dem er nicht so genau wisse, was mit dem eigentlich los ist, ob man ihm so trauen könne. Was mit dem Dritten war, weiß ich nicht mehr.

Denke, daß das ganz gut ist, so habe ich Zeit, mir Fragen zu überlegen, das Ganze vorzubereiten und zu strukturieren, außerdem kann ich mit Rainer klären, wie das mit dem Honorar ist, hatte auch kein Geld bei. Trotzdem, die Sache mit dem kaufen von Interviews ist inhaltlich einfach problematisch.

Protokollnotiz 31 von Mittwoch, dem 9.1.1991, 11:00 - 13:00

Ich war mit Truck für heute um 11:00 zwecks eines Interviews verabredet. Ich stieg Hansaplatz aus, dort sah ich ihn auch schon. Im wesentlichen bestand unser Treffen aus dem, was in der Interviewaufnahme aufgezeichnet ist.

Protokollnotiz 32 von Freitag, dem 11.1.1991, 8:50 und 12:30

Steige aus U-Bahnhof Hansaplatz, unten sind einige Leute von der Zielgruppe auf den Bänken, die ich aber nicht kenne. Vermutlich Bahnhof Zoo vertrieben worden. Ober sehe ich Siggi (=Truck) langschleichen, mit seinem Schlafsack. Fragt mich nach einer Mark. Sagt, es geht ihm nicht so gut heute, er habe schlecht und wenig geschlafen, er habe nur noch einen Flachmann (was bei seinem Konsum so gut wie nichts mehr ist), außerdem hätten die Michael gestern abfahren lassen, er hatte solch einen Anfall, (Epi oder Krämpfe oder Delirium), daß sie ihn haben abfahren lassen, d.h. sie haben die Feuerwehr geholt. Er sei jetzt im Moabiter (?) Krankenhaus, er (Siggi), wolle ihn da heute besuchen, er sei ja noch einigermaßen klar. Auch Manne habe er heute noch nicht gesehen.

Als ich gegen 12:30 wieder Hansaplatz komme, sitzt er oben auf der Bank, in sich zusammengesunken. Ich spreche ihn nicht an.

Auch nach dem Interview muß ich sagen, ich mag Siggi und seine beiden Kumpel, vielleicht vor allem deshalb, weil ich so freundlich von ihnen aufgenommen wurde. Vielleicht sollte ich mich in Zukunft mehr an die beiden hängen und mir von ihnen alles zeigen lassen. Dabei fiel mir ein, der Hansaplatz ist gar nicht mein Revier. Naja, was soll's.

Protokollnotiz 33 von Montag, dem 18.2.1991; 10:30; 11:00 - 13:30

Außergewöhnlich gutes Wetter heute - Tauwetter nach langen, kalten Tagen. Obwohl noch nicht ganz gesund, ist es an der Zeit, die Feldforschung wieder aufzunehmen, nach einer fast schon zu langen Pause, zum einen wegen der Arbeiten am Zwischenbericht, zum anderen war ich in den Tagen danach ein bißchen erkältet. Nein, ich wollte auch nicht, war auch ganz froh, Vorwände zu haben.

Das wär noch mal ein Thema für eine längere Abhandlung, die ich aber hier und jetzt nicht führen werde, sonst drehe ich mich wieder zu stark auf die Seite der subjektiven Befindlichkeit ein und das tut meiner Forschung nicht so unbedingt gut. Aber jetzt, mit neuer Power kann es wieder rund gehen.

Die Fragen jetzt an die Leute müssen sein,wie sie die vergangenen Wochen überstanden haben. Überhaupt, wen werde ich noch antreffen. Will zuerst an den Hansaplatz, das scheint mir am einfachsten.

Hansaplatz war keiner. Vor der Markthalle Bugenhagener, aber auf der Ecke zur Bremer Straße, was an und für sich ungewöhnlich für die Gruppe ist, waren Leute: Haschi, Fleischer-Klaus, Frank und Jacqueline, Dieter, Angelo und andere. Später war Haschi weg, dann kam aber noch kurz eine Gruppe um Heiner, der sich vorher im Eingangsbereich der Markthalle aufgehalten hat. Habe mich da aufgehalten bis etwa 12:15, bin dann zur U-Bahn Turmstraße, wo ich Siggi traf in Begleitung von Ellen sowie einen jungen Mann, den ich noch nicht kannte. Habe mich dort aufgehalten bis ca. 13:30 Uhr.

Meikel ist tot. Vor einigen Tagen Hansaplatz gestorben. In den Armen von Siggi. Hatte am Hansaplatz mehrere epileptische Anfälle hintereinander, 3 Stück, sagt Siggi, hat ihm dann einen Kamm zwischen die Zähne geklemmt, und ihm Schnaps zu trinken gegeben, damit er wieder auf die Beine kommt. Dann hätten sie ihn rübergeschleift zum Kindergartenspielplatz in der Nähe der Kirche, wo sie immer Platte machen und ihn in den Schlafsack gepackt. Dort hätte er noch einen Anfall gekommen, der so schlimm war, das sie rüber zum Pfarrer gingen und einen Krankenwagen alarmierten. Als sie dann zu Meikel zurückkamen, sei er aber schon tot gewesen. Die Beerdigung wird am 4. März sein, Siggi will da auf jeden Fall hingehen, das sei Ehrensache. Auch die Eltern von Meikel seien verständigt worden, sie sind jetzt schon in Berlin, angeblich aus Finnland gekommen.

Auch zwei andere aus dieser Clique hätte es in den letzten Tagen erwischt. Einer wäre auf einer Platte gestorben, damit sei jetzt die Platte kaputt gewesen. Das berichtete der junge Mann, der mit Siggi sich U-Bahnhof Turmstraße aufhielt. Er wäre in dem Haus, wo sie Platte machten, innen drin in seinen Armen gestorben, irgendetwas mit dem Kreislauf. Er hätte dann die Polizei geholt, die hätten sich gewundert, daß überhaupt Leute in diesem Haus seien und anschließend sei das Haus zugenagelt geworden, daß diese Platte jetzt auch kaputt ist. Der junge Mann beschwert sich, daß er nicht hätte draußen sterben können.

Auf die Frage, wo er die letzt Zeit gewesen wäre, erklärt Siggi, er sei vorwiegend S-Bahn gefahren. Nicht nach Erkner, sondern nach Königs-Wusterhausen. Dort würden die Züge auf einen Abstellgleis gefahren, dort könnte man einige Zeit pennen. Allerdings sei er dort auch überfallen und ausgeraubt worden, er sagt sowieso, in letzter Zeit seien einige Knaller passiert, die er mit erzählen könne, richtig herbe Sachen, also, wenn ich mal wieder wolle, könne er mir - gegen Geld - ein Interview geben. Siggi selbst wirkt sehr heruntergekommen, er hat jetzt einen einige Wochen alten Bart, vielmehr rote Flecken im Gesicht, als noch vor wenigen Wochen. Er hätte auch von einem Kleiderläuse bekommen, er zeigt mir seinen Unterschenkel, offene Wunden, rot aufgekrazt. Bei seinem Kollegen noch viel schlimmer, am Bauch. Beide waren heute im Krankenhaus, zu entlausen, damit das aufhört. Siggis Kollege erhält Cortison und Antibiotika. Cortison gegen offene Wunden, soll die Bakterien zerstören, aber viele Nebenwirkungen. Kann mir das nur so vorstellen, daß das, ähnlich wie Antibiotikum, den Organismus gehörig schwächt. Und dann noch in Verbindung mit Alkohol ... Siggis Kollege ist aus Wedding, seit einem Jahr auf der Straße, hat sich früher auch gefragt, als er mit seiner "Kleinen" im Arm unterwegs war, was das für Leute seien, die Schnapsflaschen trinken auf den U-Bahnhöfen verbringen, jetzt ist er selbst so weit gekommen, sagt er. Von Siggi hätte er das Rudern gelernt. Nein, es gäbe dabei keine Tricks in diesem Sinne, allerdings käme es drauf an, den richtigen Spruch draufzuhaben. Das könne er aber auch erst dann, wenn er genug getankt hätte. Er erzähle den Leuten dann immer, er sei O.F.W. . Die würden dann immer komisch gucken, dann würde er erklären, daß hieße, "ohne festen Wohnort". Die würden auch immer noch komisch gucken, weil sie sich nicht vorstellen könnten, daß ein so relativ sauber und ordentlich gekleideter Mensch wie er keine Wohnung hätte.

Er beklagt, daß man erst verschlampt rumlaufen müsse wie ein Penner, daß einem die Leute das dann auch glauben.

Er habe jetzt in einem Hotel ein Zimmer, ein Einzelzimmer mit Dusche und Toilette, weil er (freiwillig) eine Therapie (Alkohol/ ein halbes Jahr in Wessiland) machen wolle. Allerdings hätte er sich Kleiderläuse eingefangen, und sein ganzes Zimmer wäre verlaust, daß er da jetzt nicht mehr hingehen könne. An diesem Punkt widerspreche ich ihm, sage, daß so ein Zimmer wichtig ist für das Befinden, daß er gefälligst hingehen soll und den Leuten bescheidsagen solle, was Sache ist, daß sie das Zimmer entlausen und er wieder da wohnen kann. Daß er ihm nicht peinlich sein soll, das sei bei seiner Lebenslage einfach nicht zu vermeiden, daß sowas mit den Läusen passieren kann. Daß er den Leuten auch sagen soll, daß er heute beim entlausen war. Ob er dafür eine Bescheinigung hätte. Die habe er nicht. Siggi wirft da ein, daß die vom Hotel auch im Krankenhaus anrufen könnten, weil da sei er aufgeschrieben.

