Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung
Protokollnotiz 38 von Dienstag, den 28. 5. 1991, 11:45 - 12:15, Hansaplatz
Suche Manne in der Absicht auf, ihn zu fragen, ob er morgen mit Frank zum Kino kommt. Erwarte, daß er wieder allein irgendwo abseits sitzt. Dem ist aber nicht so. Er ist bei einer Gruppe vorne an einer Parkbank in der Nähe der Kreuzung. Darunter auch der mit der Lederjacke, und ein paar andere, die ich nicht kenne. Manne hockt mit noch einem jungen Mann vor der Bank, weil die Bank von den anderen besetzt ist. Er fragt mich auch gleich, ob ich Zigaretten dabeihabe, weil der Gruppe die Zigaretten ausgegangen sind bzw. alle nicht mehr so viel haben. Ich habe zwei Packen Klubowe dabei, von meinem Polen-Urlaub, in der Absicht, die sowieso Manne zu schenken. Ich lege die auf eine Bierdose, Manne bedankt sich, macht eine auf, bietet sie den anderen an, die auch Zigaretten nehmen. Kurze Wortwechsel über den Preis der Polnischen Zigaretten. Manne fragt mich, wie es mir geht. Von wo ich komme. Sage, es geht mir ganz gut, komme von zuhause. Sagt, er hätte mir viel zu erzählen, aber nicht hier. Ich sage, ich habe sowieso nicht so viel Zeit heute. (Will noch segeln gehen). Die Schnapsflasche auf dem Boden ist schon leer, auch die meisten Bierdosen. Der Bärtige auf der Bank fordert Manne auf, bei Bolle einzukaufen. Manne fordert mich auf, mitzukommen. Ich stehe auf, will mein Fahrrad greifen. Einer auf der Bank bedeutet mir ***
Tagesthemen,
Siggi,
Kino,
Geldproblem 20,-- beim Einkaufen,
Storys
bis morgen
wann ich denn komme.Protokollnotiz 39 von Mittwoch, 29.5.1991
Heute Verabredung mit Manne 13:30 oder 14:00, dann mit Frank Kneipe Ku-Damm Eck 15:00, Zielvorstellung mit beiden ins Kino gehen: Russisches Haus. Ganz anders als früher: Aufgeregt ja ein bißchen, aber ganz anders als sonst, wo Feldforschung immer eine Reise ins Ungewisse war. Konkrete Verabredungen. Ich fühle mich bei den beiden ganz wohl, denke, viel von ihnen lernen zu können, mir weitere Kontakte erschließen zu können. Muß jetzt verschiedene Sachen vorantreiben. Wäre gut, einen Herd aufzutun für Franks Wohnung, den abzuholen und anzuschließen könnte eine wichtige gemeinsame Aktion werden. Außerdem die Idee, die beiden zu fragen, in das Theaterstück über Obdachlosigkeit zu gehen. Zum Beispiel mit den beiden eine Rezension, also eine Theaterkritik zu erarbeiten und in den Zeitungen zu veröffentlichen. Scheiße, keine Erfahrungen, wie das geht. Wenn die beiden einverstanden sind, Georg fragen, wie man einen solchen Artikel in die Zeitung bringt. Ob das wohl heute klappen wird, die beiden zusammen zu bringen. Habe knapp 28,-- DM auf Tasche. Das sind 18,-- Mark für die beiden Kino-Karten und noch ein Zehner zum Verballern. Hoffentlich wird das nicht in finanzieller Hinsicht als zu einseitig von denen empfunden. Was ich mit Georg auch noch exemplarisch klären muß, ist, wie die gewonnenen Erkenntnisse, die in den Protokollen festgehalten sind, hinsichtlich der Gewinnung von Forschungsergebnissen umgesetzt werden können. Und überhaupt das Protokollschreiben. Das wird ja auch noch mal ein Act für sich.Und dann noch so viele andere Sachen zu erledigen. Also über Arbeit kann ich mich wirklich nicht beklagen. Das einzige, was mich ein bißchen ängstigt ist, daß es neben den beiden im Kino fürchterlich stinken könnte. Hoffentlich fällt mir das nicht so auf. Und wenn, dann muß ich die beiden - in aller Freundlichkeit - darauf mal stoßen. Außerdem die Sache mit Bedeutungen und persönlichem Sinn mit Georg klären. Mein größtes Problem ist derzeit immer noch, daß ich morgens früh einfach nicht hoch komme - Scheiße, wie viel hätte ich heute alles schon erledigen können. Stattdessen wälze ich mich im Bett herum und schnarche bis 12:00. Dabei habe ich die besten Vorsätze.
Wohin wird das, was jetzt losgeht, hinführen. Ich denke, ich darf jetzt nicht den Fehler machen, die Kontakte wieder einschlafen zu lassen. Ist das wirklich denkbar, eine Forschungspolitik dahingehend zu betreiben, daß es irgendwann mal im Herbst eine Gruppe gibt, die biographisch diskutiert und Lebensgeschichte im Kontext des Stadtteils Moabit erörtert und mit der es sogar möglich ist, eine Ausstellung zu erarbeiten. Das wäre eine Echte Perle in meiner Forschung. Die notwendigen Kenntnisse würden von selbst mir in den Schoß fallen. Aber ich darf mich nicht täuschen lassen, das wird noch ein hartes Stück Arbeit werden. Allein Feldforschung und Protokollierung rauben schon viele Kräfte. Und darüber hinaus noch Theoriebildung, Koordination anderer Aktivitäten, Expertengespräche usw. Mein lieber Scholli, das kann sich zu einem richtigen Full-time Job entwickeln, und zwar nicht in dem Sinne, daß ich mich selbst vor Aufgaben stelle im abstrakten Sinne, sondern daß die Anforderungen mich konkret einholen. Okay, wenn ich jetzt losgehe: Ein bißchen flau ist mir schon. 14:00 Uhr, Kino ist 17:15, geht also fast bis 19:00 Uhr, dann noch quatschen, vielleicht bis 20:00 Uhr oder noch länger, das sind mindestens 6 Stunden Äktschn. Can you stand it? Dazu fällt mir Meyers auf Corn Island ein. Die Zeit des feierns ist jetzt vorbei. Jetzt muß auch mal ein bißchen gearbeitet werden. Can I stand it. All right, lets go.
Ich komme kurz nach 14:00 Uhr Hansaplatz an, und der Platz ist wie leergefegt. Suche nach Manne, auch in der Bücherei, nichts zu machen. Lege mich auf die eine Bank und warte, da ich noch bis 15:00 Zeit habe. Etwa um 14:30 kommt Manne mit einem Kollegen, der auch schon gestern da war und dem Manne Geld gab, um Stoff zu holen.
Protokollnotiz 40 von Freitag, dem 31.5.1991; 10:30 - 13:00
Frank, Werner, Müller-Bremen, Manne, Georg
Komme in die Wärmestube Warmer-Otto. Bei unserem letzten Treffen am Mittwoch deutete Frank an, daß er heute in der Wärmestube sein würde, allerdings nicht sehr lange, da er um 11:00 wieder abhauen wolle. Also beeilte ich mich, ihn zu erwischen: Ich brachte ihm Otto Nagel: Die weiße Taube oder das Nasse Dreieck mit, sowie Rohrmann: Als Stadtstreicher unterwegs, um ihn mal ein bißchen damit zu konfrontieren, womit ich mich selbst so beschäftige, um ihm das so transparent zu machen und um mit ihm möglicherweise darüber ins Gespräch zu kommen. An seinem Tisch saß Werner, mit dem ich mich dann später, nachdem dann Manne kam, ausführlicher unterhielt. Daß er Werner hieß, habe ich erst hinterher zum Abschied erfahren, als ich ihn danach gefragt hatte. Im Verlauf meiner Anwesenheit tauchte dann auch Manne auf, der etwas verwundert war. Ich gab ihm Rohrmann zu lesen, er las ihn in einem rasenden Tempo und kommentierte ihn, daß das korrekt sei, was er da schreiben würde.
In Uelzen ist vom 19. - 22. Juni ein Berberfest, eine Art Arbeitstreffen. In der Wärmestube Warmer Otto lag dazu ein Faltblatt aus. Werner las er durch, anschließend überflog es Frank. Wir sprachen darüber, da zusammen hinzufahren. Aber wir vereinbarten nichts konkretes. Frank sprach von der Möglichkeit, vielleicht mit Schlotti dahinzufahren. Ich sagte, daß ich auch Interesse hätte, da hinzufahren. Irgendwannmal fragte mich Frank nach meiner Telefonnummer: Ich schreib sie ihn auf die Hülle seiner Blättchen. Zum Abschied sagte mir Frank, daß er mich im Verlauf der nächsten Woche einmal anrufen wolle.
Gewalt gegen Obdachlose, S-Bahn fahren, Verteilung, Platte
Protokollnotiz 41 von Samstag, dem 1.6.1991; 19:20 - 23:50
Theaterstück, Manne
wie das Theaterstück war, was Manne mir erzählt
Vermittlung Gespräch mit einem Experten für Sozialhilfe
Scheiße, wenn es nicht auf einem der drei Computer, auf denen ich schreiben kann, zu schreiben ist, dann ist es nicht zu schreiben.Ich bin mit Manne um 19:30 Uhr auf dem U-Bahnhof Klosterstraße verabredet, weil dort in der Kirchengemeinde das Theaterstück stattfinden soll, als die Generalprobe für die heutige Premiere. Ich bin schon etwas früher da, gehe erstmal in die Kirche rein, schaue mich um. Glaube, Frank zu entdecken, habe mich aber geirrt. Später, als das Theaterstück läuft, entdecke ich bestimmte Typen wieder, als ob man eine Typologie von Obdachlosen erarbeiten könne. Das ist komisch, erklärt aber die Versuche früherer Wissenschaftler, solche Typologien aufzustellen. Damals war vielleicht der Denkrahmen so. Überhaupt das Phänomen, daß mich bestimmte Leute vom Aussehen, von der Art, wie sie sich geben, sprechen und bewegen, mich an andere erinnern. Ich gehe runter in die U-Bahn. Manne kommt pünktlich genau eine Minute vor halb acht. Ist in Begleitung eines Mannes, den ich vom sehen her kenne. Vielleicht von einem Foto in der Zeitung?Allerdings vorstellen tut er mir seinen Begleiter nicht. Ich sage ihm auch guten Tag, aber wir stellen einander nicht vor. Ansammlung vor der Kirche und im Eingangsportal. Die Schauspieler wollen in ihren letzten Vorbereitungen nicht gestört werden. Manne berichtet, daß er im Seeling-Treff mehrere Leute angesprochen hätte, ob sie nicht mitkommen wollten. Das sei auch allgemein bekannt gewesen. Die tatsächliche Resonanz war dann aber doch nicht so groß. Er berichtet später, daß von einigen Obdachlosen dieses Theatervorhaben kritisiert worden sei. Statt Theater zu spielen, sollten sie sich lieber darum kümmern, sich für ihre Belange einzusetzen und ihre Problem anzugehen. Manne dreht sich von mir Zigaretten. Ich biete ihm das auch immer an, wenn ich mir selber eine drehe. Immer, wenn ich Feldforschung betreibe, rauche ich viel. Interessant ist, wieviele Leute Manne kennt und im Verlauf der halben Stunde, in der wir draußen vor Beginn des Stückes warten, begrüßt und mit ihnen kurz spricht. Das ist nicht etwa sonderlich phänomenal, sondern hat etwas mit der spezifischen Lebensform zu tun, wie beispielsweise ROHRMANN in Bezug auf WEBER herausarbeitet. Durch das tägliche hin- und hertingeln von einer Einrichtung zur nächsten, durch den permanenten Aufenthalt auf der Straße und auf bestimmten öffentlichen Plätzen (Hansaplatz, Zoo), da gibt es wahrscheinlich individuelle Unterschiede und Schwerpunkte, kennt man sich. Als ich am Mittwoch mit Frank unterwegs waren, sagte es mir bei einer Person, die U-Bahnhof Kurfürstenstraße sich ein Plakat ansah, auch auf den Kopf zu, daß es sich hierbei um einen Plattegänger handele. Das hätte ich auch vermutet. Weitere Orte, um miteinander in Kontakt zu kommen, sind wahrscheinlich auch die Sozialämter und die Beratungsstelle in der Levetzowstraße. Die Kirche selbst ist innen drin ganz schön heruntergekommen, ein Backsteinbau, der Innenraum ist nahezu quadratisch. Gleich als erstes der Spielbereich, dann Kirchbänke auf einer Art Podest als Zuschauerbühne. Das alles in der vorderen Hälfte der Kirche. Hinten der Altar, ebenfalls Kirchenbänke, allerdings auf den Altar hin gestellt. Wir sehen uns das Theaterstück an. Anschließend reden wir kurz darüber und gehen dann zum Alextreff. Der ist allerdings zu. Wir gehen weiter zum Bahnhof. Es sieht alles sehr tot aus in dieser Gegend der Stadt, und das an einem Samstag um 22.00 Uhr. Allerdings ist in der Nähe des Bahnhofs noch eine Kneipe= Bierhalle offen. Ich lade Manne zu einem Bier ein. Wir kommen ins Quatschen, und aus einem Bier werden drei. Ich stelle klar, daß ich die Bier bezahlen werde. Hinterher erfahre ich, daß Manne sowieso nur noch vier Pfennig besitzt. Mir fällt die Beobachtung von GIRTLER ein: Es stimmt, Manne hat fast immer den gleichen Stand an Bier in seinem Glas wie ich, niemals ist er mir im trinken voraus. Das wär auch - nach den Konventionen - ziemlich scheiße, dann müßte es nämlich von sich aus fragen, ob ich "auch noch" ein Bier wolle, und da er kein Geld hat, geht das nicht. Deswegen muß ich, der ich Geld habe, derjenige sein, der das Bier als erstes aushat, um dann diese Frage zu stellen. Es scheint also ebenfalls zu den Konventionen zu gehören, nicht Bier zu bestellen, die der andere dann zu bezahlen hat. Mir ist das während des Trinkens aufgefallen, und dann achtete ich darauf. Beim Tabak ist das etwas anderes, ich ließ ihn auf der Theke liegen, und Manne konnte sich jederzeit eine drehen. Wenn ich mir selbst eine drehte, schob ich ihm den Tabak anschließend rüber. Das ist auch eine eindeutige Geste. Beim Tabak kam es allerdings gelegentlich vor, daß Manne mich fragte, ob er sich eine drehen könne. Offenbar sind hier die Konventionen so, daß das durchaus legitim ist. An und für sich ist diese Beobachtung alles andere als spektakulär. Interessant ist eigentlich nur die Frage, wie es kommt, daß die Forscher sich ausgerechnet für solche Details - ich schließe mich da ein - so besonderen interessieren, und ausgerechnet solchen Sachen in der Beschreibung so einen breiten Raum widmen. Als wir uns trennten, habe ich Manne aufgefordert, sich ein paar Zigaretten auf Vorrat zu drehen. Er selbst hatte noch ein paar Krümeln Tabak und ein paar Blättchen, und nahm sich von mir etwas Tabak, so für drei Zigaretten heraus. Er meinte, das würde bis morgen früh reichen, und außerdem könne er in der S-Bahn Kippen sammeln, das würde auch gehen. In alten Studententagen, als ich auch immer bei allen möglichen Gelegenheiten das Bierangebot des Gastgebers großzügig ausnutzte, habe ich auch nicht anders gehandelt. Ich kann mich noch genau an Situationen erinnern, in denen ich aus alten Kippen mir mit Hilfe eines BVG-Fahrscheines eine Zigarette gedreht habe: Allerdings: Besser ist es schon, wenn man noch irgendwo Blättchen hat. Das Fahrschein- oder Zeitungspapier versaut den ganzen Geschmack.