Ellen war auch auf dem U-Bahnhof. Sie saß die ganze Zeit auf der Bank und döste mit gesenkten Kopf vor sich hin.

Die Kleiderläuse hätten sie von einem Typen, der sich immer in ihrer Nähe aufhalten würde und ihnen auch immer folgen würde. Er sei voller Läuse, und Siggi und die anderen hätten die Nase voll davon, sich immer wieder neue anzustecken. Allerdings weigere sich dieser Typ, in ein Krankenhaus zu gehen, und sich entlausen, behandeln zu lassen. Sie hätten sich auch erkundigt, aber wenn der Typ freiwillig nicht wolle, könnten sie da nichts machen. Ob mir dazu nichts einfiele. Ich denke rum, aber mir fällt dazu nichts ein. Ich kann ihnen nur raten, sich von dem Typen fernzuhalten.

Im Verlauf der Zeit, in der ich mich auf dem U-Bahnhof aufhalte, kommt noch der Blinde dazu in Begleitung eines weiteren Mannes. Der ist vor einigen Tagen aus einer Pension herausgeworfen worden, Siggi kennt diese Pension, ist, aber da bin ich nicht sicher, da auch schon mal rausgeflogen. Das mit den Pensionen muß schon ziemlich schlimm sein. Kein Wunder, daß viele Leute da das weite suchen und lieber auf eigene Faust Platte machen.

Manne, der mir beim Interview als Dritter im Bunde (von Siggi und Meikel) vorgestellt wurde, hat Siggi nach seinen Aussagen vor einiger Zeit überfallen. Er hätte ihm eine Flasche über den Schädel gezogen und in ausgeraubt. Siggi zeigt eine vernarbte Wunde auf seinem Kopf. Soweit reicht also die vielbeschworene Freundschaft. Es ist unglaublich, sie hängen aufeinander, teilen noch das letzte miteinander, kümmern sich, usw., und dann immer aufgrund von Berichten kommt es zu Situationen, wo sie sich gegenseitig überfallen, beklauen, die Platte kaputt machen, verletzen. Das ist eine absolut widersprüchliche Spannung. Siggi meint, wenn er den Manne mal wieder treffen sollte, sei aber etwas fällig, er würde sich ihn vorknöpfen.

Dieter hat mittlerweile bei einem Bekannten eine Mitwohngelegenheit. Wie er sich die aufgetan hat, habe ich nicht erfahren können, allerdings sei es schon eine längerfristige Angelegenheit. Doch was heißt in diesem Zusammenhang längerfristig? Nach seinen Angaben hat Dieter sich wieder gefangen, d.h. es muß ihm zwischenzeitlich nicht so gut gegangen sein. Dieter hat sich auch im Verlauf der letzten Wochen eigentlich nicht verändert. Dieter ist ziemlich gleichgültig mir gegenüber. Unser Interview thematisieren wir überhaupt nicht. Ist diese Art von Anti-Beziehung typisch für die Beziehungen der Leute untereinander?

Dieter, ich weiß gar nicht mehr, wie wir darauf kamen, erzählt eine Episode von früher. Er hätte vor eineinhalb Jahren im Sommer am Nikolskoer See (??) ein Zelt gehabt im Wald dort gelebt. Mit mehrere Kumpels, insgesamt waren es drei Zelte. Das ist verboten, offiziell heißt das Biwaken. Wenn sie von der berittenen Polizei erwischt wurden, hatten sie dafür je Biwak 20,-- DM zu bezahlen. Biwake, die höher als 30 cm seien, wären verboten. Jedes Zelt ist höher als 30 cm. Er sei jeden Tag in der Woche am See gewesen. Für damals 42 Pfennig je Büchse hat er sich jeden Tag 5 Paletten Dosenbier geholt und sei damit zum See gegangen und hätte das unter eine Plane gestellt und verkauft. Nach seinen Angaben hätte er auch 10 Paletten am Tag verkaufen können. Er meint, von der Straße aus seien das noch etwa 700 oder 800 Meter bis zum See gewesen, und nur die wenigsten der Ausflügler hätten sich die Mühe gemacht, zusätzlich zu Luftmatratze und Kinderwagen und Picknickkorb noch Bier zu tragen. Es hätte sich ziemlich schnell rumgesprochen und er hätte ein ganz gutes Geschäft gemacht. Später hätten Leute ein kleines aufblasbares Plantschbecken aus dem See gezogen. Er hätte das genommen, wieder aufgeblasen, im Wald mit Wasser gefüllt und hat so den Leuten gekühltes Bier anbieten können.

Dann erzählt Dieter noch, als er da im Wald gezeltet hätte, wäre eines Tages der Förster gekommen, den er im Laufe der Zeit schon gekannt hätte. Der Förster hat ihm gesagt, daß es eigentlich illegal sei, was er da mache mit dem Zelten im Wald. Dieter hätte ihn daraufhin gefragt, was er denn machen solle, etwa in die Stadt gehen und dort auf der Straße schlafen. Der Förster hat ihm dann angeboten, er solle den Dreck der anderen Leute wegmachen, Dieter hätte dann blaue Müllsäcke erhalten, und eine Karte, und er hätte dann für 25,-- DM am Tag da regelmäßig saubergemacht. Er meinte, das wäre auch immer so eine Arbeit für eine oder eine und eine halbe Stunde gewesen. Im Gegenzug eben die Bezahlung und die Duldung.

Als Dieter das erzählte, hörte Frank dem Gespräch zu. Er konnte das aus eigenen Erfahrungen bestätigen. Das wäre (im Grunewald, an der Havel) auch so gelaufen.

Interessante Informationen, gibt also offenbar mehrere, die so über den Sommer kommen, vgl. auch Boddy.

Überhaupt beurteile ich die längere Unterbrechung meiner Feldforschung nicht als Problem. Die Leute sind da, die Möglichkeiten, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Das Problem liegt woanders. Wie dringe ich tiefer in diese Lebenswirklichkeit ein, wie intensiviere ich die Kontakte: Häufiger, regelmäßiger, länger.

Eines will ich nicht, weil das ist zu belastend und würde mir auch auf Dauer auf den Geist gehen, da bis zu Jahresende kontinuierlich intensivste Feldforschung zu betreiben. Ich denke, ich muß da Schwerpunkte setzen, d.h. beispielsweise, die nächste Woche oder die nächsten zwei Wochen intensiv Feldforschung, dann wieder zwei Wochen Pause, sonst ist das gar nicht auszuhalten. Auch heute ist schon wieder mehr als der halbe Tag in Sachen Feldforschung und anschließend Protokoll draufgegangen, das belastet ungemein. Aber ich muß auch zugleich das, was da im Feld passiert, intensivieren und verbessern, direktiver Fragen. Und das ist für mich noch nach wie vor ungeklärt. Mit welchen Recht will ich, kann ich, darf ich den Leuten an ihre Wunden ran? Auf der anderen Seite bin ich z.Zt sehr selbstbewußt drauf und will dafür sorgen, daß es auch so bleibt.

Heiner unverändert. Sieht überraschend fit aus. Immer noch ein dynamisches Zentrum des Geschehens. Hat 10,-- DM Schulden bei dem einen, der heute in der Nähe von Fleischer-Klaus stand. Kann die aber nicht zurückzahlen. Daraufhin sagt der Typ, es sei okay, die 10,-- DM würde er ihm schenken, aber mit der Konsequenz, daß Heiner nie wieder etwas von ihm erhalten würde. Heiner nimmt das sehr gelassen hin. Ist ja wahrscheinlich nicht das erste Mal, daß er soetwas erlebt. Die eine Frage ist, wie geht das jetzt mit dieser Beziehung weiter. Ist das jetzt wirklich ein für alle mal und bis auf weiteres gegessen oder wie oder was. Zum anderen, eine solche Umgehensweise, sich bei verschiedenen Bekannten Geld zu pumpen und das dann nicht mehr zurückzahlen können, führt zu einer zunehmende Isolierung. Das ist aber bei Heiner nicht der Fall. Gleicht sich das denn wieder aus? Oder hast du in dieser Situation einfach einen riesigen Umschlag von Leuten? Kein Ahnung. Heiner zieht dann mir einigen Leuten wieder Richtung Markthalle ab, darunter auch der Typ mit der Lederjacke, den ich nicht leiden kann.

Beim Stehen vor der Markthalle auch zu beobachten, wieder der lange Typ, Küchenmitarbeit im Warmen Otto, der mit seinem großen Seesack wieder Richtung Wärmestube schiebt.

Auch Georg, der Bayer. Nach Angaben von Dieter und Klaus (u.a. im Gespräch) soll er angeblich jetzt mit einem Typen zusammenhängen, also nicht mehr er und Karin. Soll da irgendwo Wegenerplatz (?) so eine Art Platzwart machen und ein einer Bretterbude einen Schlafplatz haben. Sieht auch (von weitem gesehen) unverändert aus.

Fleischer-Klaus holte aus der Markthalle für alle Fanta light, Flachmänner und ein Sixpack, nachdem vorher für diesen Einkauf zusammengelegt wurde und auch genau ausgerechnet wurde, wieviel das kosten würde. Klaus kam wieder und berichtete, daß der Eigentümer (Verkäufer) vom Stand ihm erklärt hätte, wenn er immer für die Penner da draußen einkaufen würde, würde er ab sofort auch nichts mehr erhalten. Soso.

Thema subjektive Befindlichkeit: Zum einen habe ich langsam eine gewisse Routine. Das wird sich mit der Zeit auch noch verbessern, denke ich ich. Es macht mir nicht so viel, ich weiß, was mich in der Regel erwartet. Zum anderen bin ich nicht mehr bereit, meine subjektive Befindlichkeit unnötig zu problematisieren. Ich habe bestimmte Interessen, und mein Job ist, etwas rauszufinden. Also mache ich das auch. Null Problemo. Das heißt aber auch, wenn es mir relativ gut geht, kann mich die Feldforschung nicht mehr so durcheinanderbringen. Also nicht unbedingt nur subjektiver Niederschlag der Feldforschung bei mir als Folge der Feldforschung, sondern katalysatorischer Effekt der Feldforschung: Es verstärkt sich durch die praktischer Erfahrung sowieso nur das, was mit mir eh schon los ist. Feldforschung ist also auf der subjektiven Seite eigentlich beides.

Fazit: Das nicht wichtiger nehmen, als es ist. Es geht vor allem um die objektive Seite der Wahrnehmung. Der einzige Punkt ist: Die ganze Unternehmung Feldforschung ist ungeheuer zeitintensiv und belastend, trotz allem.

Okay, Schluß jetzt mit diesem Protokoll. Es ist ganz gut.

Protokollnotiz 34 von Donnerstag, dem 21.2.1991; 13:00

Zuallererst die Frage an den Computer: Da war ich nun am Montag nach einigen Wochen das erste Mal wieder im Feld, und eigentlich hat sich nicht so viel geändert, es war ohne große Schwierigkeiten möglich, Kontakt herzustellen, auch wenn ich mir diese an der Markthalle erst erstehen mußte, und auch das Protokoll war schnell von der Hand gegangen, wenn auch nicht chronologisch, doch in einer bisher nicht gekannten Fülle. Wie kommt es also, daß ich erst heute wieder soweit bin und mich jetzt hier am Schreibtisch auf einen weiteren Feldbesuch vorbereite. Warum erst heute, warum nicht schon Dienstag oder Mittwoch?

Sicher, die Feldbesuche sind anstrengend, und alles in allem mit der Vorbereitung und Protokollierung beinhaltet das mindestens immer sechs Stunden schwere, harte Arbeit.

Vielleicht sollte ich das umgekehrt sehen. Ich habe den Besuch am Montag einigermaßen gut weggesteckt. Ich habe das ziemlich gut verarbeiten können im Vergleich zu vielen Begehungen vorher. Wenn ich mich heute wieder daranmache, bin ich eigentlich wieder ziemlich forsch, ziemlich neugierig. Daß heißt, ich leide nicht darunter, sondern will etwas. Vielleicht ist dieser Sachverhalt, daß ich nach zwei Tagen wieder gut in der Lage bin, weiterzumachen, ein gutes Zeichen, und ich sollte das nicht als Problem, sondern als Fortschritt sehen.

Allright, was sind meine Fragen heute. Zum einen weiter Dieter, anknüpfen an die Aussagen seines Lebens im Freien am See vor anderthalb Jahren. Fragen, wie er dazu kam, diese Lebensform zu wählen.. Zum anderen sehen, ob ich mit Heiner ein Interview führen kann, ihn fragen. Ferner zu Truck, erkundigen wg. den Beerdigungstermin von Mikel. Ihm muß ich auch verklickern, daß ich ihm nicht permanent Storys abkaufen will. Anknüpfen an die Situation von Montag. Fragen, was geworden ist.

Heute wieder sonnig, ein paar Grade über null, es taut. Richtiges Forscherwetter. Bei einem solchen Wetter müßten auch die Leute einigermaßen gut drauf sein. Naja, vielleicht sind sie schon wieder breit und weg. Mal sehen.

Okay, bin dann los Richtung Hansaplatz. Sehe Zoo den Kumpel von Siggi, den ich Montag getroffen hatte, aber nicht Siggi. Stand da am üblichen Platz rum, bin aber nicht ganz sicher, ob er es auch wirklich war. Hansaplatz waren auch einige Leute, z.B. auf den Bänken, aber nicht unbedingt von der Zielgruppe. Zwei, die ich dafür hielt, sind da auch rumgelaufen. Dann sah ich auf dem Fahrrad den Typen ankommen, den ich auch schon Montag auf der Turmstraße gesehen hatte. Vorne über dem Lenker Plastiktüten und Taschen, hinten auf dem Gepäckträger auch, altes Fahrrad. Der Typ selbst hat einen langen grauen Bart, kann aber noch nicht so alt sein, von seinem Gesicht her. Vielleicht zwischen 35 und 45. Um das genauer sagen zu können, habe ich ihn nicht lange genug sehen können. Ging dann die Lessingstraße runter Richtung Moabit bis zur Lessingbrücke, dort links runter am Kanal entlang wo die Hansaschule ist. Auf der Seite gegenüber einer, der langsame Meditations-Bewegungsübungen machte. Faszinierend, ihm zuzusehen. Setzte mich auf die Bank. Schönes Wetter, um sich länger draußen aufzuhalten. Heute, das spürte ich, ist nicht mein Tag, um groß wieder Feldforschungskontakte anzufangen. Wieso eigentlich. Ich stellte mir vor, was die Kollegen da an der Markthalle wohl machen. Sie würden auch in der Sonne stehen, Bier und Gemisch trinken und wieder dusslich quatschen. Vielleicht war das - im Nachhinein- eine der schockierendsten Erfahrungen am Montag, alles so wie vorher. Und ich kann im nächsten Herbst hingehen, und dieselben Leute werden wieder da stehen und wieder dusslich quatschen und saufen.

Haben die Leute mir intellektuell was zu sagen? Eigentlich nein. Beneide ich sie ob ihrer Erfahrungen? Vielleicht- aber das ist schon ziemlich abgedreht. Worum geht es mir eigentlich noch? Habe ich das Interesse verloren, weil offenbar nichts dramatisches passiert, weil ich mich an das trübe einerlei des Alltags gewöhnt habe, weil ich sehe, da ist kaum mehr was zu löten? Eigentlich nicht- eigentlich ist das immer noch eine total faszinierende, weil weithin unbekannte Welt für mich, allein was mit beispielsweise Dieter erzählt hat. Ich glaube, bei mir ist irgendetwas vordergründig emotionales kaputtgegangen, irgendwie ist der Weg für mich eher ersichtlich, nunmehr sehr sachlich da ran zu gehen. Stimmt das? Ja, da ist was dran.

Ich glaube, mein "apostolisches" Sendungsbewußtsein ist dahin. Ich bin mehr und mehr bereit, die Sachen sachlich zu sehen und nicht mehr so emotional aufgeladen. Diese emotionale Aufladung war sehr vielschichtig, zum einen ein bestimmter Leistungsdruck, zum anderen auch eine ungeklärte Faszination, die jetzt in gewisser Weise weg ist, dann aber auch der missionarische Glaube, etwas bewirken zu können. Nein, zunächstmal kann ich nichts bewirken. Ich bin einer unter vielen, mit denen diese Leute Kontakt haben. Ich kann ihnen nicht in diesem vordergründigen Sinne helfen, und mir ist auch klar geworden, das ist auch nicht das, was die Leute von mir erwarten. Ich bin mir im klaren darüber, daß das nur eine sehr unzureichende Beschreibung dessen ist, was in mir vorgeht. Eine gewisse Ernüchterung. Ich bin nicht frustriert, sondern ich glaube, daß sich abzeichnet, daß meine Auseinandersetzung mit diesen Leuten und mit diesem Problem Wohnungslosigkeit eine neue Qualität erreicht. Ich glaube, ich weiß genauer, was passiert, wenn ich mich in diese Situation der Unmittelbarkeit hineinbegebe. Ich lasse mich nicht mehr davon in diesem Maße einwickeln. Ich erlange meine Subjektivität zurück. Ich bin in der Lage, zu distanzieren. Natürlich bin ich immer noch unsicher. Aber diese Unsicherheit ist nicht mehr so elementar und so fundamental wie früher. Ich finde auf diese Art und Weise meinen Standpunkt wieder.

Allerdings, im Moment fühle ich mich noch etwas leer. Aber nicht leer im Sinne von ausgepowert, sondern das ist eine Art kreative Leere. Eine konzentrierte, oder eine kontemplative Leere. Ich glaube, das es in nächster Zeit möglich sein wird, sehr gut und sachlich konzentriert zu arbeiten. Und auch dieses Gefühl von extremer Angst und Unwohlsein im Vorfeld meiner Feldforschungen ist ziemlich weg. Ich habe nichts mehr zu befürchten, ich befürchte nichts mehr, ich kann das. Okay, es ist anstrengend, zum Teil auch immer noch unangenehm, Feldforschung zu betreiben, aber es wird zu einem normalen Bestandteil meiner Arbeit und stellt nichts besonderes mehr da. Er ist so normal wie Briefe schreiben oder transkribieren oder irgendetwas anderes.