Sexualität:
Als wir vor der Kirche warteten, deutete Manne an, er habe heute wieder was erlebt, was er mir aber jetzt nicht erzählen könne. Als ich nachfragte, sagte er, deshalb nicht, weil Damen anwesend seine. Später in der Kneipe erzählte er dann. Er habe heute am Breitscheidplatz Obdachlose getroffen, sie hätten auf der langen Bankreihe gesessen, es wären auch Frauen bzw. eine Frau dabeigewesen. Einer von den Männern sagte, er sei ja so spitz, er hätte einen solchen Drang, eine Frau zu vögeln. Er fragte dann die Frau, ob sie es nicht mit ihm tun wolle, er hätte Schnaps und Bier, sie würde dafür etwas von ihm erhalten. Vögeln lehnte sie ab, aber sie sagte, sie könne ihm wohl einen blasen. Damit sei er dann auch einverstanden gewesen. Manne berichtete, sie hätte ihm dann an Ort und stelle einen geblasen. Zwischendurch hätte sie dann immer noch einen Zug von ihrer Zigarette genommen.
Manne erzählte, daß es Frauen gebe, die es für eine Flasche Schnaps machen würden. Armutsprostitution. In der Öffentlichkeit, weil es so gut wie keine Räume gibt, in die sich die Obdachlosen zurückziehen können. Es wäre mal zu klären, ob es in den Asylen und in den Pensionen auch Frauen gibt, die mit Männern zusammen untergebracht sind und was da so los ist in Sachen Sexualität und Prostitution, aber auch in Sachen Beziehungen. Oder auch Pärchen, die zusammen Platte machen. Gibt es Möglichkeiten, daß solche Pärchen, wenn sie eine Unterkunft brauchen, zusammenbleiben können?
Sozialhilfe:
Ich berichte, daß mir im Theaterstück die dargestellte Verdichtung von Ordnungsmacht und Sozialarbeit gut gefallen hat: Der Ordnungsbeamte, der die Sozialhilfe stündlich ausbezahlt: Eine Stunde Sozialarbeit: Drei Mark. Zweite Stunde Sozialarbeit: Drei Mark usw. Wir kommen auf die Sozialhilfe zu sprechen. Manne meint, das sei in dem Stück sehr realistisch dargestellt gewesen. Sozialhilfe werde tatsächlich sehr unterschiedlich bewilligt. Es gäbe Leute, die bekämen sich monatlich, andere vierzehntägig, wieder andere wöchentlich, andere schließlich nur für zwei Tage ausbezahlt.
Das sei eine richtige Einstufung der Sozialämter, die da vorgenommen wird. Wenn ein Sozialhilfeempfänger vielleicht einmal betrunken ankäme, das ginge noch, wenn aber einer regelmäßig betrunken ankommt, wird es gleich als Hard-core-Trinker eingestuft und erhält Sozialhilfe nur für wenige Tage. Solche Leute erhalten auch kein Bargeld für zusätzliche Leistungen, sondern nur Gutscheine, z.B. für Bekleidung. Trotzdem gibt es in beiden Fällen Möglichkeiten, das in Bargeld für Alkoholiker umzusetzen. Wer Bargeld erhält, muß sich nur irgendwie Rechnungen für Kleidungsstücke besorgen. Ob derjenige sich dann tatsächlich Kleidung besorgt hat, interessiert die Leute von Sozialamt herzlich wenig. Allein die eingereichten Quittungen würden verlangt werden. Man könne beispielsweise mit dem Geld in die Läden gehen, und eine Quittung besorgen, und dafür dem Verkäufer einen Teil des Geldes überlassen. Wer nur einen Gutschein hat, kann den ebenfalls im Laden abgeben, und sich einen Teil des Geldes davon ausbezahlen lassen. Auch dafür gibt es Quittungen. Allerdings könne man das nur in einigen Läden so machen (in welchen Läden das geht, das ist den betreffenden Leuten meist bekannt - ich vermute, sowas spricht sich auch rum - als ich in der Kunstspedition gearbeitet habe, habe ich auch mit der Zeit erfahren, in welchen Läden man gut Pause machen kann und gleichzeitig den LKW parken kann. Oder wie man Zeit schindet und das dem Chef verkauft.) Manne kommentierte mir gegenüber diese Techniken so, daß es immer einen Weg gäbe, um von A nach B zu kommen.
Wenn ich einmal versuche, das in Kategorien von objektiver Bedeutung und persönlichem Sinn umzusetzen, dann ist zum einen festzustellen, daß beides - die objektive Bedeutung des Bekleidungsgutscheines sowie der persönliche Sinnbezug darauf, nicht übereinstimmen. Eine Seite der Bedeutung Bekleidungsgutschein ist, daß er einen tauschbaren Wert darstellt. Eine weitere Bedeutungsseite ist, daß dieser tauschbare Wert im Gegensatz zu Geld zweckgebunden sein soll - nämlich für Bekleidung. Die besondere Leistung der Betroffenen besteht nun darin, daß sie sich in ihrem persönlichen Sinn auf den Aspekt der Bedeutung beziehen, die den tauschbaren Wert darstellt, und daß sie den anderen Aspekt, die Zweckgebundenheit negieren. Einen solchen Schein zu erhalten, wird somit zum Ziel einer Handlung. Die Zielbildung geht also so vonstatten, daß ein Aspekt der Bedeutung in Bezug auf einen Gegenstand der Handlung herausgearbeitet wird, der Erhalt eines Papiers, das einen tauschbaren Wert darstellt. Die andere Seite der Bedeutung - die Zweckgebundenheit des Papiers, sinkt zu einer Bedingung des Handelns herab. Das Ziel, dieses Papier zu erhalten, kann bezogen auf das Motiv mit persönlichem Sinn widergespiegelt werden. Die Operation, mit der auf die Bedingung der Zweckgebundenheit reagiert wird, wurde als bewußte Handlung entwickelt, beispielsweise auf der Ebene des sprachlichen Handelns: Andere Betroffene berichten beispielsweise von der Möglichkeit, einen Bekleidungsgutschein in Bargeld umzusetzen. Im Gespräch wird dann beispielsweise kommuniziert, wie das konkret anzustellen ist. Diese Handlung wird dann erprobt, und bei öfterer erfolgreicher Wiederholung sinkt das Eintauschen eines Bekleidungsgutscheins gegen Geld zur einer bloßen Operation der Handlung Geldbeschaffung unter der Bedingung Zweckgebundenheit eines Bekleidungsgutscheines herab. Das ist interessant: Bedeutungsräume, bzw. Aspekte der objektiven Bedeutung eines Sachverhaltes verwandeln sich in Bedingungen des Handelns. Auf diese Bedingungen muß mit Handlungen reagiert werden, diese bergen die Möglichkeit in sich, daß sie zu Operationen werden können. (In diesem Bedeutungsraum Bekleidungsgutschein ist also eine Dialektik von Bedeutungselementen vorhanden: Da gibt es zum einen Aspekte, die zur Zielbildung nützlich sind - der Tauschwertcharakter des Papiers, und andere Aspekte, die Zielbildungen nahelegen, die von dem Motiv wegführen - was nützen mir Klamotten, wenn ich Geld will. Beide Dimensionen müssen aber erfaßt und widergespiegelt werden. Wer den Wertgutschein in den haben will, muß wissen, daß er zweckgebunden ist. Die alleinige Wahrnehmung, daß dieses Papier einen tauschbaren Wert darstellt, ist keine adäquate Erfassung der Wirklichkeit dieses Sachverhalts. Eine Möglichkeit, die sich auch aus dem Ziel: Bekleidung ergibt, ist die Möglichkeit, dann eben die mit dem Bekleidungsgutschein erworbene Kleidung zu verkaufen, und so zu Bargeld für Alkohol zu kommen. Schließlich muß bei der Beurteilung dieser Handlungen berücksichtigt werden, daß die hier skizzierten Wege, über Bekleidungsgutscheine zu Bargeld zu kommen, einen erheblichen Aufwand an Handlungen erfordern. Unter bestimmten Voraussetzungen mag es da sicherlich einfacher sein, in den Laden zu gehen und sich eine oder mehrere Flaschen Alkohol herauszuholen. Aus diesem Einwand ergibt sich die Notwendigkeit, den Gesamtzusammenhang der Tätigkeiten eines Subjekts zu beachten. Zwar ist die Handlung Diebstahl sicherlich einfacher und schneller zu bewerkstelligen als der umständliche Weg über den Umtausch von Bekleidungsgutscheinen zu Bargeld. Auf der anderen Seite ist der Bedeutungsraum von Diebstahl zu sehen. Dieser wäre dann im Vergleich zu untersuchen: Auch hier muß die gesamte Bedeutung im Handeln erfaßt werden. (Da soll keiner sagen, er wisse nicht, was er tut, wenn er klauen geht). Das Moment der Strafandrohung, wo aufgrund der Vorgeschichte des Klauenden ein Erwischtwerden gleichkommt mit einem sofortigen Einfahren in den Kahn, weil beispielsweise noch eine Bewährungsstrafe am laufen ist, ist ein durchaus bedeutsamer Sachverhalt. Auch hier werden die einzelnen widersprüchlichen Bedeutungsaspekte widergespiegelt. Welchen Bedeutungsraum der Diebstahl dann tatsächlich hat, hängt wiederum von der Person ab. (Diese Äußerung von Manne, daß es manchen Leuten wirklich scheißegal ist, ob sie erwischt werden oder nicht.) Oder, wenn jemand einen Jagdschein hat (Schuldunfähigkeit), was soll denjenigen dann schon passieren. Mit einem Jagdschein könne man sich schon einiges erlauben, solange die einzelnen Handlungen nicht den Anschein erwecken, diese Person sei gemeingefährlich und müsse in die geschlossene Psychiatrische Unterbringung, also in Bonnies Ranch - so jedenfalls die übereinstimmende Aussage mehrerer Gesprächspartner zu diesem Gegenstand.
Ein weiterer Aspekt der Bedeutung ist das, was ich gesellschaftliche Konvention nenne. In diesem Falle heißt die Konvention - oder besser, eine mögliche Konvention - Klauen tut man nicht. Der reale Gehalt dieser Konvention besteht im Produktionsverhältnis dieser Gesellschaft, das auf dem Eigentum an Produktionsmitteln beruht. Dieses Recht auf Eigentum wird vom Staat durchgesetzt - d.h. die wechselseitige Anerkennung des jeweiligen Eigentümers als Grundlage einer gesellschaftlichen Ordnung, die eine Anwendung des Eigentums zum Zwecke der Produktion erst ermöglicht. Umgekehrt heißt dies: Diebstahl wird unter Strafe gestellt. Auf Grund der zentralen Bedeutung dieses durchgesetzten Eigentumsprinzips, weil Grundlage eines gesamten gesellschaftlichen Verhältnisses der Produktion und des Lebens schwingt dieses Element - ich nenne es hier Konvention - in so ziemlich allen Bedeutungszusammenhängen, die erarbeitet sind, mit (Kaum ein Gegenstand ist in seiner Spezifik getrennt vom gesellschaftlichen Produktionsverhältnis zu verstehen. Insofern ist es möglich, dieses Element der Konvention fast überall auszumachen - als Strukturelement der Bedeutungen in einer kapitalistischen Gesellschaft - etwa auch in dem anderen Beispiel mit dem Bekleidungsgutschein: Hier wird das Sozialamt beschissen, das tut man nicht: Bescheißen als Sonderform von Diebstahl: Die Umwidmung einer Sache entgegen der Intention, ein Diebstahl zunächst auf der Bedeutungsebene: things aint, what they are used to be). PREUSSER arbeitet heraus, daß der Besitz an Eigentum die Voraussetzung für seine Anerkennung ist. Mit anderen Worten: Wer nichts hat, ist genötigt -zumindest der Möglichkeit nach - sich am Eigentum anderer zu vergreifen. D.h. es ist die Mangellage, welche die Geltung der Bedeutung, bzw. hier der Konvention "stehlen tut man nicht", praktisch diskreditiert. In diesem Sinne ist es wirklich die praktische Überlegung, was habe ich eigentlich überhaupt noch zu verlieren, die darüber Ausschlag gibt, ob es sich lohnt, sich über die Bedeutung "stehlen tut man nicht", hinwegzusetzen und einen Diebstahl zu begehen. Die Gegenstände, der zu verlieren sind, erschließen sich wiederum über die Bedeutungen: Da ist zum einen die Strafandrohung: Es ist die Freiheit, die zu verlieren ist, aber auch die Folgen, dann anschließend als Vorbestrafter geringere Möglichkeiten bei der Beschaffung von Arbeit und Wohnung zu haben. Wer in der Antizipation seiner Handlungen noch Gegenstände entdeckt, die für ihn als mögliche Ziele des Handelns in Aussicht stehen, für den wird im Bedeutungsraum Diebstahl wenig an sinnbildenden Elementen zu entdecken sein, weil die darin vergegenständlichten Bedingungen - Strafandrohung, Haft usw. - ihn von den anderen Zielen seines Handelns wegführen, wer in der Antizipation seines Handelns nichts mehr an Zielen findet, was durch Haft und Strafe negiert wird, der wird sich von diesen Bedeutungen auch nicht mehr abschrecken lassen. Das über den Bedeutungsraum erschlosse Ziel, der Diebstahl einer Flasche Schnaps, wird mit persönlichem Sinn bezogen auf das Motiv Alkoholtrinken nahezu widerspruchsfrei widergespiegelt. So einfach ist das. Für mich, um das jetzt zu vergleichen, enthält der Bedeutungsraum Diebstahl zuviele Widersprüche, daß für mich ein persönlicher Sinn einer solchen Aktion nur schwer herzustellen ist, vielzuviel würde mich an dieser Aktion von anderen Motiven wegführen (bin damit noch nicht zufrieden, müßte noch differenzierter dargestellt werden)
Wie sieht es nun mit der Motivseite dieser Handlungen aus? Das Motiv, Alkohol zu trinken, war in diesem Beispiel schon vorher vorhanden. Die Bedingungen, die über die Bedeutungen wahrgenommen werden, werden von handelnden Subjekt dahingehend beurteilt, inwiefern sie zur Realisation des Motives nützlich sind. Das vollzieht sich im Prozeß des Handelns. Bei dem bisher genannten Doppelbeispiel -Geldbeschaffung über Bekleidungsgutschein bzw. Diebstahl - wurde das Motiv Alkoholtrinken mit allzu großer Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. Dies ist genaugenommen aus mehreren Gründen unzulässig:
- vom Problem der Motivbildung wurde bisher abstrahiert
- das Verhältnis dieses Motivs -so es denn eines ist- zu anderen Motiven ist nicht untersucht worden
- die Spezifik dieses Motivs im Zusammenhang mit der Spezifik der Lebenslage - vielleicht ist dieses Motiv, so es denn eines ist, eines der wenigen, die überhaupt noch möglich sind unter diesen Umständen - wurde bisher außer acht gelassen
- bisher wurde nicht untersucht, ob es denn wirklich ein Motiv ist, das wurde bisher immer unterstellt
Eine Darstellung in dem Sinne, wie sie bisher erfolgt ist anhand es obigen Beispiels ist sicher notwendig, um das Handeln in solchen Zusammenhängen erklärend verstehen zu können, eine solche Betrachtung für sich genommen - und ausgedehnt auf alle Bereiche des Handeln - muß aber unbefriedigend bleiben. Erst das systematische Zusammenführen der Umstände der Lebenslage, die Schlußfolgerungen für das Handeln und die Tätigkeit der Subjekte, die Zusammenhänge von Motivbildung und persönlichem Sinn in dieser Lebenslage in ihrer Allgemeinheit bla bla bla
Zunächst ist zu prüfen: Ist die in den bisherigen Beispielen unterstellte Behauptung, der Konsum von Alkohol sei ein Motiv der Tätigkeit, überhaupt zutreffend.