Wenn ich das vergleiche mit meiner Arbeit bei der Kunstspedition, was habe ich an Blut und Wasser geschwitzt, als ich das erste Mal alleine auf dem Bock saß. Und auch später noch immer wieder, allein wenn ich an die Einfahrt von Pels-Leusden denke. Und im Laufe der Zeit und mit der Routine wendete sich das Blatt, es begann mir Spaß zu machen, ich fühlte mich gut dabei, und erreichte ein gehöriges Maß ab Souveränität, bei dem ich mich pudelwohl fühlte: el capitano auf dem Bock, Beine hoch und down the highway des Nachts mit Frank Zappa aus den Boxen, alles klar. Selbständigkeit - ich hab das dann so gemacht, wie ich es wollte, geil, einfach geil.

Das emotionale Gewitter nimmt ein Ende, und danach ist die Luft so rein und so frisch, es ist einfach großartig. Vielleicht muß ich es einfach zur Kenntnis nehmen, daß ich mich sehr schwer tue, bei Sachen, die ich nicht gewohnt bin, auf die ich mich erst einlassen muß, die für mich neu sind. Daß ich darunter leide, daß ich viel, viel Angst immer habe, daß ich mich quäle und so weiter. Ich krieg das nicht weg, es ist ein Bestandteil meiner Selbst und ich muß damit umgehen. Ich muß zur Kenntnis nehmen, daß es so ist und so sein wird. Ich kann, bei aller Entwicklung, die ich in Gang setze, nicht über meinen eigenen Schatten springen, sondern bin an mich selbst gebunden. Ich verstehe das als die widerspruchsvolle Spannung zwischen Kontinuität und Veränderung, die ein Teil meiner Persönlichkeit kennzeichnet.

Okay, genug dieses Gesülzes.

Was mir auf der Bank klargeworden ist heute, muß ich jetzt auch mal diskutieren. Ich habe mir vorgestellt, die Tür hinter meiner Wohnung sei zugeschlagen und ich könnte nicht mehr zurück. Dieser wichtige Gegenstand meines Lebens wäre ein für alle mal verloren. Was würde ich dann tun, wenn mir keine Möglichkeit bliebe, einen Ersatz zu finden. M.E. sind die sozialen Beziehungen der Wohnungslosen untereinander versuche, diesen Gegenstand zu ersetzen. Das, was ich an der eigenen Wohnung habe an Zuflucht, Geborgenheit, Ruhe, Sicherheit, Orientierung undsoweiter, dafür suche ich einen Ersatz. Ein bloßes Bett, ein bloßer Schlafplatz ist kein Ersatz für das, was an der Wohnung hängt. Mit dem Verlust der Wohnung bin ich auf die Straße geworfen, es gibt keine Peilung mehr, er ist, als wäre auf offener See der Erdmagnetismus aufgehoben, ich weiß nicht mehr, wo es hingeht, wo es langgeht, wohin ich treibe oder fahre ist zwangsläufig unbestimmt, und damit ungewiß geworden. Das Risiko ist ungleich größer geworden, was auf mich zukommt, ist nicht mehr abschätzbar, nicht mehr kalkulierbar. Ein wichtiges System menschlicher Orientierung ist zusammengebrochen. Es gibt keinen Ort mehr, zu dem ich hingehen kann. Die Straße, die Stadt, das ist wie das offene Meer.

Kontrollverlust.

Auf sich selbst zurückgeworfen sein.

Menschsein funktioniert aber nur in der Entäußerung seiner Selbst. In der eigenen Wohnung kann ich mich gehen lassen, um wieder zu mir zu kommen, um mich sammeln zu können. Die eigene Wohnung als Gegenstand absoluter Entäußerung, als lebenswichtiger Gegenstand, als Lebensmittel. Ohne dieses Mittel der absoluten Entäußerung geht Menschlichkeit verloren, weil sie ohne das sich gehen lassen nicht mehr zu sich selbst zurückfinden kann. Der lebensnotwendige Umweg. Wohnungslos sein ist wie fasten: Ohne die Zufuhr an wichtigen Lebensmitteln ist der Organismus auf seine eigenen Bestände angewiesen, er muß aufbrauchen, was er an körpereigenen Vorräten angelegt hat. Das geht nur eine bestimmte Zeit lang gut, dann wird die Substanz angegriffen. Der Organismus braucht sich selbst auf.

Isolation, das ist die Selbstvernichtung. Der Prozeß des Zugrundegehens, weil nichts mehr da ist außer eigene Bestände.

Ebenso geht das Wohnungslos werden als Verlust dieses lebenswichtigen Mittels an die eigene Substanz. Kann dieser Stoff Wohnung, der so lebenswichtig ist, durch andere Stoffe ersetzt werden. Ja und nein.

Natürlich kann vieles, was in der eigenen Wohnung konzentriert war an Handlungen und Tätigkeiten umgestellt werden, das ist der Schlafplatz irgendwo, die Möglichkeit an Kleider zu kommen, Essensbeschaffung, Waschen in öffentlichen Toiletten und tausende anderer Sachen. Das zu realisieren, ist an und für sich keine unmögliche Aufgabe, dieser Beweis wird laufend angetreten, Menschen sind ja so unglaublich flexibel, anpassungsfähig, lernfähig usw. Das alles ist schwerer geworden, die Handlungen und Tätigkeiten sind nicht mehr auf diesen herausragenden Gegenstand Wohnung konzentriert, sondern operational und zielbezogen aufgegliedert und aufgefaltet, alles klar. Aber was ist mit diesem Sachverhalt der Entäußerung, des sich gehen lassens, dieser Transzendenz. Das ist sicher nicht nur an die eigene Wohnung gebunden, das ist klar. Wenn ich mich an mich selbst erinnere, ist auch die Arbeit, die Kommunikation, aber auch der Alkohol ein Punkt, mich zu verlassen, um in irgend einer Weise zur mir selbst zu finden. Und es gibt tatsächlich genug Leute, die sich in ihre Arbeit flüchten, in Beziehungen, in den Suff, in sich selbst, und alles das sind auch Strategien, sich selbst zu vermeiden, oder vielmehr die Auseinandersetzung mit dem Selbst. Ich denke, die Kommunikation, die die Wohnungslosen untereinander herstellen, ist auch als ein Versuch zu verstehen, das, was sie mit ihrer Wohnung als Ort der Entäußerung verloren haben, zu ersetzen. Zu rekonstruieren. Und daß kann sich mischen mit der gemeinsamen Entäußerung durch Alkohol, oder der gemeinsamen Lebensbewältigung oder einfach nur darin, seinen ganzen Ärger jemandem anderen sagen zu können. Und wenn sich diese sozialen Kontakte als in diesem Sinne nützlich erweisen, werden sie immer und immer wieder gesucht werden. Insbesondere dann, wenn auch keine andere Alternative greifbar scheint.

Was ist mit diesen Leuten, die als Penner offensichtliche Einzelgänger sind. Waren sie es schon immer oder sind sie es erst geworden, nachdem sie erlebt haben, wie dieser Kommunikationszusammenhang zu anderen Betroffenen ist und sie mit dieser Form nicht mehr zufrieden waren.

Allerdings es scheint zu philosophisch, nur auf diesen Zusammenhang der Entäußerung herumzureiten. Um einen sozialen Bezug zu anderen Betroffenen herzustellen, gibt es sehr viel mehr handfestere Gründe. Der andere hat Geld und Stoff. Es ist möglich, davon zu profitieren, jedenfalls eine zeitlang. Dieses Geworfensein, die damit verbundene Unsicherheit läßt sich viel besser durchstehen mit anderen.

Sie sagen zwar immer, sie hätten keine Angst, und als bestimmendes Lebensgefühl dürfen sie sich Angst auch sicher nicht erlauben, aber sie ist doch vorhanden, wenn z.B. die Platte ständig in Gefahr ist, kaputtgemacht zu werden, wenn sie Leute ständig befürchten müssen, überfallen und ausgeraubt zu werden, im Schlaf unterbrochen zu werden, mit dem Messer angefallen oder beim Schlafen auf der Toilette zusammengetreten zu werden.

Einige Leute sagen auch ziemlich klar, es gehe gar nicht darum, sich sinnlos zu betrinken, weil das sei viel zu gefährlich.

Aber wieso ist dann diese Gemeinschaft, die immer und immer wieder beschworen wird, nicht so produktiv und so toll und so weiterbringend, wie die Leute sagen. Warum erlebe ich diese Gemeinschaft als so widersprüchlich, als so brüchig, als so wenig beständig. Was spielt da rein, daß das nicht ein Sozialismus der Armut, sondern etwas anderes ist?

Die bürgerliche Alltagsideologie hat dafür den Hinweis, daß jeder sich selbst der nächste ist und daß das insbesondere für die Zeiten der Not gelte. Der Mensch, so wird gesagt, ist ein von vorneherein egoistisches Wesen. Er ist es von Geburt an. Es wäre also im Gegensatz dazu zu zeigen, wie sehr diese brüchige, widersprüchliche Gruppensituation sozial gesellschaftlich von sozialen gesellschaftlichen Menschen zustandegebracht wird.