Motiv ist ein Gegenstand dann, wenn er ein Bedürfnis befriedigt. In diesem Sinne kann Alkoholkonsum durchaus ein Gegenstand sein, der das Bedürfnis, sich in einen betrunkenen Zustand zu versetzen, befriedigen kann. D.h. das Motiv steht in einem engen Zusammenhang mit den Eigenschaften des Gegenstandes. Der Gegenstand Alkohol kann aber durchaus noch in anderer Form auftreten: Er kann zum Beispiel in seiner medizinischen Funktion als schmerzbetäubendes Mittel eingesetzt werden. Das Motiv wäre dann beispielsweise, den Schmerz zu stillen, Alkohol wäre dazu ein adäquates Mittel, das Trinken von Alkohol demzufolge ein Ziel zur Befriedigung eines Bedürfnisses, aber kein Motiv. Oder in einem anderen Fall erfolgt das Trinken von Alkohol nur in Zusammenhang (quasi als konstituierender Bestandteil) eines sozialen Beisammenseins - und sei es, um die Zeit totzuschlagen und sie gemeinsam zu verbringen. Auch in diesem Fall ist Alkohol ein sehr wichtiges Ziel der Handlung, aber keineswegs ein Motiv. Trotzdem kann Alkohol, wenn der Konsum desselben auch nicht Motiv ist, einen zentralen Stellenwert haben. Wie ist es zum Beispiel, wenn zur Stillung von Schmerzen kein anderes Mittel zur Verfügung steht bzw. andere über andere Ziele nicht erreichbar sind, z.B. fehlen eines Krankenscheins, Angst vor einer Operation usw. Auch im anderen Fall kann es sein, daß andere Mittel zur Konstituierung eines Gruppenzusammenhangs nicht zur Verfügung stehen: Es fehlt an Geld, Örtlichkeiten usw., sodaß der Alkohol als einziges Mittel bleibt, den sozialen Zusammenhang zu konstituieren.
(Vergleich: Produktivkraftentwicklung und Tätigkeitsentwicklung: Dieser Zusammenhang ist äußerst aufschlußreich, aber bisher meines Wissens noch nahezu ununtersucht. Produktivkraftentwicklung fällt zusammen mit der Entwicklung von gesellschaftlichen Tätigkeiten, beinhaltet die Gesellschaftsformation Ungleichzeitigkeiten innerhalb des Produktionsverhältnisses: Unter bestimmten Umständen kann es für das Kapitalinteresse durchaus lohnend sein, auf überholte und eigentlich aufgehobene Formen der Produktion - und damit auch der Tätigkeit - zurückzugreifen. Für die gesellschaftlichen Tätigkeiten scheint dies auch zu gelten, daß nach wie vor gesellschaftlich aufgehobene Tätigkeiten weiterexistent sind: Diesen Sachverhalt versucht insbesondere PREUSSER nachzuweisen. Zu klären wäre, inwiefern Leute, die systematisch, d.h. innerhalb der Logik des funktionierenden Systems in irgendeiner Weise aussortiert werden (auch wenn sie versuchen können, da wieder rein zu kommen und es in der Tat auch immer einigen gelingen wird), in ihren Tätigkeiten auf überholte Formen zurückzugreifen gezwungen werden.)
In diesen Beispielen fungiert der Alkoholkonsum also nicht als Motiv, sondern als Ziel oder Mittel (zwischen Mittel und Ziel wäre noch einmal genauer zu differenzieren). Eine Analyse der Tätigkeit, in der der Konsum von Alkohol auftritt, zeigt allerdings die zentrale Rolle, die diesem im Kontext der Tätigkeit zukommt. Dies ist offensichtlich so zu verstehen, daß der Kreis der Handlungen, die zum Erreichen des Motivs vollzogen werden können, eingeschränkt sind. Erst dadurch erhält der Alkohol eine zentrale Bedeutung. Wenn unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen die Möglichkeiten, zu schreiben stark begrenzt sind, und Gegenstände wie Computer, Schreibmaschine, Papier, Kugelschreiber usw. nicht vorhanden sind, wird die Produktion von schriftlichen Dokumenten eben mit Bleistift auf Bierdeckeln stattfinden ... Plötzlich werden der Bleistift und der Bierdeckel zu eminent wichtigen Gegenständen.
Nur: was ausgerechnet qualifiziert den Alkohol für seinen hohen Stellenwert: Notwendigkeit einer Gegenstandsanalyse:
- allgemeine Verfügbarkeit (fast Überall, zu jeder Zeit - nachts und an Wochenenden mit einigen Einschränkungen)
- relative Preisgünstigkeit
- relative gesellschaftliche Akzeptanz, relativ allgemeine Verwendung
- relative Universalität und Allgemeinheit seiner Wirkungen bei Konsum (Wahrnehmung und Bewußtheitszustände verändernd: Lockerung von psychischen und physiologischen (nervösen, sensorischen, vegetativen) Verbindungen ohne primäre Beeinträchtigung zentralnervöser vegetativer Funktionen: insofern hervorragend geeignet, physische und auch psychische Leiden kurzfristig "wegzuspülen", sich zeitweise "besser zu fühlen")
besondere Problematiken in Verbindung mit Alkohol (einmal abgesehen davon, was ein Betrunkener unmittelbar anrichten kann) treten in der Regel erst langfristig bei regelmäßigem Konsum auf: Ständig steigende Dosis notwendig, um gleiche Wirkung zu erzielen, Abhängigkeit (psychisch, physisch), Beeinträchtigung und (Zer-)störung des Organismus.
Neben den Einwänden, den Alkoholismus bei Wohnungslosen besonders herauszustellen (vgl. die Argumentation von ROHRMANN: Der Alkoholkonsum der Betroffenen unterscheidet sich nur aufgrund der Spezifika der Lebenslage, insbesondere hier die Erzwungene Öffentlichkeit, von dem der Mehrheitsbevölkerung), ist trotzdem davon anzunehmen, daß der Anteil der Alkoholabhängigen - bei allen Problemen der Definition von Alkoholismus - über dem der Mehrheitsbevölkerung liegt. D.h. eine Hypothese bzgl. des Alkohols in der Lebenslage Wohnungsloser wäre dahingehend zu formulieren, daß Alkohol ein Gegenstand ist, der in der Besonderheit der Lebenslage relativ an Bedeutung zunehmen kann. Die relative Bedeutung wäre zu erklären aus der Dialektik von seinen besonderen Qualitäten - relative Universalität hinsichtlich der Möglichkeiten der Verfügbarkeit und des Einsatzes - auf der einen Seite bei gleichzeitiger Einschränkung der Verfügungsmöglichkeiten über andere Gegenstände in der besonderen Lebenslage der Wohnungslosigkeit auf der anderen Seite. (Das ist alles noch zu bla bla)
In den Fällen, in denen eine Abhängigkeit von Alkohol besteht (Alkoholabhängigkeit, Alkoholismus, Alkoholkrankheit) erscheint es m.E. gerechtfertigt, davon zu reden, daß der Konsum von Alkohol zu einem Motiv geworden ist. Es geht in solchen Fallen nur noch um den Konsum des Alkohols um den Konsum wegen. Alles andere scheidet aus und wird nur noch dem Anschein nach nach vorgeführt: Etwa irgendwelche sozialen Dimensionen des Trinkens. Soetwas wird dann zwar noch angeführt, - einen Grund zum Trinken gibt es immer - getrunken wird aber dann auch, wenn es keinen solchen vorgeschobenen Grund mehr gibt. Dieser Prozeß der Alkoholabhängigkeit ist - psychologisch gesehen - eine Form der Motiventwicklung: Das Ziel einer Handlung erhält relativer Selbständigkeit und Entwickelt sich zu einem eigenständigen Motiv einer Tätigkeit.
Damit ist aber auch schon etwas über die Qualität der Gegenstände gesagt: Gegenstände können Mittel sein (auf dem Weg über das Ziel hin zum Motiv), können aber auch die Qualität eines Motivs erlangen: Als ein Gegenstand, der in der Lage ist, ein Bedürfnis zu befriedigen. An dieser Stelle wäre dann noch einmal zu differenzieren zwischen dem Fall, wo aus dem Ziel des Alkoholkonsums ein bewußtes Zielmotiv wird: Das wäre der sog. bewußte Alkoholiker, und dem anderen Fall, wo sich der Übergang von Ziel zu Motiv so vollzieht, daß das Motiv nicht bewußt wird: Das ist der Alkoholiker, der von sich selbst annimmt, er könne jederzeit aufhören (der Konsum von Alkohol wird nur als Ziel widergespiegelt, das Motiv - was es eigentlich ist - ist nicht bewußt). Insofern setzt jede Therapie voraus, daß das Motiv Alkohol zu einem bewußten Zielmotiv wird, um als solches Überhaupt Gegenstand einer selbstbewußten, verändernden Tätigkeit zu werden.
Bedeutung von Alkohol - Gesellschaftlich: Der Umschlag von Akzeptanz zu Diskriminierung: Psychologisch ist dieser Bedeutungswechsel etwa dort anzusiedeln, wo die Aufgabe, ein Wort ohne k zu sagen, mit der Antwort: "Allohol" praktisch beantwortet wird. Mit anderen Worten: Wenn bei Subjekten der Konsum von Alkohol zu einem eigenständigen Motiv der Tätigkeit, und nicht mehr bloßer Mittel-Gegenstand wird. Dieser Bedeutungswechsel ist insbesondere in der kapitalistischen Gesellschaft dort anzusiedeln, wo der Konsum von Alkohol die Anwendung von Arbeitskraft beeinträchtigt (als Mittel zur Reproduktion derselben, also in der Freizeit sich mit Hilfe von Alkohol gehen zu lassen, ist solange okay, wie der Träger der Arbeitskraft die geforderte Arbeitsleistung am nächsten Werktag zu erbringen in der Lage ist, bzw. solange vom Alkoholkonsum keine Gefährdung der Öffentlichen Ordnung ausgeht: Autofahren, Randale in Fußballstadien unter Alkoholeinfluß usw.) Aufgrund dieses Bedeutungszusammenhangs von Alkohol und Arbeit ist jeder Arbeitslose - in der gesellschaftlichen Mehrheitswahrnehmung - eine potentielle Schnapsdrossel. Freizeit - im Sinne von "frei-Zeit" von der Arbeit - ist auch Sauf-Zeit. Wer zuviel davon hat, was wird der schon groß machen: Saufen natürlich. Insofern machen Wohnungslose, die in der Regel arbeitslos sind, wenn sie Alkohol konsumieren, nichts anderes als die Mehrheitsbevölkerung in ihrer Freizeit auch tut: Alkoholkonsum ist der Normalfall! Nur eben mit dem Unterschied, daß sie mehr Freizeit als andere haben.
Der Tatbestand Alkoholkonsum kann also im System individueller Tätigkeiten einen durchaus unterschiedlichen Stellenwert besitzen. Er kann Motiv der Tätigkeit sein, aber auch nur einfaches Ziel einer Handlung. Alkoholkonsum kann auch für das einzelne Individuum völlig bedeutungslos sein und in seinem praktischen Handeln gar nicht vorkommen. Bei dieser Untersuchung wurde immer von einem Motiv einer Tätigkeit ausgegangen. Das ist allerdings auch eine Abstraktion. Im wirklichen Leben haben wir es stets mit mehreren Motiven unterschiedlicher Tätigkeiten zu tun. Dies ist im Folgenden weitergehen zu untersuchen.
Z. B. für den Fall, daß bei einen Individuum der Konsum von Alkohol zu einem Motiv der Tätigkeit geworden ist, kann danach gefragt werden, welchen Stellenwert hat dieses Motiv im Verhältnis zu anderen Motiven. Ist das Motiv der Alkoholkonsums ein randständiges Motiv, das von übergeordneten Motiven weitestgehend bestimmt ist, oder handelt es sie hierbei um ein zentrales Motiv, das alle übrigen Motive dominiert. M.a.W., wenn es darum geht, Alkoholiker zu untersuchen, mit welchem Stadium die Alkoholismus sind wir im Einzelfall konfrontiert? Auch hier ist die Frage nach der Stellung eines Motivs im Gesamt der Motivhierarchie nicht abstrakt zu beantworten, sondern nur im Zusammenhang der Tätigkeiten und der konkreten Bedingungen im Sinne von Möglichkeiten zur Entwicklung von Tätigkeiten zu beurteilen.
Die konsequente Analyse der Lebenslage Wohnungsloser und ihrer Tätigkeiten mittels des Modells von objektiver Bedeutung und persönlicher Sinn würde, so meine Hypothese, zutage bringen, daß die Desintegration von persönlichem Sinn und objektiver Bedeutung kein Kennzeichen allein von Obdachlosigkeit ist, sondern durchgängiges Prinzip der Bewußtseinsstruktur unabhängig von der spezifischen Situation des Einzelnen. Um es an einem Beispiel zu konkretisieren: Wenn bei vielen Obdachlosen der Bezug auf Lohnarbeit keinen Sinn mehr macht, dann ist diese Desintegration auch bei Sozialhilfeempfängern zu finden, aber auch bei Leuten, die durchaus noch lohnarbeiten. D.h. diese Desintegration ist durchgängig vorhanden, untersuchenswert ist nur, inwiefern sich die individuelle Spezifik unterscheidet. Bei Lohnarbeitenden hat beispielsweise die Freizeit mit ihren Freunden einen besonderen Sinnzusammenhang (gegenüber der Lohnarbeit), bei einem Sozialhilfeempfänger ist die Tatsache ausschlaggebend, daß Lohnarbeit (in Teilzeit) einer Kürzung der Sozialhilfe gleichkommt, ebenso bei Obdachlosen, bei denen beispielsweise verschärfend hinzukommt, daß aufgrund ihrer Lebenssituation die Fähigkeit zur Lohnarbeit ohnehin eingeschränkt ist - was im Klartext auf die Möglichkeit schlechtbezahlter Gelegenheitsschwarzarbeit durch die Arbeitsamtschnellvermittlung hinausläuft, oder sonstiger Gelegenheits- oder Gefälligkeitsjobs im Rahmen von fragmentarisch noch vorhandener Nachbarschafts- oder Bekanntenbeziehungen ...
D.h. der bestimmende Gesichtspunkt einer solchen Sichtweise - Bedeutung und Sinn- ist nicht mehr die Zielvorstellung von Normalität oder Integration - sondern der der individuellen Motivbildung und des persönlichen Sinns. Es gibt keine normativen Perspektiven mehr, sondern nur noch individuelle. Diese sind zwar immer gesellschaftlich vermittelt, aber die Gesellschaft hat die Bedeutung als normative Größe verloren: Die Gesellschaft wird dahingehend betrachtet, inwiefern sie für die Entwicklung von individuellen Motiven und persönlichem Sinn tauglich ist und inwiefern sie diese Entwicklung behindert oder zerstört. M.a.W. die Gesellschaft wird zu einer instrumentellen Größe. Damit verändert sich auch ein anderer Gesichtspunkt: Das Komplement einer Vorstellung von Normalität und Integration ist die Vorstellung von Abweichung und Defizit. Bisherige Erklärungsmodelle gründen genau auf dieser Vorstellung: Auf der einen Seite die Normalität der Mehrheitsgesellschaft, auf der anderen Seite die Abweichung der Minderheit, sei es in psychischer Hinsicht als Defekt der Person, oder in gesellschaftlicher Hinsicht als Defekt der Gesellschaft. Mit dem Paradigmenwechsel wird diese Abtrennung überwunden: Die Desintegration von persönlichem Sinn und objektiver Bedeutung betrifft alle. Mit den alten Begriffen gesagt: Alle sind relativ normal, alle weichen tendenziell ab, alle sind mehr oder minder integriert. Was für das Individuum über die Welt der objektiven Bedeutungen an Aneignung und Vergegenständlichung von gesellschaftlicher Wirklichkeit in der Tätigkeit möglich und nötig ist, wird damit unterschiedslos problematisierbar: Die Mehrheitstatbestände Lohnarbeit und Mietwohnen sind ebenso auf den Bedeutungsgehalt und Sinnbezug zu untersuchen wie verschiedene Minderheitstatbestände wie Nichtlohnarbeit und Nichtmietwohnung, beides kann zueinander in Relation gesetzt werden, die normative Instanz irgendeiner Größe wird aber bestritten: Wieso sollte von irgendeinem Subjekt Lohnarbeit oder Mietwohnen gefordert werden? - zumindest jenseits von Prozessen individueller Motivbildung. Dieses Verständnis beinhaltet aber nicht die Leugnung gesellschaftlicher Tatbestände: Nach wie vor gehört Lohnarbeit zu den besonderen Freiheiten der Gesellschaft, was insbesondere durch die im Sozialhilferecht verankerte Mitwirkungspflicht auch praktisch durchgesetzt ist, nach wie vor ist Arbeit ein wichtiger Bestandteil der Bedeutungsräume, nach wie vor ist Reproduktion jenseits der Freiheit zur Lohnarbeit ein äußerst bescheidenes Vergnügen, wenn nicht auf die Freiheit des Eigentums an Produktionsmitteln zurückgegriffen werden kann usw.
Für die Gewährung von Sozialhilfe gibt es Eingangsvoraussetzungen: Es sei notwendig, einen Ausweis zu besitzen. Wer einen solchen nicht besitz, bekommt zwar Geld für einen Tag, vielleicht auch noch Dienstfahrscheine, und die Auflage, bis zum nächsten Tag sich einen neuen Ausweis zu beschaffen.
Manne schilderte ausführlich, wie das ist, nur für wenige Tage Sozialhilfe ausbezahlt zu bekommen: Häufig gebe es dann nur einen Lebensmittelgutschein. Wenn man damit einkaufen ginge, etwa für 20,-- DM, gäbe es darauf kein Rückgeld, d.h. man müsse sehr genau aufpassen, was man dafür alles einkaufe. Dann hätte man also eine Tüte, voll mit Brot, Margarine, Marmelade, Getränken, usw. Man müsse aufpassen, daß die Lebensmittel mit der Zeit nicht schlecht würden. Mann müsse ständig die Tüten mit sich Tüten mit sich rumtragen. Könne sie nirgendwo abstellen, ohne Gefahr zu laufen, daß sie abhanden kommen. Mit solchen Tüten ist man aber sehr viel eher als Penner erkennbar. Dann gäbe es häufig Schwierigkeiten, irgendwo reinzukommen, weil man als Penner gleich diskreditiert ist: M.a.W. Sozialhilfe dieser Art schließt damit indirekt von sozialen Beziehungen bzw. Möglichkeiten sozialer Beziehungen aus.
Ein anderes Problem ist das sich auskennen mit den rechtlichen Bestimmungen.
Ausgangspunkt war die Szene im Theaterstück, in der die eine Sozialarbeiterin auf dem Sozialamt hoffte, daß der eine Wohnungslose, der sich in den Rechten so gut auskannte (mit Sozialhilfebroschüre), am nächsten Tag nicht wiederkommt. Er, Manne selbst, müsse zugeben, da kein Fachmann drin zu sein. Er selbst sei einigermaßen mit dem zufrieden, was er erhalte. Für viele Leute sei das aber eine Abschreckung, zu erleben, daß sie ihre Rechte nicht durchsetzen können und eigentlich mehr erhalten müßten. Allerdings gibt es auch Leute, die sich mittlerweile sehr gut auskennen mit dem System und alles kriegen, was ihnen zusteht. Er persönlich kenne jemanden, der sei ein echter Experte dafür. Mit dem könne er mir mal ein Gespräch vermitteln. Dieser Experte mache das selbst schon seit etwa 20 Jahren, bundesweit. Er kenne sich in Berlin schon bestens aus und könne mir auf Anhieb sagen, wo und man was bekommen könne und wo nicht. (Hier an dieser Stelle eine materialistische Aufarbeitung der Entstehung und Funktion dieser unterschiedlichen bezirklichen und kommunalen Bewilligungspraxis) - auch dies ist ein Element des Phänomens "Nichtseßhaftigkeit": Hier wird auch bezogen auf den Raum Berlin eine künstliche Mobilität hergestellt: Das ist das Umherfahren - d.h. das Schwarzfahren - innerhalb der Stadt von einer Einrichtung in die nächste, das ist aber auch, so wie Drolli das berichtet hat, eine Möglichkeit des ständigen Wechsels der Wohnortes und damit der Zuständigkeit der Sozialämter: M.a.W., wenn ich bei Sozialamt 1 etwas nicht kriege, melde ich mich woanders an, dann ist Sozialamt 2 für mich zuständig, dann kriege ich vielleicht dort das, was ich brauche. Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß es immer vom einzelnen Betroffenen abhängt, inwieweit er solch eine Praxis betreibt. Dies wird zum Beispiel auch deutlich an dem Beispiel der Nutzung der Essensangebote: Es gäbe zum Beispiel einige Spezialisten, die den ganzen Tag über von 7:00 Uhr an nichts anderes machen, als den ganzen Tag in der Stadt umherzufahren, um alle Angebote mitzunehmen. Das habe er in der Anfangszeit auch so gemacht, da ist er mit einem mitgefahren, dann ist ihm das aber alles zuviel geworden, und er betreibt das jetzt nicht mehr so extrem.
Als einen sehr wichtigen Vorschlag formulierte Manne, für Wohnungslose mehr Schließfächer einzurichten, in Verbindung mit einfachsten sanitären Einrichtungen: Toiletten, Waschbecken usw., wo man ganz grundlegende sanitäre Bedürfnisse befriedigen könne. Solche Möglichkeiten gäbe es einfach zuwenig. Es wäre aber sehr wichtig, über Möglichkeiten zu verfügen, wo man seine Sachen unterbringen könne: Saubere Wäsche zum Wechseln, Möglichkeiten der Kleiderwäsche und Körperreinigung, die Obdachlosen liefen nicht mehr Gefahr, ständig beklaut zu werden, müßten nicht mehr ständig mit ihren Sachen herumlaufen. Und sauber gekleidete Leute hätten auch bessere Chancen, einen Job zu finden, als wenn sie mit verdreckter Kleidung und kaputten Schuhen herumlaufen würden. Manne war so nett und nannte auch gleich die Gegenargumente: Es gäbe dann nur noch saubere Obdachlose, an dem Problem an sich, daß es keine Arbeit und keine Wohnungen gäbe, wäre damit nichts geändert. Ein zweites Argument meinerseits besteht darin, daß die Öffentlichkeit damit auch weniger von der Notlage wahrnehmen würde. Dies allerdings ist ein Scheiß-Argument: Der Umkehrschluß ist der: Nur, wer sein Elend auch richtig zur Schau stellen kann, der findet auch Beachtung. Erstens: Diese Praxis haben wir ja schon, und zweitens: eben dagegen gilt es ja etwas zu unternehmen. Umgekehrt, der Standpunkt von Manne ist richtig: Er fordert etwas, was konkret einlösbar scheint und eine kurzfristige Verbesserung der Lebenslage darstellt.
Diese Scheißdialektik zwischen dem, was erreichbar ist und dem, was eigentlich nottut: Bei allem besteht die Gefahr, daß sich die Intention in ihr Gegenteil verkehrt.
Manne berichtet davon, daß er eines Tages Platte gemacht hat mit einem alten Mann, bei dem sich dann herausstellte, daß es schwul ist. Manne wies, wie er berichtet, die Annäherungsversuche sofort zurück. Er machte Platte in einem Gebäude an der Gedächtniskirche. Dieses Gebäude ist eigentlich ein Bürogebäude, weil dort aber auch im ersten Stock eine bekannte Tanzschule ist, könne man dort auch spät abends noch rein. Weil das Gebäude nur als Bürogebäude benutzt wird, könne man dort in den 12 Stockwerken ungestört Platte machen.
Manne sprach auch an, daß es in Uelzen einen Obdachlosentreffen geben wird. Er sprach davon, daß es vom Seeling-Treff eine Fahrt dahin geben werde. Ich sprach mit ihm davon, daß ich da auch hinfahren wolle, und schon mit Frank darüber gesprochen hätte. Ich sagte ihm, daß ich in der Beratungsstelle Levetzowstraße fragen wolle, ob ich die Wanne dafür ausleihen könne. Ich bot ihm an, in diesem Falle mitzukommen. Er äußerte sich gespannt darüber, was da wohl in Uelzen los sein würde, wenn viele Obdachlose kämen und bei Sozialamt den Durchreisesatz beantragen würden.
Protokollnotiz Montag, 3.6.1991
Schreibe Frank einen Brief:
Stefan Schneider
Hauptstr. 147
1000 Berlin 62
Frank Sommer
Quitzowstr. XX
1000 Berlin 21
Ich schreibe dir mit Computer, weil ich erstens zu faul bin, einen Kugelschreiber zu halten, weil ich zweitens eine Sauklaue habe und weil ich drittens Eindruck schinden will (ha-ha):
Wegen der Idee, nach Uelzen zu dem Treffen von Mittwoch, den 19.6. bis Samstag, den 22. 6. zu fahren, war ich heute in der Levetzowstraße, um zu fragen, ob ich die Bullenwanne von ihnen haben kann. Da die Leute da solche Ideen immer gut finden, kann ich das Auto haben und überdies überlegen sie, ob sie nicht aus ihrer Spendenkasse einen Zuschuß für Benzinkosten und Verpflegung übrig haben. Also: ein Auto wäre da, etwas Geld ist wahrscheinlich auch vorhanden, noch habe ich einen gültigen Führerschein: Einer Fahrt nach Uelzen steht also nichts im Wege. Maximal können 8 Leute mitfahren - wenn es mehr werden, bräuchte ich einen Personenbeförderungsschein, und den habe ich nicht.
Ich finde, du solltest den Teil der Arbeit übernehmen, die Leute zu fragen, die Lust haben, mitzukommen. Zum Beispiel den Grufti, oder Drolli, oder Werner, Schlotti, oder Manne, Müller, Bremen usw. - eben wer Interesse hat. Ich denke, das kannst du organisieren - du kennst die Leute ja besser als ich.
Und dann sollten wir noch, bevor wir dann fahren sollten, einige organisatorische Sachen klären: Was wir mitnehmen müssen, was wir einkaufen müssen, usw. (Der Vorteil von der Bullenwanne ist, daß man da auch drin schlafen kann - vielleicht nicht alle, aber einige, damit wär die Übernachtungsfrage auch schon teilweise geklärt, und ansonsten Zelte oder sowas.)
Aber wir sehen uns vorher ja auf jeden Fall noch. Du kannst mich zum einen anrufen: 784 73 37 oder 3185 - 2099, ansonsten bin ich am Freitag, den 7.6. beim Theaterstück in Ost-Berlin, und dann den Freitag drauf beim Frühstück im Warmen Otto auf jeden Fall zu treffen.
Protokollnotiz 42 von Freitag, dem 7.6.1991
Theaterstück
Protokollnotiz 43 von Montag, dem 10.6.1991
Wollte Frank besuchen, treffe vor dem Haus Heinz, wir gehen zusammen hoch, der ist aber nicht da. Heinz klingelt zwei Stockwerke tiefer, weil er vermutet, daß Drolli da sein könnte. Ist er aber nicht. Wir gehen dann zusammen die Rathenaustraße runter, es fängt an zu regnen, wir stellen uns in einem Hauseingang unter, unterhalten uns, rauchen eine Zigarette. Als der Regen aufhört, versuchen wir es nochmal bei Frank. Der ist aber immer noch nicht da.
Ich frage mich gerade, wieso zwischen der Protokollnotiz 42 und dieser so eine lange Lücke klafft? Gut, bis Mittwoch letzter Woche nach der Premiere war die Rezension anzufertigen, aber dann?
Protokollnotiz 45 von Dienstag, dem 11.6.1991
Anruf Frank aus einer Kneipe am Vormittag bei mir zuhause. Er hätte schon mehrfach versucht, mich zu erreichen. Hat meinen Brief erhalten. Freut sich schon tierisch. Wir verabreden uns für morgen zwischen 13:00 und 14:00 Uhr bei ihm, um die weiteren Einzelheiten bezüglich der Fahrt zu besprechen.
Fahre dann am Nachmittag mit der U-Bahn zu Hansaplatz, um Manne zu erreichen. Ich finde ihn auf einer Bank vorne an der Straßenecke, mit noch 4 oder 5 anderen Leuten. Erkenne Ellen. Manne ist leicht angetrunken, er meint, so würde ich ihn in der Regel nicht kennen, aber heute sei er dabei, abzustürzen. Will nach Uelzen mitkommen. Gebe ihm meine Rezension des Theaterstücks. Er meint, er wolle sie sich später ansehen. Jetzt habe er nicht die Ruhe dafür. Hatte gehofft, mich schon vorher mal zu treffen. Ich gebe ihm meine beiden Nummern. Sage, daß wir uns morgen treffen könnten. Frage ihn, wo er normalerweise frühstückt. Er sagt, daß sei eine gute Frage. Er beschreibt mir die Teestube in der Bismarckstraße, die sei morgen ab 10:00 auf. Wir verabreden uns für morgen.
Er hätte jetzt eine Mitwohngelegenheit in Reinickendorf (bei einer Bekannten). Und er hätte eine Vorladung zu Gericht. Da sei er heute früh gewesen. Der Termin sei aber erst Dienstag in einer Woche.
Protokollnotiz 46 von Mittwoch, dem 12.6.1991; 10:15 - 11:30
Entsprechend der gestrigen Verabredung mit Manne fahre ich in die Teestube in der Bismarckstr. 40. Ich bin ein bischen spät dran. Ich suche nach Manne, der ist aber nicht da, stattdessen spricht mich Volker an. Er bietet mir eine Tasse Kaffee an, fordert mich auf, mich zu ihm an den Tisch zu setzen. Wir sprechen über die Fahrt. Er habe zufällig letzte Woche Frank getroffen, der hat ihn darauf angesprochen. Volker will auf jeden Fall mitkommen, fragt mich um Erlaubnis. Ich verweise auf Frank, sage, daß ich der Fahrer bin, daß Frank das entscheiden soll. Wir gehen nach draußen, weil wir nur dort eine Rauchen können. Volker macht viel Hektik. Ich erkläre, daß wir 200,-- DM Spende für Verpflegung haben, daß ich Zelte habe, daß wir auch in der Wanne schlafen können. Wir verabreden uns für Sonntag, 13:00 Uhr im W.O.