Die ganze individuelle Entwicklung der Wohnungslosen wurde, wie bei allen anderen Leuten auch, bestimmt von dem Sachverhalt, daß in der Gesellschaft der Verwertung des Werts und der Konkurrenz jeder letztlich auf sich selbst verwiesen, auf seine eigenen Bestände verwiesen ist. Genauso, wie die Elendstheorie nicht stimmt, - wenn es nur genügend Leuten genügend schlecht geht folgt daraus erstmal gar nichts - so ist das auch mit der Armutssolidarität. Wenn es vielen Leuten schlecht geht, folgt da überhaupt nicht draus, daß sie deshalb zusammenhalten. Wenn sie das aber doch tun, hat es für sie zum einen einen praktischen Nutzen, und zum anderen auch eine ideologische Bedeutung, d.h. sie verbinden einen bestimmten persönlichen Sinn damit. Damit ist etwa die Überlegung gemeint, die soziale Kommunikation hätte eine Ersatzfunktion zum Beispiel für die fehlende eigene Wohnung. Die Bedeutung, d.h. der persönliche Sinn, den die Betroffenen mit ihrer Gruppensituation verbinden, scheint diese These durchaus zu belegen. Auch ich ideologisiere bestimmte Sachverhalte, daß heißt, ich sehe sie anders, als sie tatsächlich sind und dieser Zusammenhang hat ja auch eine bestimmte alltagspraktische, mich orientierende Funktion. D.h. dann aber, so wie die meisten Bürger an die Demokratie als das Mittel für ihr Wohlbefinden glauben, was es aber de facto nicht ist, wie sich zeigen läßt, so glauben die Wohnungslosen an ihre Gruppe, obwohl sie Tag für Tag die Bestätigung erhalten, daß das eine faustdicke Lüge ist. Das liegt dann offenbar daran, daß der Glaube daran eine wichtige alltags- und lebenspraktische Funktion hat, zum einen, zum anderen, daß der Glaube daran auch das zu den herrschenden Zwängen richtige, d.h. persönlich adäquate Denken ist. Ich würde mich selbst ja noch viel mehr fertig machen, wenn ich wahrnehmen und glauben und wissen täte, daß alle diese Beziehungen, in denen ich Leben, zu einem großen Teil für den Arsch sind. An diesem Punkt anzuknüpfen heißt, die Unmittelbarkeit des Denkens aufzubrechen, daß ist das, was Leontjew sagt, wenn er vom Kampf um die Köpfe und damit verbunden auch vom Kampf der Bedeutungen spricht, bzw. letztlich auch das, was die Kollegen von der kritischen Psychologie letztlich wollen.

Aber wohin führt das. Die Wohnungslosen wissen selbst sowieso schon mit einer tendentiell ganz klaren Peilung, daß es nicht in ihrer Macht steht, Wohnungen herzustellen. (Nein, das ist eine schlechte Formulierung des Problems) Wollte sagen, bloß wegen richtiger, d.h. angemessener Bedeutungen von der Sache ist das Problem noch lange nicht gelöst und es sieht auch so aus, daß die Betroffenen lange nicht die Mittel haben, daran etwas zu ändern. Das ist eine objektiv ziemlich beschissene Situation. Aber geht es uns beispielsweise mit dem Golfkrieg nicht ganz genauso?

Damit ist aber auch die ganze Dimension und Tragweite des Forschungsprojekts benannt, hier wird paradigmatisch geforscht und probiert. Was hier an möglichen Handlungsperspektiven und Lösungsmöglichkeiten herausgearbeitet werden kann, hat beispielhaften Charakter für das Thema menschliche Gesellschaft und gesellschaftliche Menschen als Gegenstände bewußter Prozesse in ihrer gegenseitigen Bedingtheit und Wechselwirkung. Scheiße. D.h. ich bin wieder dran an diesem alten Königsthema.

Naja. Gut, das ich das in diesem erzählenden Denken und Schreiben mal wieder herausgearbeitet habe, worum es mir mit meiner Wissenschaft überhaupt geht. Mann, Mann, Mann. Trotzdem, ich muß konkret herunter, oder herauf, je nach dem.

Okay, ich habe noch ein wenig Zeit, bis ich los muß. Ich versuche, noch etwas bei dieser Analogie Wohnungslos zu sein und Golfkrieg zu bleiben. Ain't nothing you can do? Ist das so? Oder wie sind die Kräfte des einzelnen zu bestimmen.

Ich sehe zwei Richtungen. Zum einen wegkommen von diesem einschränkenden, ideologischen Denken. Das Denken muß adäquat, d.h. der Realität möglichst angemessen sein. Und zum anderen, alleine bist du in der Tat ziemlich angeschissen. D.h. du mußt eine gemeinschaftliche Tätigkeit entwickeln und entfalten. Verdammt, das sind alte, einfache, und an und für sich banale Tatsachen.

Protokollnotiz 35 von Donnerstag, dem 25.4.1991, 11:30 - 14:00

Mit Fahrrad unterwegs. Manne Hansaplatz getroffen. Da waren noch einige andere Leute anwesend, aber kaum Kontakt. Mich mit Manne lange unterhalten. Dann noch ein wenig Turmstraße langgefahren - Manne wiedergetroffen, kurze Beobachtungen Kleiner Tiergarten.

Was Manne so alles erzählt:

Der Gesprächseinstieg ist, daß ich mit dem Fahrrad komme. Ich erzähle, daß ich mir das Heimatmuseum ansehen wolle. Dann reden wir darüber, und setze mich zu ihm, er sondert sich im Verlauf des Gesprächs immer weiter von den anderen ab. Auch die anderen gehen etwas auf Distanz.

Er hat einen Sohn, 13 Jahre, war verheiratet, hat sich früher viel in Moabit engagiert, z.B. auch 3. Welt Laden beim Dominikanerkloster oder bei EBI? (Eltern von Kindern, die in Sekten sind.) Trifft in den nächsten Tagen seinen Sohn, wegen Wäsche waschen.(?). Hat Sonntag - Dienstag drei Tage im Asyl der Franklinstraße übernachtet, das geht drei Tage im Monat, es gibt aber auch Leute, die da schon seit 6 oder 8 Wochen wohnen (Arbeit haben, aber keine Wohnung). Das sei bei ihm früher auch so gewesen, er hatte Arbeit, aber keine Wohnung. Zu dem Zeitpunkt, als das Stück von der Pennerin-Frau im Gripstheater lief. Das habe er auch gesehen und fand es sehr treffend.

Er war jetzt die letzten Wochen im Krankenhaus, konnte deswegen auch nicht bei Meikels Beerdigung am 4. März dabeisein. D.h. er war ca. 6 Wochen oder länger im Krankenhaus. Hat versucht, Siggi zu finden. Im Gefängnis kann der seinen Angaben zufolge nicht sein (wieso nicht?), er hat verschiedene Krankenhäuser abgeklappert, konnte ihn aber nicht ausfindig machen. Deshalb geht er davon aus, daß Siggi in einer Geschlossenen Abteilung ist für Alkoholentzug. Vielleicht sogar in Bonnies Ranch, dort haben sie auch so eine Abteilung. Bei einer geschlossenen Abteilung komme er nicht an die Informationen ran, wegen Datenschutz.

Während der ganzen Zeit hat Manne auf Bekannte gewartet, die aber nicht kamen. Etwa nach 20 Minuten fragt er mich, ob ich ihm ein Bier ausgeben könne. Ich willige ein, er paßt solange auf mein Fahrrad auf, ich trinke ein Alkoholfreies.

Manne berichtet von zunehmender Gewalttätigkeit, sowohl der Obdachlosen untereinander als auch den Obdachlosen gegenüber. Plötzlich werden Leute ausgeraubt von ihren besten Kumpels, und die verschwinden dann. Er kenne Leute, die hätten über 1 Jahr zusammen gelebt, gewohnt, und das Geld, was sie anrudern, zusammengelegt. Es seien wohl über 800 Mark zusammengekommen. Einer von den dreien sei dann für eine kurze Zeit weggewesen, und als er wiederkam, seien die anderen mit dem Geld verschwunden. Auf seiner Nachforschungen hin erfuhr er, daß sie mit dem Zug unterwegs nach HH seien.

Diese Situation produziert also auch eine "Wanderung" zwischen den Städten, die direkt nichts mit der vertreibenden Hilfe zu tun hat.

In einer anderen Situation waren ebenfalls drei Leute. Einer von ihnen hatte Geld erhalten, und sie haben am Abend zusammen getrunken. Der mit dem Geld sei am meisten besoffen gewesen. Dann seien sie S-Bahn gefahren. Plötzlich seien drei Leute vor ihnen gestanden, die beiden anderen wären gleich wach gewesen, denen hätten sie nichts gemacht, den anderen hätten sie aber das ganze Geld abgenommen. Auf meiner Frage, wer denn diese Leute seien, sagte Manne, Jugendliche, beispielsweise Skinheads.

Er sei beispielsweise am Samstag, den 20. 4. mit einem Freund am Flughafen Schönefeld gewesen, weil es an diesem Tag kalt gewesen war, um sich dort aufzuwärmen. Da seien einige Skinheads gekommen. Er habe gleich zu seinen Freund gesagt, komm, wir gehen hier weg. In der Situation seien die Obdachlosen dort vor Ort, etwa 15 Personen, noch in der Überzahl gewesen. Dann seien aber mehr Skinheads gekommen. Er sei dann rübergegangen in das Flughafengebäude. Dort sei seit letzter Zeit nicht mehr so viel los. Vielleicht 6 Flüge am Tag. Er habe dort den Leuten seine Situation erklärt und die seien damit einverstanden gewesen, daß er mit seinem Freund in einer etwas abgelegenen Ecke übernachten könne. Sie hätten ja auch nichts beigehabt, weder Alkohol noch Zigaretten. Mit mehreren Personen, zum Beispiel mit 8 Leuten sein das dort schon wesentlich schwieriger. Bei acht Leuten sind nie alle "hohl", daß heißt einer habe immer Alkohol dabei. Dann gäbe es häufig Probleme: Streit usw.

Letzte Nacht habe er bei einem bekannten Ehepaar übernachtet. Sie sei etwas psychisch nicht in Ordnung, der Mann Alkoholiker. Er hätte sich dann gleich auf die Matratze gelegt, aber die beiden im Schlafzimmer hätten noch die halbe Nacht lang laut gestritten.

Die vielen anderen, die jetzt auch hier am Hansaplatz waren, das sei eigentlich der Kreis von Bahnhof Zoo. Die hätten zum Teil persönliche Kontakte zu den Polizisten dort: Die Polizisten würden sie beim Vornamen kennen. Als Manne einmal von einem der Polizisten (Kriminalpolizei?) angesprochen wurde, daß er ein neues Gesicht sei, sagte Manne, er habe auch keinen Haftbefehl o.ä. am laufen. Das überprüfte der Beamte am Computer und fand tatsächlich auch keinen Hinweis. Allerdings, Vorstrafen würden dort nicht gespeichert sein.

Er erzählte, daß er vor einiger Zeit mal bei einem Ladeneinbruch in Ost-Berlin zusammen mit anderen erwischt worden sei. Die Tasche habe er dann gleich da stehen gelassen. Allerdings hatte er sich viele Schachteln eingesteckt. Das würde nicht abgenommen werden. Als er dann in Untersuchungshaft(?) war, konnte er davon profitieren. Er bekam die Zigaretten zum Rauchen. Nachdem fast 46 Stunden vergangen waren (max. 48, wer bis dahin nicht dem Haftrichter vorgeführt wurde, muß ohne weitere Überprüfung entlassen werden), wurde er aufgefordert, zu gehen, ohne daß weiter etwas passiert sei. Er denke, in dieser Sache werde noch etwas auf ihn zukommen. Wegen Bruch wird das Verfahren nicht eingestellt, z.B. wegen Geringfügigkeit wie bei kleinen Diebstählen.

(Was mir an den Leuten gefällt, ist die scheinbar souveräne Art, wie sie mit dem Arm des Gesetzes umgehen und anscheinend genau bescheid wissen, was ihnen blüht. So cool bin ich nicht. Ich schrecke immer noch zusammen, wenn ein Bulle mich anspricht. So sehr hab ich obrigkeitliche Strukturen verinnerlicht. Irgendwo in mir drin ist etwas so furchtbar "anständiges", ich habe die Spielregeln offenbar angstvoll verinnerlicht, dahingehend, mich "angepaßt" wie der brave Bürger, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen, zu verhalten. Konventionen, Bedeutungen, Recht und Ordnung - der Überbau der Produktionsverhältnisse und die Psychologie. Wieso sind einige von den Leuten in dieser Hinsicht so anders drauf und ich nicht. Ist diese Abgebrühtheit eine Art Zynismus aufgrund leidvoller Erfahrungen?)

M. berichtet von einem anderen Obdachlosen, der vorbeigegangen sei und klaue, wie kein zweiter: Er gehe in Bolle oder andere Läden rein, packt dann die Plastiktüte aus und steck 4 Flaschen Schnaps hinein - meist Aspach, den er dann draußen verkaufe - und wandere dann einfach mit der Tüte an der Kasse vorbei nach draußen. Ein anderes Mal hätte M. ihn gesehen mit dem ganzen Arm voller Armbanduhren. Und wenn er dabei erwischt werde, würde man ihn ja doch nur wieder laufen lassen. Man könne dagegen nichts machen, er hätte eine Art "Jagdscheinparagraph" - also er sei vermindert schuldfähig und haftfähig oder gar nicht (?). Auf meine Frage, warum er denn nicht in einer psychiatrischen Anstalt sei, sagte M., das würden sie nicht machen, das sei zu teuer. Außerdem kämen in solche Einrichtungen nur Leute, die irgendwie für andere gefährlich seien. Und Ladendiebstähle? Man würde das Diebesgut dann eben dem Laden wieder zurückgeben und fertig.

(Es ist interessant: Diese meisten Berichte beziehen sich auf Diebstahl von Alkohol, manchmal Zigaretten, Kleidungstücke. Also auf Stoffe, die unmittelbar in nächster Zeit umgesetzt werden können - oder auch verkauft werden - meistens an andere Leute aus der Szene. Es sind offenbar Risiken, die in Kauf genommen werden, weil das was da droht, bedeutungslos geworden ist. Ich weiß nicht, mich schreckt der Gedanke, bei einem Diebstahl erwischt zu werden, ganz schön ab, das zu tun. Mit einer Vorstrafe mir meine weitere Berufliche Zukunft vorzustellen, oder gar wegen einer Sache in den Knast zu kommen? Dazu noch diese ganze Aufregung, das Herzklopfen. Aber die ganz großen Dingen, die ziehen die Kollegen ja auch nicht ab... - Kleinkriminalität. Und wenn du dann noch ohne Ausweis oder ohne Wohnsitz mit nur einer Behelfsadresse bist - was soll dir da schon groß drohen? Auf der anderen Seite wird damit ein irgend möglicher Weg aus der Situation erst recht zugebaut - aber, was rangiert hier was? War der Weg raus nicht auch schon vorher dicht? Oder ist den Leuten in der Lebenssituation das Hemd näher als der Rock?)

M. hat sich im Winter auch überlegt, ob er nicht für ein paar Wochen in den Knast gehen soll. Er berichtet von einer Situation, wo er sich mit einem Polizisten (?) mal drüber unterhalten hat. Also, mit einem einfachen Diebstahl sei das nicht zu haben. Mit der Information sei das Projekt für ihn gegessen gewesen.)

M. überlegt, ob er nicht nicht heute in den Warmen Otto gehen solle. Dann aber sagt er, dafür sei heute zu gutes Wetter. Er erzählt davon, daß er bis 2 Uhr Zeit habe, dann wolle er irgendwo sein (Verabredung?). In der Levetzowstraße sei er zwei Mal die Woche. Hauptsächlich zum Waschen. Morgen habe er wieder seinen Waschtag.

Die Leute vom Zoo, die sich heute hier aufhalten - das sei ihm langsam zuviel wieder. In solchen Situationen würde er dann lieber rübergehen an die Bücherei ganz in der Nähe. Da sei es ruhiger. Das habe er mit Meikel öfter gemacht, damals. In der Bücherei gäbe es auch einen Innenhof, da könne man sich reinsetzen, er würde dort häufig seine zwei, drei Bier gemütlich trinken, dort könne er auch rauchen und Zeitungen und Zeitschriften und Bücher lesen. Danach würde er alles sorgfältig wieder zusammenräumen, um keinen Dreck zu hinterlassen.

(Das ist eine häufige Argumentationfigur: Viele andere müllen alles ein, aber ich bin ordentlich und mache keinen Dreck. Das betonen in anderen Zusammenhängen auch andere Gesprächspartner. Im Unterschied zu vielen anderen, die meistens nur BZ lesen, habe ich M. beim Lesen - ich glaube von Romanheftchen - angetroffen. Die Information, in Büchereien zu gehen, kenne ich sonst nur von Frank.)

So, wie sich die Szene vom Zoo zum Hansaplatz verlagert habe, gebe es auch eine Bewegung vom Ost-Berliner Hauptbahnhof bzw. vom Alexanderplatz zum Zoo. Besonders aus Ost-Berlin bzw. aus der DDR sei eine Zunahme von Obdachlosen festzustellen, auch auffällig viele junge Leute zwischen 16 und 25. Viele sind Haftentlassene aus den Gefängnissen der DDR, die jetzt nach Berlin kämen. Das würde in Zukunft noch weiter zunehmen mit der Entwicklung des Wohnungsmarktes und der Mietpreise im Osten der Stadt und in der DDR.

Er berichtet von einer Information eines Mitarbeiters vom Seelingtreff, der auf einer Tagung war und dort von der Idee einer Architektengruppe erzählten. Bei dieser Idee gehe es darum, aus Sperrmüll kleine Hütten zu bauen irgendwo im Stadtgebiet, in Verbindung mit Sanitäreinrichtungen. M. berichtet davon, daß dieser Mitarbeiter (Karl-Heinz?) die Obdachlosen im Seelingtreff - und dabei auch ihn - fragten, was sie davon halten, sowas auch in Berlin als Modell zu machen.

Die Einwände von M. waren, es müsse in kleinen Einheiten sein, weil, wenn es zuviele wären, würde es schwierig werden - also so vielleicht fünf bis sechs.