Volker will noch Decken besorgen, auch in der Levetzowstr. danach noch mal nachfragen, aus dem W.O. Spiele mitnehmen. Will wissen, ob ich Kanaster spiele. Insgesamt können neuen Leute mitfahren, erzähle ich. Im Moment sind wir vier oder fünf: Frank, Schlotti, Volker, Manne, ich und ???. Volker saß in der Teestube am Tisch mit einem jüngeren Mann, offenbar ein Bekannter von ihm. Er kommt auch mit raus, um eine zu rauchen. Ich frage ihn, als wir zu dritt zusammenstehen, ob er nicht auch mitkommen wolle. Es wisse es noch nicht. Bei ihm sei daß offenbar von den Kosten abhängig. Volker würde ihm Geld leihen, so für Bier. Er setzt ihm auseinander, daß es daran wohl nicht scheitern würde. Er würde ihm auch Geld schenken, so dreißig Mark. Der Mann sagt, das würde er so Sonntag oder Montag sagen können. Das reicht. Später kommt auch Erich, den ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen habe. Volker spricht ihn an, ob er nicht mitkommen wolle. Erich sagt, er wolle nicht, Gründe dafür gibt er aber keine an.
Die Teestube hat offenbar öfter vormittags auf. Es gibt Kaffee, Schmalzstullen, Marmorkuchen. Es ist eine Nichtraucherbude. Sie ist eine moderner Ladenraum, mit einem großen Aufenthaltsraum zur Straße hin und einem kleineren Raum nach hinten raus, sowie einige sonstige Räume, die nicht allgemein zugänglich sind. Sie ist modern und bequem eingerichtet, nicht so "schäbig" und verraucht wie der Warme Otto. Träger dieser Veranstaltung ist ein evangelischer Baptistenverein. Entsprechend direktiv-freundlich ist auch das Auftreten des Obertennos. Er begrüßt mich mit Handschlag, stellt sich vor, ich bin auch gezwungen, meinen Namen zu nennen. Draußen kommt er auch raus, Volker spricht ihn an wegen Decken für die Fahrt, er stellt mich auch vor, wir reden miteinander. Es ist so nicht möglich, die Anonymität zu wahren. Auch vorher im Raum sagte er schon höflich und bestimmt, man könne nicht einfach so die Schmalzstullen von einem Tisch zu anderen nehmen, wir sollen bitteschön warten, weil Zeit hätten wir ja genug, bis neue Stullen an den Tisch kämen. Auch, so erklärte mir Volker, dürften nicht mehr als vier Personen an einen Tisch sitzen, man solle die Stühle nicht rücken. Ich fand, als ich wieder reinkam, meine Tasse auch an einem Nachbartisch vor. Volker hatte sie für mich umgestellt. Kurz vor elf von dem Obertenno auch die ausdrückliche Einladung zum Gebet. Die Zeitungen sollen verschwinden, schlafende Nebenmänner aufgeweckt werden, die Hände in den Schoß. Dann eine Art Predigt, Aufhänger persönliche Erlebnisse, Bezug auf die Bibel, abschließendes Gebet. Hände falten, Kopf runter. Das kannten die Besucher schon fast alle. Eine Viertelstunde lang die Veranstaltung insgesamt. Die Teestube war gut gefüllt, vielleicht dreißig Personen, in der Regel vergleichsweise ordentlich gekleidet, insbesondere auch Volker.
Ich dachte mir, so ist das: Ich zerlege einen Gegenstand, und über die Einzelteile hinaus wird das Ganze nicht mehr sichtbar. Diese Teestube ist ein solches Zerlegungsprodukt. Die Einrichtungen für Wohnungslose bieten für alle etwas. Dieser Laden insbesondere für die, die es etwas christlich und etwas mehr direktiv brauchen. Nicht so schlaff wie im W.O. Darüberhinaus, objektiv, ist die Einrichtung auch wirklich freundlicher, allerdings auch so etwas Einrichtungsmäßig, christlich: Diese Modernen Meditationsposter mit irgendwelchen Sinnsprüchen stilgerecht im rahmenlosen Bildhalter an der Wand. Feini, feini. Die Leute lesen Zeitung, ich sehe BZ, aber auch die Taz, den Spiegel, andere lösen Kreuzworträtsel, andere sitzen an den Tischen, unterhalten sich. Immer wieder welche gehen nach draußen, rauchen eine in kleinen Gruppen. Ja, von der ganzen Athmosphäre her wirkt das ganze nicht so trostlos wie noch früher im Warmen Otto. Das macht wohl einiges aus, diese Rückwirkung der räumlichen Athmosphäre auf das Wohlbefinden. Kann mir gut vorstellen, daß es Leute gibt, die auf ein solches Konzept gut abfahren (Volker), daß es andere gibt, die einen solchen Laden überhaupt nicht abkönnen und daß es dritte gibt, die diesen Kram in Kauf nehmen, wenn sie sich dafür Kaffee und Schmalzstulle abholen können. Allerdings: (Dünner) Kaffee und Schmalzstulle, das ist reichlich dürftig. Wirklich reichlich dürftig.
Volker macht einen Hausmeisterposten in Vertretung einer Bekannten, die über Monate im Krankenhaus ist. Kann auch da wohnen. Erhält für die Arbeit 400,-- DM monatlich: Zweimal die Woche, Dienstag und Freitag Aufgang putzen.
Volker trinkt nicht, hat noch nie getrunken, höchstens eine Cola. War insgesamt über fünf Jahre im W.O. Küchenbulle. Dann wollte er nicht mehr. Hat nichtmal ein Dankeschön-Essen erhalten, wie er sagt. Kann sich die Arbeit auch nicht für die Rente anrechnen lassen. War ja schwarz. Für (zuletzt) zweihundert Mark im Monat. Aufwandsentschädigung.
Ein weiterer Mann kommt, den ich auch vom sehen her kenne. War heute schon um sechs Uhr früh Oscar Helene Heim, wo eine Kleiderausgabestelle ist. Die macht aber erst im 9:00 Uhr auf, was er offenbar nicht wußte. Hat aber keine guten Klamotten bekommen. Das bestätigt auch Volker. Man müsse etwas zahlen, um gute Sachen zu erhalten. Anderslautende Informationen von Frank, er sagte mir mal, da solle es wirklich gute Sachen geben. Was ist da nun dran.
Der Mann hat jetzt eine Wohnung in Treptow. Ist aber nicht zufrieden mit dem Wohnungszustand und den mangelnden Einkaufsmöglichkeiten. Hat früher in der WG in der Stephanstraße gewohnt, hat jetzt die Aussicht auf eine eigene (betreute?) Wohnung in Moabit. Hat zwischenzeitlich ein halbes Jahr Entzug in Wessiland gemacht. Meint, er hätte fast zwanzig Jahre lang schwer gesoffen. Meint, der Körper brauche jetzt bestimmt zwei Jahre, um sich davon zu erholen.
Ansonsten: Manne ist nicht da gewesen. Vielleicht ist er gestern noch schwer versackt. Jetzt gleich noch Verabredung mir Frank wegen Planung Fahrt. Vielleicht auch noch Versuch, Manne Hansaplatz zu treffen. Dann protokollieren, Arbeitsorganisation, Karteikarte, und dann ist der Tag auch wieder gelaufen.
Anschließend zwischen 13:00 und 14:00 Uhr eine Verabredung mit Frank wegen der Vorbereitung der Fahrt. Komme kurz nach 13:00 Uhr, Frank ist noch nicht da, kommt aber bald. Mit dem Otto Nagel, Die weiße Taube oder das Nasse Dreieck habe ich ihm eine große Freunde gemacht. Er habe das Buch gleich weiterverliehen. An eine Sozialarbeiterin. Mit ROHRMANN konnte er offenbar nicht soviel anfangen. Meinte, das ist doch auch so ein Untertenno gewesen. Er wunderte sich: Wie kann man sich nur so blöd anstellen. Er hätte sich besser orientieren sollen. Zum Beispiel von anderen in Erfahrung bringen, welche Möglichkeiten es gibt, Essensstellen, Suppenstuben anzulaufen und wo es Übernachtungsmöglichkeiten gibt. Allerdings räumte Frank ein, daß er sich mit Westdeutschen Verhältnissen nicht so gut auskenne. Einmal war er in München in einer Wärmestube gewesen (KOMM?). Er wunderte sich, daß sie so lange aufhätte (bis 21:00 Uhr).
Frank bedauert, daß Heinz nicht mitkommen wolle. Er hoffe aber, ihn noch morgen überreden zu können. Er hoffe, ihn vielleicht in der Schillerpromenade treffen zu können.
Protokollnotiz 47 von Sonntag, dem 16.6.1991, 13:15 - 14:30 Warmer Otto
Verabredung Frank, Manne, Einkauf, Vorbereitung Fahrt, Volker kam nicht
Protokollnotiz 48 von Dienstag, dem 18.6.1991; 12:20 - 17:30
Besorgungen Manne und Schlotti
Protokollnotiz 49 der Fahrt nach Uelzen 19. - 22. 6. 1991
siehe Artikel zu Uelzen
Protokollnotiz 50 von Montag, dem 24.6.1991; 19:30 - 21:15
Ein Andreas Bauer hatte in Uelzen seinen Personalausweis verloren, Frank sagte mir, daß er häufig in der Schillerpromenade (auch eine Wärmestube verkehrte), also wollte ich heute abend (früher hatte ich keine Zeit) in die Schillerpromenade fahren. Die Begründung war auch, daß ein Untertenno dem Andreas gegenüber glaubwürdiger wirkt als einer der Plattengänger: Nachher würde ihnen noch vorgeworfen, sie hätten die Brieftasche ausgeleert. Dem war aber nicht so, Frank hatte sie leer gefunden. Klaus deutete gestern noch an, daß er eventuell auch in die Schillerpromenade kommen würde. Auch von Grufti weiß ich, daß er häufiger dort verkehrt (Annemarie!). Stattdessen traf ich Frank. Andreas war zwar da, aber schon wieder weg, er nahm an einem Kochkurs teil im Peter-Frank-Haus. Ziel dieser Veranstaltung ist es, eine Gulaschkanone zu bestücken: Kochkurs für Gulaschkanonen. (Hört, hört). Zusammen mit Frank gab ich den Ausweis einer Sozialarbeiterin ab, die meinte, daß sie ihn wohl spätestens Donnerstag sehe. Ich traf Frank vorher in einem der Räume beim Skat spielen mit mir unbekannten Personen. Er erschlauchte auf eine sehr freundliche Art eine Kanne Kaffee für den ganzen Tisch. (Im Unterschied zu Tee und den Stullen muß der Kaffee bezahlt werden: Eine Kanne Kaffee 2,50 DM) Später hörte dann Frank auf mit dem Skatspielen und wir unterhielten uns vor allem über den Uelzener Kongress. Die beiden Gesprächspartner wußten nicht so recht, was sie da hätten sollen, denn sie hätten ja eine Wohnung. Wir sprachen über die Initiative das Recht auf Wohnung ins Grundgesetz zu bringen. Die Einwände waren, daß das Recht auf Wohnung die eine Seite, die tatsächliche Praxis aber die andere sei, und daß allein ein Recht im GG wenig nütze. Der andere Einwand war dahingehend, daß viele eine Wohnung gar nicht wollten. Als Beispiel wurde Heinz genannt, der eine Wohnung in der Quitzowstraße nicht wollte. Ein anderes Beispiel nannte einer der Gesprächsteilnehmer. Er hätte einen Untermieter gehabt (aus der Wohnungslosenszene). Nach einigen Monaten kippte die Sache. Der Untermieter war mit den Zahlungen im Verzug, ist schließlich mit der gesamten Miete abgehauen. Und dann dauerte es eine Zeit, den Untermieter wieder abzumelden. Der Gesprächspartner erwähnte, daß die Schwierigkeit dann darin bestand, für diese Zeit nicht Wohngeld beantragen zu können (da der Einnahmeausfall nicht ausgeglichen werden konnte - ???)
Frage: Gewährung von Mitwohngelegenheiten (Untermiete, informelle Absprachen) aus Ökonomischen Gründen (damit die Miete nicht so teuer kommt?) bzw. aus psychologischen Gründen (weil Scheu besteht, Wohngeld zu beantragen?)
Weiterer Gesprächsinhalt: Arbeitsmöglichkeiten und Jobs über die Börse: Gelegentlicher Leerlauf bei einzelnen Jobs: Schwierigkeiten, die Wartezeiten zu überbrücken, wenn es Leerlauf bei der Arbeit gibt (wobei es auch Leute gibt, für die das kein Problem darstellt.
Von den wenigen Einrichtungen, die ich kenne, macht die Schillerpromenade den angenehmsten Eindruck: Die Wärmestube besteht aus mehreren, im Haus verschachtelten Räumlichkeiten, die alle mehr oder weniger wie Wohnzimmer aus den 60er Jahren gestaltet sind. Fast überall läuft Radio, es scheint eine angenehme, ja fast lustige, lockere Stimmung unter den Gästen zu herrschen. Ich treffe einige Teilnehmer von der Uelzen-Fahrt, einer schreibt an einem Bericht (Aufzählung von Fakten). Ich erfahre von ihm (Jörg?) dann später etwas über einen Verein: Obdachlose helfen Obdachlosen durch Obdachlose, also so eine Art Selbsthilfegruppe, die am Mittwoch um 18:00 in der Wrangelstraße eine Diskussionsveranstaltung durchführt (zu der Kohl und Waigel und Nagel eingeladen sind, die aber nicht kommen werden). Habe den festen Vorsatz, da am hinzugehen. Etwas ungünstig für den Verein war, daß die beiden Vorsitzenden auf dem Kongress quasi die ganze Zeit durchweg besoffen waren (dieses Phänomen kommt mir bekannt vor!) Positiv nach Meinung des Gesprächspartners waren die vielen Gesprächskontakte zu anderen Gruppen. Wir reden über die Möglichkeiten von Vernetzungen. Diejenigen, die organisiert auf den Kongress hingefahren sind, konnten am meisten reißen.
(Diese Entwicklung ist m.E. erst möglich durch die Entstehung von Wärmestuben und anderen vergleichbaren Einrichtungen: hier: Fragment der Theoriebildung)
Ich stelle mich (Jörg) vor als Sozialarbeiter, der aber nicht konkret als Sozi arbeitet, sondern forscht und die Sichtweise der Betroffenen transportieren will.)
Ich fahre dann mit Frank nach Hause, verabrede, daß ich morgen nach Möglichkeit die Lebensmittel von der Fahrt bei ihm vorbeibringen will.
Protokollnotiz 51 von Freitag, dem 28.6.1991; 11:00 - 13:30
Im Warmen Otto gewesen, Klaus bat mich, Zelte und Schlafsack auszuleihen.
Protokollnotiz 52 von Sonntag, dem 8.9.1991, 17:00 - 18:00
Turmstraßenfest. Besonders auffällig: Sehe den Blinden nahe dem U-Bahnhof Turmstraße an einer der etwas abseits gelegenen Ecke von Fest Sitzung machen. Sehr auffällig. Wer von der Perleberger Seite kommt, kann kaum vorbeigehen, ohne ihn zu bemerken. Allerdings ist auch soviel Platz, daß es durchaus möglich ist, relativ weit an ihm vorbeizugehen.
Später sehe ich auch Leo, der an mir vorbeigeht. Sein Gang ist zielgerichtet. nicht schlendernd, bummelnd wie die meisten der Turmstraßenfestbesucher. Er scheint weitgehend nüchtern zu sein, sieht relativ gut aus. Im Verlauf des Festes sehe ich zwei oder drei weitere Personen, die ich zur Wohnungslosenszene zähle und die mir vom sehen bekannt vorkommen. Sie sitzen an einem der vielen Veranstaltungsorte und halten sich dort auf.
Protokollnotiz 53 von Freitag, 18.10.1991, 11:30 - 12:30, Spichernstraße
Treffe Manne, Karl und Rudi (?) auf einer Parkbank an der Grünanlage Bundesallee, zuerst spricht Manne mit mir, ich erzähle, Manne sagt kurz und knapp: ohne Arbeit, ohne Wohnung, Ursachen Alkohol und so weiter, Karl sagt, mit Interviews will er nichts zu tun haben: streitet auch zuerst ab, obdachlos zu sein, dagegen Karl sagt gleich, er habe noch eine Wohnung, die anderen aber nicht, Manne etwa 2 Jahre Platte, Rudi dagegen 7 bis 9 Jahre, er sei Spezialist, komme dadurch in das Gespräch hinein, daß ich gefragt werde, ob ich nicht für Rudi einen Scheck ausfüllen könne, sage ja und setze mich dazwischen auf den freien Platz, Manne ist so nett und gibt mir eine Zeitung, weil die Bank etwas beschädigt und auf der einen Seite naß ist. Später dann geht Manne zur Post den Scheck über dreihundert DM einlösen, ich unterhalte mich mit Karl und Rudi. Die Gesprächssituation wird ganz locker. Rudi erzählt von der Zeit als Grepo, dann von der Arbeit als Mauerer.
Rudi, etwa über 50 Jahre alt, im heutigen Polen geboren (damals deutsches Gebiet, 1944 in Posen, danach in der DDR. Gelernter Maurer
- Rudi
- Alter
über 50 (geboren etwa 1937-39?)
- Geschlecht
m
- Herkunft (Geburtsort)
Polen (ehemals deutsche Gebiete)
- Schulbildung (höchster Abschluß)
- Berufsausbildung
Maurer- Beruf
Maurer, Grenzsoldat
- Familienstand/ Kinder
Verheiratet, einen Sohn, geboren 1970
Verurteilungen wegen nichterfolgten Unterhaltsleistungen
- Dauer der Arbeitslosigkeit
- Zeitpunkt des Wohnungsverlustes
zwischen 1982 und 1984
- Krankheiten/Unfälle
letztes Glied vom Zeigefinger der rechten Hand fehlt,
erheblicher Alkoholkonsum während der Arbeitszeit als Mauerer, Delirium, Einweisung in eine Nervenanstalt
aktuell: Wohnsituation Platte, irgendwo im Tiergarten, in Nähe des Gartenbauamts.
keine Sozialhilfe, lebt von Einkünften eines Bekannten
seit sieben Jahren auf Platte
aktueller Bezug zu Einrichtungen des Hilfesystems: keiner
hatte früher Kontakt zum Zoo, geht da aber nicht mehr hin, weil es im besoffenen Zustand zu Raufereien kommt, das will er nicht
im letzten Jahr: Unterkunftssituation Platte
gelegentlicher Bezug zu ambulanten Einrichtungen:
- Beratungsstelle (Weihnachtsfeier)
- Warmer Otto (ganz selten)
sonstiges: Mutter und Bruder in Westdeutschland
(es ist ihm unangenehm: er möchte nicht, daß sie wissen, wie er lebt, gibt deshalb die Adresse von Rudi an)
insgesamt spricht er von 2 Jahren Haftaufenthalt, wegen kleinerer Delikte: Unterhaltszahlungen, Diebstahl (Alkohol), nicht aber wegen Schwarzfahren.
Karl
- Alter
40; geboren 1951
- Geschlecht
m
- Herkunft (Geburtsort)
Meklenburg
- Schulbildung (höchster Abschluß)
- Berufsausbildung
Maurer
- Beruf
Maurer, dann in den 80er , etwa zwischen 1980 und 1985, 4 Jahre lang Beruf als Sportwart in Wilmersdorf
- Familienstand/ Kinder
verheiratet,
- Dauer der Arbeitslosigkeit
fünf Jahre, bezieht Arbeitslosenhilfe, die ihm auf ein Konto überwiesen wird
- Zeitpunkt des Wohnungsverlustes
nimmt an, daß er im nächsten Monat seine Wohnung verlieren wird (Mietschulden) und dann mit Rudi und Manne Platte machen kann
- Krankheiten/Unfälle
beide Arbeitsplätze verloren wegen Alkohol am Arbeitsplatz,
war auf verschiedenen Langzeittherapien ohne "Erfolg"
Manne
- Alter
- Geschlecht
- Herkunft (Geburtsort)
- Schulbildung (höchster Abschluß)
- Berufsausbildung
- Beruf
- Familienstand/ Kinder
- Dauer der Arbeitslosigkeit
- Zeitpunkt des Wohnungsverlustes
- Krankheiten/Unfälle
Protokollnotiz 54 von Montag, dem 21.10.1991; 14:00 Hansaplatz
Spreche nach einigem Zögern einen Mann an, der sich in der Nähe der Bücherei aufhält. Nenne ihn den "Soldaten". Äußerst schwer, ihn zu verstehen, schwierig, mit ihm ins Gespräch zu kommen, welches er nach kürzester Zeit mit der Bemerkung, er müsse weiter, abbricht und geht.
Protokollnotiz 55 von Dienstag, dem 22.10.1991; 11:30 - 13:30 Zoo und Spichernstraße
Zoo: Angesprochen, lehnt wüst ab
Spichernstraße: treffe dort Rudi, Manne, Heinz, Waltraut (keine Karteikarte), noch eine weitere Frau, sowie zwei bis drei weitere Personen. Erhalte vorwiegend Informationen über Heinz, den ich heute das erste Mal spreche.
Habe aber nicht viel Zeit, da ich unterwegs bin zu einen anderen Termin.
Protokollnotiz 56 von Mittwoch, den 30.10.1991, 12:30 - 14:30 Zoo und Hansaplatz
Zunächst Zoo zwei Personen angesprochen, die erklärten, sie seien nicht Wohnungslos.
Dann Hansaplatz: Dort Gespräch mit Latschen-Opa, dann kam "Arm" und noch ein weiterer dazu. Unterhaltung mit Latschen-Opa und Arm. Arm und sein Begleiter dann weg zur Wärmestube Schöneberg, Opa folgte ihnen nach.Protokollnotiz 57 von Donnerstag, den 31.10.1991, 12:30 bis 17:00 Hansaplatz, bei Rudi zuhause, bei Frank, Zoo
Versuche es zunächst Zoo.
Fahre dann weiter Hansaplatz.
Treffe Rudi Hansaplatz, gehe mit ihm zur Wohnungsgesellschaft, dann lädt er mich bei sich zuhause ein.
Er wohnt Cuxhavener Str.
Dort erfahre ich vor allem von seinen Kontakten zu Arno und Herbert.
Dann sehe ich mich Moabit um. Anschließend gehe ich zu Frank.
Dort erschließe ich mir Kontakte zu Biggi und Ernst.
Wir verabreden uns für Samstag um die Mittagszeit.
Am Samstag muß ich auch Frank informieren, daß wir zur Wärmestube Hohenstaufenstraße gehen informiere ich
Drolli war auch da, sowie ein weiterer Mann, den ich nicht kannte.
Auf dem Rückweg spricht am Zoo mich Andreas an um Geld,Protokollnotiz 58 von Freitag, dem 1.11.1991, von 12:30 bis 15:00 Spichernstraße.
war mit Rudi (Wohnung) verabredet. Der war aber nicht da, stattdessen kam gegen 12:45 Heinz. Mit diesem geredet, wichtige Daten erhalten. Ging dann weiter.
Rudi im Vorübergehen gesehen. Hielt sich dann mit Rudi und Manne an einer anderen Ecke auf.
Mit Rudi und Rudi gequatscht, wichtige Daten erfahren, bzw. Daten korrigieren können.
Dann mit Rudi zu Arno und Herbert rübergegangen. Diese aber wollten nicht gestört werden, nichts mit einem Sozialarbeiter zu tun haben.
Dann noch kurz weiter gequatscht.Protokollnotiz 59 von Samstag, dem 2.11.1991, 12:15 - 13:30 bei Biggy und Ernst
Anwesende.: Biggy, Ernst, noch eine weitere Person
War mit den beiden heute verabredet: Ernst hatte mir am Donnerstag ein Interview zugesagt. War dann sehr skeptisch, als ich das Tonbandgerät auspackte. Schließlich sagte er mir, das er doch nicht bereit sei, ein Gespräch mit mir zu führen. Hat mir Kaffee angeboten. Fehleranalyse: Muß wohl zu ruhig, schweigsam gewesen sein.
Protokollnotiz 60 von Sonntag, dem 3.11.1991; 10:00 - 10:45, 12:00 - 14:00 W.0.; 15:00 - 15:15 Wärmestube Hohenstaufenstraße.
Heute von 10:00 bis 10:45 auf Andreas und Partner gewartet, mit denen ich mich am Freitag verabredet hatte. Leider nicht gekommen. Was mache ich falsch. Hätte ich die beiden an Ort und Stelle am Donnerstag interviewen sollen?
Gleich nochmal weiter: Entweder Zoo oder Hansaplatz oder Moabit.
Will endlich wieder ein Interview haben. Aber erzwingen läßt sich das wohl nicht.Fahre mit der U-Bahn zur Turmstraße. Dirk steigt auch in den Zug, als er - wie ich - Turmstraße aussteigt, spreche ich ihn an: Er geht zielstrebig in die Wärmestube, wartet dann davor. Er geht zwar auf alle meine Fragen ein, erlaubt auch eine Tonbandaufnahme, läßt sich aber in seiner Absicht, vor der Wärmestube zu warten, nicht beirren. Bald trifft auch Heinz ein. (Leider ist die Aufzeichnung total mißglückt, da ich Idiot zwischenzeitlich aus Versehen die Aufnahme abgestellt hatte auf Pause)
Auch Erich kommt in die Wärmestube. Verabschiede mich gegen 14:00 aus der Wärmestube mit dem Hinweis, ich wolle noch in die Hohenstaufenstraße.
In der Hohenstaufenstraße treffe ich weder Markus, noch Volker, noch Frank. Markus arbeitet erst Mittwoch wieder da.
Raum schön eingerichtet, hell, es gibt Suppe, vorwiegend jüngere Leute da, z.T. richtige Jugendliche.
Protokollnotiz 61 von Montag, dem 4.11.1991, 12:00 - 14:00 HDK
Komme in die HDK, und sehe auf meinem Weg ins Büro Rudi bei Arno und Herbert sitzen. Sehe das als Gelegenheit, mit denen ins Gespräch zu kommen, und gehe sofort herunter.
Werde eingeladen, mich zu ihnen zu setzen, lasse mir auch Bier, Schnaps und Zigaretten spendieren, muß aber erst lange zunächst Arno, dann Herbert erklären, wer ich bin, was ich mache und was ich will. Zwischenzeitlich kommt Rudi und XXX vorbei.
Protokollnotiz 62 von Dienstag, dem 5.11.1991
von 11:300 bis 14:00 Bismarckstraße (Heinz, Dirk, Helmut, Erich),
dann Ottopark: Künstler (Fotograf und Designer) bis 15:00, dann in der U-Bahn , dann in der U-Bahn Erich (Ostpreußen.) getroffen:
Interview in der Eingangshalle von Hertie durchgeführt.
Anschließend mit ihm zur Markthalle gegangen, dort andere getroffen, u.a. XXX, zu dem mir Erich Kontakt vermitteln will.
16:00 bis 16:00 Heimatmuseum Tiergarten.In der Bismarckstraße diskutieren wir mit Heinz und Helmuth die Notübernachtungen, die sie in einer Kirche am Moritzplatz jetzt den Winter über eingerichtet haben. Bis zu 60 Personen können dort übernachten und erhalten am nächsten morgen ein Frühstück.
Geöffnet sei ab nachmittags um 16:00 Uhr, um dort übernachten zu können, müsse man bis spätestens 21:00 dort eintreffen, und muß am nächsten Morgen die Kirche schon wieder ab 8:00 verlassen. Dirk äußert sich dahingehend,daß er diese Einrichtung wohl nicht in Anspruch nehmen wird, weil er das als Bevormundung bzw. als Einschränkung empfindet.
Am heutigen Tag hatten der Seeling-Treff und der Warme Otto geschlossen, weil an diesem Tag eine Besetzung von Wohncontainern in der Nähe der Friedrichstraße durchgeführt werden sollte.
Sanfter Druck!
In der Diskussion äußern sich alle skeptisch über das Unternehmen, welches die Sozialarbeiter-Maffia von der Levetzowstraße mal wieder ausgeheckt habe:
1. Die Container befinden sich innerhalb der Bannmeile um das Rote Rathaus, sodaß schon von daher eine Besetzung wenig ratsam sei.
2. Die Container seien in Privatbesitz und also kein öffentliches Eigentum
3. Die Container werden in naher Zukunft anderweitig verwendet, z.B. für die Arbeiter im Straßenbau.
Darüberhinaus glauben alle, daß bei weitem nicht alle Wohnungslosen zur Besetzung kommen werden, die das feierlich versprochen haben.
Protokollnotiz 63 von Mittwoch, dem 6.11.1991;
17:00 bis 18:00 Uhr am Zoo: Joachimsthaler Straße zwischen Kantstraße und Kurfürstenstraße in der Passage: Günther macht dort Sitzung.
Ich spreche Günther an, der ist mit einem Interview einverstanden. Wir machen zusammen das Interview. Eine Zigarette von mir nimmt er an, ein Bier lehnt er ab, da er - nach seinen Angaben - nur selten ein Bier trinkt.
Protokollnotiz 64 von Donnerstag, dem 7.11.1991; 15:30 bis 16:30, Zoo
Zum Zoo gegangen. Keinen großen Bock gehabt. FZ war motivierender.
Protokollnotiz 65 von Freitag, dem 8.11.1991,
10:30 - 13:00 Uhr im Warmen Otto,
15:00 - 17:00 am Zoo, Joachimsthaler Str. an der Passage (Fred), und Begleitung. Interview mit Fred vereinbart und durchgeführt.
Komme an, Heinz, Helmuth (kurz da, haut bald wieder ab), Dirk, später kommen Alfons und Alfred, Heinz (Marx). Schlotti
Unterhalte mich zunächst mit Heinz: Erzählt viel über Michael und Achim.
Frage dann Schlotti, ob er einverstanden ist mit einem Interview. Läßt sich meine Tel geben. Ich lasse mir seine Adresse geben, er hat auch eine Telefonnummer mit Anrufbeantworter, will ihn auf jeden Fall anrufen.
Sage Dirk, daß das mit dem Interview nichts geworden ist. Vereinbare mit ihm für Sa, gegen 16:00 am Wassertor einen neuen Termin. Sage ihm 20,-- DM zu.