(Das deckt sich mit dem Diskussionsstand der Nichtseßhaftenhilfe, die Massenunterbringungen problematisiert, weil sich dort die Probleme potenzieren würden). Ein zweiter Einwand war, daß damit die Obdachlosen noch viel mehr angreifbar wären, als daß sie es jetzt schon sind. Es wäre einfach jedem klar, da sind die Hütten, da wohnen die Obdachlosen. Das wäre nur zu lösen, wenn regelmäßig eine Streife oder eine andere Art von Wache da wäre, die für den Schutz garantieren könne. Es selbst könne sich gut vorstellen, daß man solche Hütten irgendwo auf dem Gelände im Tiergarten aufbauen könne. Das würde ja nicht überall gehen, die Nachbarschaft wäre auch noch ein Faktor, der zu bedenken wären.

Als dritten Einwand nannte er, daß diese Hütten natürlich nicht irgendwo am Arsch der Welt, also irgendwo außerhalb der Stadt oder in den Randgebieten sein dürfe. Da würde keine hinwollen. Die Leute würden in die Zentren der Stadt wollen, weil dort die Möglichkeiten einfach besser seien.

(Hier wäre der Punkt, warum gerade so Ort wie Bahnhöfe, aber auch Hansaplatz usw. eine besondere Anziehungskraft ausüben. Was gibt es da, was es in Mariendorf nicht gibt?)

Ansonsten bewertet M. diese Idee positiv, auch wenn nicht zu erkennen war, daß er sich in dieser Sache besonders engagieren würde/wolle.

Ich spreche ihn auf das Theaterstück in Ost-Berlin an. Das kenne er, - das sei das, wo die Leute ihre eigene Situation spielen würden - aber er habe kein Interesse daran, es habe genug damit zu tun, sich selbst hier zu spielen.

(Diese Bemerkung verweist mich auf die Beobachtung, das die Gesprächssituation bei M. mit mir irgendwie eine ganz andere ist als die, wie er mit den anderen Leuten umgeht. Das ist mir aber schon auch bei Vaddern aufgefallen. Das ist so ein ähnlicher Unterschied wie Hochsprache und Dialekt - nur noch wesentlich komplexer. Das hat sicher etwas mit einer Art Vereinfachung der Kommunikation im Umgang mit Betrunkenen zu tun. Die Sprachrituale haben dann vielfach, wenn sie auf andere bezogen sind, die irgendwie in unsere Gesprächssituation hineinfunken, eine beschwichtigende Funktion - das geht schon fast in die Richtung von extrem verkürzten Ritualen: "Alles okay; alles klaro; Nein, es ist nichts; Ja, du hast ja recht; usw. Diesen Zusammenhang noch genauer untersuchen.)

(Das ist noch lange nicht alles, was er mir an Wissenswertem erzählt - Mangel an Speicherfähigkeit, Ende der Konzentrationsfähigkeit beim Protokollieren). Als ich ihm dann sage, er sei ja ein Richtiger Experte in Sachen Obdachlosigkeit, sagte er, das könne ich wohl laut sagen.

Mir wird kalt, ich habe langsam genug gehört für heute, kündige an, daß ich mich verabschieden wolle. Spreche ihn darauf an, daß ich Lust hätte, mit ihm was zu unternehmen. Er ist nicht sonderlich euphorisch - dafür ist mein Angebot sicher auch zu unpräzis gewesen - aber auch nicht abgeneigt. Er erzählt von Konzerten und sonstigen Veranstaltungen, die wohl gelegentlich in der Bücherei stattfinden würden. (War das so eine Art zugeworfener Ball?)Er gibt mir eine Beschreibung, daß er häufig hier zu finden sei, und wenn nicht hier, dann vor oder in der nahegelegenen Bücherei. Wir verabschieden uns auf ungewisse Zeit.

(Ich hätte mich konkretisieren sollen - genauere Vorschläge machen. Vielleicht. Aber ich bin so schüchtern. Ich glaube, da steck auch ein wenig die Furcht drin, daß ein Vorschlag von mir abgelehnt zu werden. Auf dem Weg weiter denke ich, ich sollte ihm das nächste Mal den Buntsprecht mitbringen, oder die Aufzeichnungen aus einer Wanderherberge. Kann mir auch gut vorstellen, mit ihm einfach rumzusitzen in der Bücherei und zu lesen. Oder ihn als Fachmann für Obdachlosigkeit gezielt zu befragen. Aber ich glaube, an diesem Punkt fange ich an, Fehler zu machen: Eigentlich hat er den Hauptteil des Gesprächs bestritten, die meisten Informationen kamen von ihm - ich habe ihm dafür ein Bier spendiert. Wenn ich jetzt weiter und konsequenter von ihm nur Informationen abziehen will, wird das total einseitig. Er wird sich dann vielleicht nur noch als Informationslieferant vorkommen - und das wird ihm dann bestimmt auch schnell zu dumm. Also: ich muß mehr investieren als ein Bier - das er mit Sicherheit auch so sich hätte organisisieren können -. Okay, aber was? Der Buntspecht? Mit ihm Boccia-spielen. Ein Grillen im Tiergarten? Einen Ausflug machen. Das Peter-Weis-Museum. Allein das Gefühl bei ihm, er sei mit ein nützlicher Informationslieferant - das wäre auch mir, wenn ich an seiner Stelle wäre, zuwenig. Wenn ich für Leute etwas gemacht habe, dann meistens immer, weil ich das Gefühl hatte, da kommt auch für mich was bei rum - auch wenn ich noch nicht so genau wußte, was das war. Also, was ist das, was kann das sein?

Protokollnotiz 36 von Freitag, dem 10. 5.1991; 9:45 - 16:30

In den Warmen Otto gegangen, Heinz, Frank, u.a. getroffen. Mit Frank und Hans (Soz.Arb.) u.a. Doppelkopf gespielt, später kam dann auch Achim (?) dazu, bis zum Schluß, 13:00 gespielt, dann mit Frank und Heinz in die Kneipe zu Bier eingeladen, bis 16:30 gequatscht, dann Auflösung.

Wollte auf der Hinfahrt mit dem Fahrrad Hansaplatz Manne treffen, der war da aber nicht aufzufinden.

Heinz Quitzowstr.
Schulden,
Alkohol, Therapien, Knast, Lebenslage
5. Jahre Platte?, 18.5. Geburtstag

Heinz erzählt von Annemarie, der Pastorin und Leiterin der Wärmestube in der Schillerpromenade. Vor etwa drei Jahren hätte sie ihn mal angesprochen und gesagt, sie hätte eine Wohnung für ihn. Heinz sagte, er war daran interessiert und sagte, daß er dann gerne den Mietvertrag haben wolle zum unterzeichnen. Darauf sagte sie, daß er die Wohnung haben könne, daß sie dann mit ihm aber eine schriftliche Vereinbarung abschließen wolle. Diese Vereinbarung würde verschiedene Punkte umfassen: Heinz zählte dann auf: Kein Alkohol in der Wohnung. Annemarie hätte einen zweiten Schlüssel und wäre berechtigt, jederzeit in die Wohnung zu kommen, tagsüber und auch nachts, wenn er zuhause wäre und auch während seiner Abwesenheit. Damit war Heinz aber nicht einverstanden und lehnte das Angebot ab. Er erzählte dann noch, daß er ihr gegenüber gesagt hätte, wenn sie dann nachts käme, um nach ihm zu sehen, würde sie ja doch nur bei ihm im Bett landen (etwa sinngemäß).

Heinz erzählt, daß er etwa ein Jahr in einer Wohnung im besetzen Haus in der Quitzowstr. gewohnt habe. In dieser Zeit sei er immer und immer wieder in der Levetzowstr. gewesen, um zu erreichen, daß er einen Mietvertrag für die Wohnung erhält. Ihm wurde aber immer wieder gesagt, er solle die Wohnung erst renovieren, dann würde er einen Mietvertrag erhalten. Er wollte aber erst einen Mietvertrag haben, dann hätte er die Wohnung renoviert. Er sagt selbst, daß das ein Machtspielchen mit den Sozialarbeitern gewesen sei. Die Wohnung sei in einem sehr schlechten Zustand gewesen, es wäre viel zu renovieren gewesen und kaum einer wäre in eine solche Wohnung eingezogen.

Mittlerweile hätte er erfahren, daß das mit den Mietverträgen eigentlich nicht das Problem gewesen sei, sondern daß es denen von der Beratungsstelle darum ging, mit den Wohnungen in diesem Haus auch noch Sozialarbeiterstellen einzurichten. Jetzt seien zwei Stellen eingerichtet worden. Heinz lehnt das ab. Er will nicht von Sozialarbeitern beaufsichtigt bzw. betreut werden. Ursprünglich hatte er vor gehabt, mit Frank zusammen eine Zwei Zimmer Wohnung zu bewohnen. Jetzt habe er aber Abstand davon genommen und ist ausgezogen.

In einem ähnlichen Sinne äußert sich Frank, der jetzt auch in der Quitzowstraße wohnt. Er sagt, eine Auflage, daß er dort wohnen könne, sei, daß er einmal wöchentlich mit dem Sozialarbeiter spreche. Er hat inzwischen erreicht, daß ein solches Gespräch nur noch vierzehntägig oder alle drei Wochen stattfindet. Er wisse nicht, was er da reden solle, es sei viel bla bla und es käme nicht viel dabei raus. Ob er denn zurechtkomme und ob es Probleme gebe und so weiter. Aber eigentlich will er sowas nicht.

(In einem ähnlichen Sinn äußerte sich damals Kalle, der über seine Bewährungshelferin sprach. Auch er hatte die Auflage, sich regelmäßig zu melden. Er hat die Abstände mehr und mehr in die länge gezogen. Die Bewährungshelferin kam ihm dabei entgegen und sagte ihm: Hauptsache, sie melden sich überhaupt einmal in gewissen Abständen: rufen sie an oder schreiben sie eine Postkarte.