Dann Doppelkopf gespielt.
Heinz hat zwei Söhne, Michael, der Ältere und Achim der Jüngere. Beide sind etwa 2-4 Jahre auseinander. Als die beiden noch Teenager waren, kam es zum Krach mit seiner Frau, die er dann kurzerhand vor die Tür setzte. Um die beiden Kinder kümmerte er sich, er bekam dann auch das Sorgerecht zugesprochen. Vierzehn Tage danach zog seine neue Freundin bei ihm ein, die war erst neunzehn, sein ältester Sohn Siebzehn. Die Beziehung ging ein halbes Jahr lang gut. Seine Freundin war zu diesem Zeitpunkt auch allein: Ihr vorheriger Freund war heroinabhängig, kam von der Nadel nicht los, hat Selbstmord begangen, indem er aus dem Fenster sprang.
Seine ehemalige Frau protestierte dagegen, aber Heinz ist ihr zuvorgekommen, indem er das Jugendamt in Kenntnis setzte.
Sein Sohn Michael ist inzwischen mit einer Türkin verheiratet, lebt in der Türkei und arbeitet in der Fabrik seines Schwiegervaters.
Heinz hat zeitweilig mit seinen Kindern in Britz gewohnt.
Heinz hat bislang nicht darüber gesprochen, wie es bei ihm dazu kam, daß er anfing, Platte zu machen. Auffällig ist nur, daß er nach der Trennung von seiner Frau offenbar keine feste, dauerhafte und langjährige Beziehung mehr hatte. Möglicherweise ist dies ein Hinweis auf seine spätere Wohnungslosigkeit.
Zum Zoo, Joachimsthaler Str. gegangen, dort Fred getroffen, der in Begleitung einer Frau Sitzung machte. Fred angesprochen, mit ihm ein Interview vereinbart und durchgeführt.
Protokollnotiz 66 von Samstag, dem 9.11.1991; 16:00 - 18:00 Am Wassertor mit Dirk
Hatte am Freitag vorm. im Warmen Otto angesprochen, daß das erste Interview mit ihm nichts geworden ist. Er war mit einer Wiederholung einverstanden, ich sagte ihm 20,-- DM Aufwandentschädigung zu, wir verabredeten uns gegen 16:00 in der Wärmestube am Wassertor. Dirk war schon da, ich führte mit ihm ein Interview durch.
Protokollnotiz 67 von Donnerstag, dem 14.11.1991, 17:00 - 18:30 am Zoo, (Passage an der Joachimsthaler Straße)
Gestern sah in Günther wieder an dem Platz, an dem ich ihn getroffen hatte, Sitzung machen.
Heute war Günther nicht da, aber Petra, die in der Passage alleine saß und ebenfalls Sitzung machte. Ich sprach sie an und führte mit ihr ein Interview durch.
Protokollnotiz 68 von Freitag, dem 15.11.1991; 12:30 - 13:00; Warmer Otto
Auf dem Hinweg auf der Bank gegenüber der Markthalle Karin gesehen.
Ellen nach Angaben von Heinz im Krankenhaus.
Wolfgang (Container.) kennengelernt. Mit ihm gegen 15:00 Treffen Hegelplatz verabredet. Hoffe, daß er mit Interview einverstanden ist.
Hat was erzählt von 2 Jahren im Knast in der DDR, wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt: Im Suff nach der Arbeit von einem ehemaligen Schulkollegen von hinten angefaßt worden, Ausweiskontrolle. Ist ausgerastet und hat ihn geschlagen. Im Knast bekam er zu hören, daß zwei Jahre im Grunde genommen zu wenig sind für dieses Delikt.
Ist sehr zufrieden wegen der Sache mit den Containern, weil die Gruppe am Montag eine prima Unterkunft (Einzelzimmer) in einem ehemaligen Bedienstetenwohnheim in einem Hotel in Aussicht steht. Befristet bis Mai. Sammelt Kippen, (für spätere schlechte Zeiten), will danach noch einkaufen.
Weiß jetzt, wer der Typ mit dem Fahrrad ist.
In der Markthalle dicke blonde langhaarige Frau getroffen: Mögliche Interviewkandidatin.
Dann gegen 15:00 zum Containerdorf am Hegelplatz gefahren: Als ich gegen 15:10 dort eintreffe, sehe ich Wolfgang schon vom weiten im ersten Stock des Containers stehen. Aber erst als ich, nachdem ich noch das Fahrrad abstelle, hochgehe, erkennt er mich und begrüßt mich freudig. Wir führen das Interview im Türbereich durch. Es gibt zunächst anfängliche Probleme mit der Tonbandaufzeichnung: Die Kiste läuft nicht. Ansonsten läuft alles so, wie es aufgenommen ist, abgesehen von einigen kurzen Unterbrechungen, in denen Wolfgang aufs Klo geht bzw. Zigaretten oder Bier holt.
Protokollnotiz 69 von Samstag, dem 16.11.1991; 14:00 bis 14:30, Hegelplatz;
Wollte unbedingt Wolfgang nochmal aufsuchen, um ihm eine alles entscheidende Frage zu stellen.
Nachvollziehbar ist, daß er seine beiden Koffer packt und die Wohnung seiner Freundin verläßt. Nachvollziehbar ist auch, daß es sich dabei um eine möglicherweise völlig spontane Handlung handelte. Andererseits ist mir völlig unerklärlich, wieso der Mann, als er dann mit seinen beiden Koffern am Hauptbahnhof steht, nichts weiter unternimmt: Freunde anruft: Du, ich bin von meiner Freundin weg, hab meine Koffer gepackt, kann ich zu dir kommen, ein paar Tage wohnen, bis ich mir eine neue Wohnung gesucht habe. Oder in ein Hotel oder eine Pension zu gehen, sich dort für einige Tage einzumieten, und sich dann eine neue Wohnung zu suchen. Oder zumindest mit einem Nachtzug irgendwohin zu fahren, und dann am nächsten Morgen in der neuen Stadt einmal zu sehen, wie es weitergeht, wäre ja auch eine Möglichkeit. Stattdessen ist der Mann am Hauptbahnhof: Und ihm fällt nichts anderes ein, als sich dort schlafen zu legen. Am nächsten morgen ist, fast bin ich geneigt zu sagen: selbstverständlich, alles weg. Der Anfang vom Ende, wenn man so will.
Eine Antwort auf diese Frage erschließt sich möglicherweise auch aus der Analyse des Interviews. Seit seinem Ausschieden aus dem DDR Betrieb im Februar 19? sind die Bezüge zu Arbeitskollegen verloren gegangen. Die Beziehungen zu den Arbeitskollegen seines letzten Jobs auf Montage bei Bremen sind aufgrund der Arbeitsstruktur (Zusammengewürfelter Haufen auf Montage, nur kurzfristige Kooperation auf der Arbeitsebene) nicht sehr ausgeprägt. Das Verhältnis zur Verwandtschaft ist auch nicht das beste, hier vielleicht auch noch Stolz. Also soziale Beziehungen, an die Wolfgang anknüpfen kann, sind nicht besonders stark entwickelt. Obwohl Wolfgang im eigentlichen Sinne kein Alkoholiker ist, wäre folgendes Szenario denkbar: Wolfgang geht zum Hauptbahnhof, ihm fällt auf, daß der erste Schritt zwar getan ist - seine Sachen zu packen und abzuhauen - langsam wird ihm aber klar, daß er darüber hinaus nicht weiter nachgedacht hat. Er hat ein Problem, daß er jetzt bewältigen muß. Vielleicht denkt er: Naja, trink ich erst mal ein Bier, dann wird mir schon was einfallen. Weder nach dem ersten, noch nach dem 5 oder 10 Bier fällt ihm etwas überzeugendes ein. Inzwischen ist er so besoffen, daß es ihm ersten leichtfällt, sich zunächst einmal im Hauptbahnhof schlafen zu legen, und zweitens, daß er in diesem Zustand die möglichen Konsequenzen dieses Tuns nicht mehr überblickt. Und am nächsten morgen gibt es - im wahrsten Sinne des Wortes - ein böses Erwachen. Zurück kann er nicht mehr (Diese banal-stereotype Aussage gilt es auf ihren Gehalt zu untersuchen!) So nimmt für Wolfgang das Leben auf der Straße seinen Lauf.
So könnte es gewesen sein. Das ist aber hypothetisch. Zu den genaueren Umständen kann nur Wolfgang etwas sagen: Deshalb nochmal befragen.
Wolfgang war nicht da: Er ist mit dem LKW mitgefahren, der die ganzen Sachen rüberschafft.
Stattdessen treffe ich einen von der Theatergruppe.Die Leute von der Theatergruppe treffen sich am Dienstag und am Donnerstag zu Proben in der Naunynritze in Kreuzberg.
Einstein ist auch dabei. Ihn will ich unbedingt interviewen.
Protokollnotiz 70 von Montag, dem 18.11.1991
Fahre nach Moabit, gehe durch die Markthalle, am südlichen Ausgang in Richtung Sozialamt steht Arno, er spricht mich auf Geld an, ich frage ihn um ein Interview, dieses führen wir dann auch durch. 15:30 - 17:00 Uhr
Protokollnotiz 71 von Dienstag, dem 19.11.1991, 9:45 - 12:15; HDK
Manne (Markthalle), Durchführung des gestern in der U-Bahn vereinbarten Interviews.
Protokollnotiz 72 von Freitag, dem 22.11.1991;
12:00 bis 13:00 Warmer Otto; 13:00 bis 13:30 Markthalle in Moabit
Vage Verabredungen im Warmen in Sachen Doppelkopf, Doppelkopfrunde lief aber schon ohne mich, deshalb ein wenig mit Heinz mich unterhalten,
dann anschließend in die Markthalle, mich mit Heiner unterhalten, für morgen, Sa, 10:00 Interviewverabredung mit Heinz in der Markthalle.
Heinz gibt als ausschlaggebenden Grund für seine Wohnungslosigkeit an, daß seine Tochter damals 197? in ein Frauenhaus mit ihrem Kind gegangen ist, und er für sie zahlen wollte, was er aber nicht eingesehen hat. Ein zweiter Grund war, daß auch seine ehemalige Frau sich von ihrem neuen Mann hat scheiden lassen, damit so Heinz wieder unterhaltspflichtig ist. Das wollte er aber nicht.
Dann erzählt er, hat er einen Fehler gemacht. Er hatte seine 2 2/2 Zimmer-Wohnung, die er in Kreuzberg hatte, aufgegeben, weil er nur noch alleine darin wohnte und ihm die Wohnung zu groß war. Dann hatte er sich eine neue Wohnung gesucht, bei der sich aber herausstellte, daß ein Mieter unter ihm zu allen möglichen Tag und Nachtzeiten keyboards spielte. Dagegen konnte er aber nichts machen, weil dieser Mieter einen Paragraphen hatte und somit unter "Naturschutz" stand.
Zum Hilfesystem erklärt er, daß die vielen Wärmestuben gerade der Grund dafür sind, daß viele Wohnungslose wohnungslos bleiben. Es sie gerade die damit einhergehende Bequemlichkeit, die viele Wohnungslose davon abhalten würde, sich eine Wohnung zu suchen. Sie verschieben das dann immer wieder auf den nächsten Tag oder auf später. Würde es die ganzen Einrichtungen nicht geben, würden sich die meisten Wohnungslosen schon bald um eine Wohnung kümmern. Nur die wenigsten Besucher etwa des Warmen Otto seien wirklich auf diese Einrichtung angewiesen. Heinz nennt ein Beispiel.
Heinz schreibt es auch u.a. seiner eigenen Trägheit zu, wenn er jetzt selbst noch keine Wohnung hat: Er hatte bereits eine Reihe von Gelegenheiten, die er aber ausgeschlagen hat.
Heinz Auffassung ist - im Zusammenhang mit einer Reihe von anderen Argumenten - durchaus nicht unplausibel.
Ich treffe Erich erneut im Warmen Otto. Wieder bittet er mich, wie schon am letzten Freitag, um einen geringen Geldbetrag. Damals um fünfzig Pfennig, heute um eine Mark.
Er spricht von seinem Bekannten Alfred aus Kraków, der auf einer Baustelle (zusammen mit seiner Frau?) Platte macht. Erich hat die Befürchtung, daß er bald zugrunde geht, wenn nichts geschieht. Er sei sehr krank, und die Platte die Alfred hat, ist kalt und zugig. Das einzige, was mir einfällt, ist die Levetzowstraße. Auf bitten von Erich schreibe ich ihm die Adresse auf sowie die Öffnungszeiten. Ich ermutige Erich, seinen Bekannten dorthin zu begleiten.
Ich spreche Erich auf seine Frau an: Mir ist in dem Interview aufgefallen, daß er so gut wie nicht über seine Frau spricht. Ich erfahre von Erich, daß diese regelmäßig in ein Cafe (wahrscheinlich aus so eine caritative Einrichtung) für Frauen nach Schöneberg (in der Nähe vom Rathaus) fährt und sich dort aufhält. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist Erich nicht bereit, dort auch hin zu gehen, es gefällt ihm dort nicht, auf der anderen Seite ist auch seine Frau nicht bereit, ihn in den Warmen Otto zu begleiten. Vielleicht ist das ganz gut so, daß jeder von den beiden seine eigenen Kreise dreht, und die beiden sich nicht ständig auf der Pelle sitzen.
Heiner, den ich in der Markthalle traf, erklärte mir unter anderem, daß er in erster Linie aus Langeweile trinken würde: Um nicht entdeckt zu werden, geht er erst spät auf seine Platte auf einem Dachboden in einem sauberen Haus, wo er auch die Außentoilette benutzen kann, weil dort immer ein Schlüssel steckt. Morgens früh um 5 Uhr verläßt er sie bereits. Diese Stunden Schlaf reichen ihm. Dann allerdings, so argumentiert Heiner, sei der Tag lang, den es rumzukriegen gelte.
Auf mein Argument, er könne sich doch in Büchereien hineinsetzen und sich stundenlang bilden, sagte er, gebildet sei er genug.
Protokollnotiz 73 von Samstag, dem 23.11.1991; 10:15 - 13:30 Markthalle.
Heute war ich um "Punkt Zehn" mit Heiner zum Interview verabredet, leider hatte ich verschlafen, und kam eine Viertelstunde zu spät. Trotzdem fand ich Heiner in der Markthalle, er dachte es sich schon, daß ich bei diesem schlechten Wetter zu spät kommen würde, wir rauchten eine, ich äußerte den Wunsch, zunächst einmal eine Tasse Kaffee zu trinken, Heiner ging mit mir an einen Stand, ich lud ihn zu einer Tasse Kaffee ein, er bekam zusätzlich von Standbesitzer eine Reissuppe, seine Lieblingssuppe. Dann verzogen wir uns in eine Ecke und redeten. Etwa nach einer Stunde ging Heiner kurz weg, um sich einen Flachmann zu holen. Gegen 13:00 Uhr wurden wir aus der Markthalle vertrieben, weil dann Feierabend war. Wir redeten noch vor der Tür weiter. Heiner war richtig gesprächig. Dann wurde mir aber bald zu kalt, mein Tonbandmaterial ging auch bald zuende. Wir gingen dann zusammen zur U-Bahn, unterwegs kaufte sich Heiner noch einen weiteren Flachmann. In der U-Bahn traf Heiner einen weiteren Bekannten, der eher aussah wie ein biederer Senior, angeblich aber auch 4 Jahre Platte gemacht hatte. Dieser lud Heiner dann auch gleich zu einem Bier ein.