Protokollnotiz 37 von Montag, dem 27.5.1991; 16:30 - 19:00

Besuchte Frank in der Quitzowstr. 138. Wohnkollege war auch da. Versuchte schon So, ihn zu erreichen, war aber nicht da. Wohnkollege sagte, er sei auf dem Weg zu W.O. oder zur Seelingstr. Hatte aber keine Lust, nachzufahren. Hatte Kuchen dabei. Heute nur zwei Päcken Mocne. Auf dem Weg dahin vergeblich Hansaplatz nach Manne gesucht. So auch schon. Gefüllte Müllkörbe zeugten von vollbrachten Taten.

Frank lag im Bett, als ich in sein Zimmer kam. Ja, so sind sie, die ehemaligen Plattegänger: Wo andere Leute arbeiten, liegen sie in den Federn. Wahrscheinlich kommt das von nächtlichen Zechen. Tatsächlich hat Frank schon seit einigen Wochen einen Job, bei dem er Pakete verteilt. Irgend so ein Postbetrieb. Geht immer schon morgens in aller Frühe los. Für vier Stunden. Frank steht dann immer so um 2 Uhr auf. Sagt, er braucht eine Stunde zum Warmwerden. Gemütlich einen Kaffee trinken. Den Job hat er von der Börse. Kriegt dafür jeden Tag fünfzig Mark. Schwarz. Hat den Job über die Arbeitsamtschnellvermittlung, Börse. Soso, also eine Schwarzarbeitsschnellvermittlung. Als Sozialhilfeempfänger heutzutage geht das auch gar nicht mehr anders. Um die ohnehin knappen Mittel aufzubessern, kann man nicht mehr regulär nebenbei arbeiten. Das würde auf die Sozialhilfe angerechnet. Hauptsache, das kriegt keiner raus. Frank sagt, zweihundert Mark im Monat könne man wohl regulär als Sozialhilfeempfänger dazuverdienen. Was er mit dem Geld machen will? Sparen? Er sagt, er wolle sich einige Einrichtungsgegenstände dafür kaufen. Deckenstrahler. Bilder für das Zimmer. Kann gar nicht sein. Solche Typen - wenn sie schon arbeiten - versaufen ihr Geld doch nur. Ist doch allgemein bekannt. Die 400,-- DM Sozialhilfe, die er und sein Wohnkollege bekommen, gehen auch tatsächlich für das Essen drauf. Beide bekennen, daß sie das ganz gerne tun. Und das Geld, das geht dann weg wie nichts. Das ist, wie Preusser herausarbeitet. Sozialhilfe legt solche Stategien nahe. Die Arbeitsamtschnellvermittlung spielt wunderbar mit. Dadurch, daß beide in einer ähnlichen finanziellen Situation sind, gleicht sich das prima aus. Mal liegt Frank vorne - dann ist er mit einkaufen dran, mal sein Kollege. Und dann gibt es noch den Hund. Der will immer anderen Leuten an die Tüten, weil er das von seinem Herrchen gewöhnt ist, daß der früher auf Unternehmungen das Hundefutter in Plastiktüten eingepackt hat. Frank wohnt in einem Zimmer, halb so groß wie meins. Vielleicht etwas größer. Bestimmt drei Meter fünfzig hoch, Stuck an der Decke, sechs Meter lang, aber nur 2 oder zweieinhalb Meter breit. Tapeziert, in weiß gehalten, auch die Decke weiß. Ein Bett, ein Tisch, ein Ofen, ein Sessel, zwei Stühle. Ein Schränkchen. Ansonsten einige Sachen im Zimmer verteilt. Auf dem Schränkchen Franks Fernseher. Kaputt, Rückwand abgeschraubt. Heinz, sie nennen ihn den Grufti, wollte ihn reparieren. Aber das zieht sich in die Länge. Auch für einen Elektriker wohl doch nicht so einfach, die Kiste wieder zum Laufen zu bringen.

Frank bietet mir Kaffee an, den sein Wohnkollege gerade in der Küche am mahlen ist. Ich sage nicht nein. Alle Wohnungslosen sind Alkoholiker. Alle. Ausnahmslos. Durch die Bank. Sonst würden sie nicht in dieser provokanten Form mir Kaffee anbieten. Das ist der Beweis. Eine ausgekochte Strategie. Allein die Unverschämtheit, mir Kaffee anzubieten, ist der Beweis. Auf harmlos tun. Das ist renitent. Diese Jungs haben es faustdick hinter den Ohren. Kaffee - ausgerechnet Kaffee. Aber, es kommt im Verlauf dieses Nachmittags noch schlimmer. Auf dem Tisch liegt ein Teil der letzten Ausgabe der Zeit. Ein Artikel von Habermas. Daraufhin befragt, bestätigte Frank in der Tat, daß er eigentlich vorhatte, diesen Artikel heute früh zu lesen. Er wurde nur dadurch gestört, daß Heinz nachts um zwei nach Hause kam. Wer dieser Habermas sei, fragte mich Frank. Das konnte ich auch nicht so genau sagen. Soziologe, Tendenz links, Frankfurter Schule. Dann war schon aus. Das darf einfach nicht wahr sein. Einen Menschen, den ich kaum kenne, von dem zieht sich Frank schon morgen um zwei zum Frühstück einen Artikel rein. Das ist unverschämt, dreist, unglaublich. Das ist ja noch viel renitenter als das mit dem Kaffee. Wohnungslose sind nicht nur alles Alkoholiker - sie sind auch dumm. Haben gerade mal Hauptschulabschluß - wenn überhaupt, und wenn sie ein bißchen Grips haben - haben sie den auch schon versoffen, oder benutzen ihn dafür, wie man günstig Stoff besorgen und verballern kann - bis zum Abwinken. Obdachlose lesen nicht Habermas. Das ist viel zu hoch für die. Das verstehen die doch sowieso nicht. Wenn Frank Habermas ließt, dann ist das nur ein weiterer Beweis für seine Renitenz. Es ist so dermaßen verstockt, er will das alles nur vertuschen - Obdachlose und Habermas - da lachen ja die Hühner.

August ist tot. Der letzte Deutsche. Vor einem Jahr. Hatte gerade wenige Tage eine Wohnung. Verstand sich gut mit Herrmann von der Levetzowstraße. War auch bei ihm zuhause, umgekehrt hatte Herrmann einen Schlüssel von Augusts Bude. War dann eine zeitlang nicht mehr gesehen. Herrmann fiel das auf, ging dann in Augusts Wohnung. Fand ihn tot, schon seit einigen Tagen. Hatte einen Gehirntumor. Wußte selbst schon, daß er es nicht mehr lange machen würde. Rechnete jeden Tag damit, daß er hopps geht. Frank sagt, er hatte auch einen Jagdschein. Nachgefragt: Ja, so einen Wisch gibt es wirklich. Kann man vorzeigen. Kann man sich einiges erlauben mit: Bullen dumm anmachen, in der U-Bahn pissen, auch mal was klauen. Nur gröbere Sachen sind nicht so gut. Wenn die dann der Meinung sind, das sei gemeingefährlich, dann geht es ab in die Geschlossene, in die Klapper, in Bonnies Ranch. Muß man kalkulieren, was man sich damit erlauben kann.

Spinne. Stadtbekannt. Auch beim Sozi kann man Hausverbot kriegen. Damals war Spinne in Zehlendorf gemeldet. War besoffen wie eine Haubitze, ging aufs Sozi, wollte Geld abholen. Wurde wegen seines Zustands von Sachbearbeiter rausgeschmissen. Ging dann sofort weiter ins Zimmer vom Bürgermeister. Der hatte gerade eine Gruppe zu Besuch***

50/50 Operation, Krankschreibung, Sozi, weil Rente wäre mehr,
Levetzowstraße will Pension einrichten wegen kohle,
Frank: Faulheit wegen Plattegewohnheit, nichts aufräumen müssen
Kohlengeld
aus dem Osten, Schulze Mariendorf, Baugewerbe, 40000 Kohle, Kneipe, Frau, nachgekommen nach Berlin, Heirat, drei Kinder, Ehe in die Brüche, Scheidung, andere Frau, Platte, Griechenland, Esel, Reisen, arbeiten, Kohlengeld, 13 Wohnsitzwechsel in 6 Monaten, Platte statt Pension, aber einige ganz gut, wenn Zweibettzimmer und Kumpel korrekt,
Ober- Untertennos, Termine, Todeskugel, Kinos, Rausfahren,
Winne, Platte, Bullen, Bein ab, TV, Gummibein
Verabredung Kino,
Volker: abgetaucht, platte irgendwo,

Frank: Platte hat Spaß gemacht, war auch warm, nicht so wie bei Dieter, der es kalt hatte und an kalten Tagen immer im Ku-Damm Karree rumgewandert ist, dann vergeht die Zeit nicht. Lange Nächte im Marmorhaus, da kam man umsonst rein, würde es mir schriftlich geben.

Besondere Funktion von Sozialamt: PREUSSER, objektive Bedeutung - persönlicher Sinn, etwa bei Franks Wohnkollegen
Frank: immer rausgefahren ins Grüne, war ihm wichtig usw.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97