Protokollnotiz 74 von Freitag, dem 29.11.1991; 11:30 bis 12:30; Markthalle.
Auf dem Weg zum Warmen Otto sehe ich Karin an der Markthalle: Sie ist angetrunken. Im Gespräch mit Georg. Jacqueline ist auch da. Es fällt ihr zunächst schwer, mich zu erkennen, dann erinnert sie sich. Ich bitte sie um ein Interview. Sie muß zunächst auf Toilette. Dann kommt sie wieder, geht aber erst zu den anderen, die auf dem Steinabsatz soetwas wie eine Alkohol-Adventsfeier initiiert haben. Ich spreche sie nocheinmal an. Offenbar hat sie einmal mit einer Fernsehaufzeichnung schlechte Erfahrungen gemacht. Außerdem meint sie, sie sei nicht so gut darin, ihren Lebenslauf zu erzählen. Also möchte sie mir das lieber aufzeichnen. Ich habe mit ihr verabredet, daß wir uns am Montag wieder treffen, gegen 10:00 Uhr. Am Montag müsse sie sowieso zum Sozialamt, ich solle dann zu dem Platz an der Markthalle kommen, und wenn sie nicht dasein solle, nach ihr fragen. Sie würde dann den ersten Teil ihrer Notizen mitbringen. Dann ruft sie mir noch hinterher, ich solle mich warm anziehen.
In dem kuren Gespräch deutet sie an, daß sie 21 Jahre ihres Lebens in einem Heim verbracht hätte.
Außerdem erzählt sie, daß ihr Arzt den Verdacht auf Unterleibkrebs geäußert hätte. Sie glaubt nicht daran. Daraufhin habe sie den Arzt gewechselt. Auch eine Methode, damit umzugehen.
Zu Karin muß ich mir etwas einfallen lassen. An und für sich ist nicht damit zu rechnen, daß sie irgendwelche Aufzeichnungen mitbringt - davon muß ich ausgehen. Wahrscheinlich wird sie es vergessen. Ich muß sie irgendwie ermutigen, mir auf Tonband ihre Geschichte zu erzählen,
Georg, obwohl Schorfwunden am Kopf, sieht einigermaßen fit aus, ist auch solide gekleidet. Er bespricht mit Karin technische Dinge, wie Arbeitsamt und so weiter. Offenbar ist er dabei, einige Dinge zu erledigen in der nächsten Zeit.
Dann sehe ich am Warmen Otto den Mann mit dem Fahrrad. Ich spreche ihn an, er gibt mir aber gleich zu verstehen, daß er unter gar keinen Umständen bereit ist, sich mit mir zu unterhalten. Er rechtfertigt es damit, daß er nicht gut im Erzählen sei, daß es nicht viel über seine Situation zu berichten gäbe, und daß er daß auch nicht wolle und daß ich doch lieber andere Besucher im Warmen Otto befragen solle. So, wie er mit mir spricht - nicht unfreundlich zwar, aber bestimmt - gibt er mir zu verstehen, daß seine Ablehnung prinzipiell sei. Schade: er wäre ein interessanter Gesprächspartner gewesen.
Am Weihnachtsmarkt am Zoo sehe ich gleich 3 Leute, die Sitzung machen. Allerdings bei einem bin ich mir nicht sicher, ob das nicht vielleicht getürkt ist. Naja. Hier jedenfalls Leute, die ich interviewen kann.
Dann noch einer, an der Joachimthaler Ecke Ku-Damm, der auf einer Decke, mit seinem Hund, am U-Bahneingang sitzt und Sitzung macht. Ihn habe ich vor einigen Tagen schon einmal an der selben Stelle gesehen.
Es ist mir aufgefallen, daß diejenigen, die Sitzung machen, häufig aus dem Osten sind, z.T. erst gerade herübergekommen. Möglicherweise ist die darin zum Ausdruck kommende Distanz zum Hilfesystem eine Frage der Anpassung an ein System oder an die Gesellschaft: Also eine Anpassungs/ Aneignungsfrage. Aber daran ist sicher noch weiter zu arbeiten.
Protokollnotiz 75 von Sa, dem 7.12.1991, 14:30 - 15:30 Zoo.
Fahre zum Zoo, um Interviewpartner zu suchen und Interviews durchzuführen. Als ich, einer Intuition folgend, am Zoo aussteige, spricht mich am U-Bahn Ausgang, der direkt zum Bahnhof führt, "Nick" an. Er hat seinen linken Schuh ausgezogen, steht in der Mitte des Ausgangs und spricht Passanten an, mit dem Spruch, gestern, zu Nikolaus hätte er nichts erhalten, ob sie wohl eine Spende für ihn hätten. Ich gehe auf ihn zu, spreche ihn an und führe ein Interview mit ihm durch, auf der Ecke Hardenberg/Jebensstraße.
Dieses Interview wird unterbrochen durch zwei junge Mädchen, offenbar Bekannte von "Nick". Außerdem sehe ich vor dem Bahnhof Volker mit Ringo, die ich von Uelzen kenne: Volker macht an der einen Säule Sitzung, Ringo liegt eingerollt neben ihn. Volker sieht leicht angeschlagen aus. Ich nehme mir vor, ihn morgen anzusprechen.
Protokollnotiz 76 von Mittwoch, dem 11.12.1991 in der Naunynritze: 17:30 - 24:00: Theatergruppe
Nach Anruf bei der Naunynritze (Info über das Treffen von einem ihrer Mitglieder am Hegelplatz beim Interview mit Wolfgang) erfahre ich von heutigen Treffen, angeblich gegen 18:00 Uhr. Rechtzeitig da, kommen aber bis 18:30 nicht, gehe zurück zur U-Bahn (treffe unterwegs Georg, erkenne ihn aber nicht, treffe dort Einstein, der in Wirklichkeit Heinz heißt, gehe mit ihm zurück, informiere ihn dann über mein Vorhaben, dann noch einmal vor dem Plenum, Ergebnis: Heinz wird sich mit mir im Januar in Verbindung setzen.
Die Frage ist nur: wie biographische kann das Gespräch werden - wie politisch? Ist das ein Gegensatz.
Ich war der erste Tagesordnungspunkt auf der Vereinssitzung. Sie ziehen Vereinssitzung konzentriert durch von 19:00 bis 21:00.
Anwesende.: Klaus, Joe, Georg, Heinz (Einstein), XX?
Tamara, Sven, Burghard, Rainer, ich.
Nach der Sitzung noch mit Klaus, Joe, Heinz, Sven und Burghard in die Kneipe und Tacheles geredet.
Mit Rainer eine Verabredung, die wir nach langem hin und her schließlich für morgen, 14:00 in der Wärmestube am Wassertor vereinbaren, weil es für uns beide günstig ist.
Protokollnotiz 77 von Donnerstag, dem 12.12.1991; 14:00 bis 15:30 Am Wassertor: Rainer, Manuel
Wie vereinbart 14:00 im Wassertor gewesen, zuerst einmal mit Manuel über unsere TPS - Planung gesprochen, dann mit Rainer, ebenfalls im Büro, und als rauskam, daß ich Manuel kenne, sind sämtliche Bedenken bei Rainer verflogen. Ich schilderte ihm relativ ausführlich meine studentische Biographie und den Zusammenhang mit meiner jetzigen Arbeit, und was ich will. Er machte mich aufmerksam auf das Theaterstück über Francios Villon im Hoftheater in der Muskauer Str. 43 in 1/36, wo wir uns für Samstag abend verabredeten.
Wie verabredet kam ich Sa ins Hoftheater zum Villonstück. Nachher gingen wir zusammen mit einem Bekannten von Rainer in das Marillon, wo wir relativ ausführlich diskutierten. Die nächste Verabredung haben wir Dienstag um 13:00 in der Naunynritze, wo wir hoffentlich eine Stunde Zeit haben werden, biographisch zu sprechen. Darauf muß ich mich gut vorbereiten.
Rainer will vielleicht noch einen der Kreuzberger obdachlosen Künstler mitbringen, den ich ebenfalls dann noch interviewen kann.
Protokollnotiz 79 von Sonntag, dem 15.12.1991; 14:30 bis 16:00 in der Hohenstaufenstr.; sowie von 16:30 bis 17:30 bei Klaus Schlottmann
Treffe in der Wärmestube am Wassertor erneut Heinz (Einstein), aber auch Dirk. Spreche dann mit Markus, dem Sozialarbeiter. Benennt von sich aus das rapide Ansteigen von wohnungslosen Punx, teilweise noch im jugendlichen Alter.
Allerdings sind sie dann, als ich sie ansprechen will, schon weg, also beschließe ich, am nächsten Öffnungstag, dem Mittwoch, wieder aufzutauchen.
Außerdem erfahre ich über Jörg, den ich wegen der Vereinsgeschichte ebenfalls interviewen will, daß er in der Schillerpromenade jetzt zum Kreis der Küchenmitarbeiter aufgerückt ist: Also auch mal demnächst dort vorbeisehen.
Mit Ingo, dem früheren Sprecher der 1. Berliner Obdachlosenoffensive vereinbare ich ein Gespräch am Montag, dem 16.12. gegen 14:00 am Wassertor.
Dann besuche ich Schlotti: Mit ihm vereinbare ich, daß er mich Fr. abend oder Sa vormittag anruft, und daß wir dann am Samstag abend ein Gespräch führen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das klappen wird, oder ob es sich um eine Vermeidungsstrategie a la Volker handelt, und daß er dann am Sa das weite sucht. Abwarten.
Protokollnotiz 80 von Montag, dem 16.12.1991, 13:45 - 16:30 Wärmestube am Wassertor,
zwischenzeitlich Interview mit Ingo in einer Türkischen Kneipe am Kottbusser Tor.
Bin etwas zu früh an der Wärmestube. Durch meine polnischen Zigaretten komme ich ins Gespräch mit zwei Polen, die ebenfalls in die Wärmestube wollen.
Der eine kommt aus Warschau, der andere aus einem kleinen Städtchen in der Nähe von Stettin. Beide sind seit etwa einem Monat hier in Berlin, um zu arbeiten. Einer verdient DM 50,-- pro Tag durch Zeitschriften austragen. Sie haben keine Bekannte hier in Berlin, bei denen sie wohnen könnten, und wohnen daher in einer leerstehenden Wohnung in Berlin-Neukölln. Zum Kaffeetrinken, Essen, zum Rasieren und sich aufwärmen kommen beide unregelmäßig in die Wärmestube. Beide haben keine Familie bzw. Kinder, aber noch eine Wohnung in Polen.
Protokollnotiz 81 von Dienstag, dem 17.12.1991; 13:00 bis 13:30, Naunynritze
War verabredet mit Rainer, wir wollten uns parallel zur Probe der Theatergruppe Zeit nehmen für ein Interviewgespräch. War aber weder Rainer noch jemand von der Theatergruppe da. Wahrscheinlich Probe verlegt. Damit könnte es schwierig werden, von Rainer noch ein Interviewgespräch zu bekommen, da er ja seine Knastaktion am Planen ist. Hoffen aus das neue Jahr und auf Kontakte zum Wassertor.
Protokollnotiz 82 von Dienstag, dem 31.12.1991; 14:30 bis 16:30, Kleistpark
Martina, Interview
Lerne Martina kennen am 82/31.12.1991 gegen 14:30 auf dem U-Bahnhof Kleistpark kennen, wo sie mich um Geld anspricht. Ich frage sie, ob sie obdachlos sei, was sie zunächst verneint. Im Gespräch stellt sich dann allerdings heraus, daß sie keine eigene Unterkunft hat, sondern vielmehr seit 2 Jahren abwechselnd in besetzten Häusern, bei Bekannten und Freunden wohnt, gelegentlich auch in der BRD und im Ausland unterwegs ist und derzeit relativ ungesichert in einem Bauwagen eines Bekannten zusammen mit anderen im Wagendorf in Kreuzberg wohnt.
Von daher bitte ich sie um ein Interview, welches wir auch gleich auf dem U-Bahnhof durchführen. Sie ist in Begleitung eines Freundes, der sich gelegentlich in unser Gespräch einschaltet und eigentlich aus München kommt, aber ebenfalls schon 2 Jahre in Berlin ist. Beide sind tendenziell in der Typologie Punk gekleidet, beide haben einen schwarzen, mittelgroßen Hund bei sich.
Alle Informationen über Martina sind in dem Interviewgespräch aufgezeichnet.
Protokollnotiz 83 von Montag, dem 6.1.191992, von 16:30 bis 17:00 in der Schillerpromenade
Fuhr ursprünglich in die Schillerpromenade, um dort Jörg zu treffen, der aber nicht da war, stattdessen Helmuth. Verabredete mit ihm ein Treffen für Montag, dem 13.1.1992 pünktlich um 13:00 am Warmen Otto. Morgen wird Am Wassertor wieder auf sein, ich hoffe, daß ich dort etwas über Rainer, vielleicht auch die beiden Polen erfahren kann.
Helmuth hat 15.000 DM Schulden am Hals.
Protokollnotiz 84 von Dienstag, dem 7.1.1992, gegen 20:00 Uhr am Zoo
Traf dort Heiner, sowie Ruth und Adi, mit denen ich mich für Mittwoch, den 8.1.1992 im Warmen Otto verabredete. Ruth wollte mir schon ihre Lebensgeschichte erzählen, aber zuerst nur so, daß ich mir Notizen mache, dann wollte Sie mir anhand der Notizen aufs Tonband sprechen, damit keine Lücken entstehen.
Anschließend Ralf-Jürgen Bilz getroffen. Ehemaliger Pfleger in einer Psychiatrie, er habe sich jetzt in einer ev. Kirchengemeinde etwas aufgebaut. Hatte zu trinken angefangen, war eine Zeit auch mal selbst Obdachlos.
Telefonnummer 305 67 20 in der Ulmenallee 58 in Westend am U-Bahnhof Westend.
Protokollnotiz 85 von Mittwoch, dem 8.1.1992; 13:00 - 14:00 Warmer Otto
Vergeblich auf der Suche nach Ruth und Adi, waren nicht zu finden.
Protokollnotiz 86 von Donnerstag, dem 9.1.1992, Ulmenallee 58; Herrmannplatz.
Zuerst ins Büro gefahren. Rudi gesehen. Zu der Gruppe rübergegangen, mit Rudi eine Verabredung für Sa, 10:00 Willmanndamm 5 gemacht, wo Rudi aktuell auch wohnt.
Vergeblich um die Mittagszeit nach Westend gefahren, auf der Suche nach Ralf-Jürgen Bilz.
Abends dann vergeblich in der Schiller gewesen auf der Suche nach Jörg, die Schiller hatte aber zu. Also Sa oder So nocheinmal versuchen.
Herrmannplatz Hannes getroffen. Er wohnt in der Karl-Marx-Straße. Interviewvereinbarung für Mittwoch an der HDK.
Außerdem Informationen über die Theatergruppe (Heinz) und Rainer Merkel.
Protokollnotiz 87 von Freitag, dem 10.1.1992 zwischen 16:30 und 19:00 in der Naunynritze.
Heinz dort getroffen. Mit ihm eine Verabredung für Dienstag, 11:00 bei mir zuhause gemacht. Ingo war auch da. Außerdem eine Art Expertengespräch mit Iris Müller, ehem. Praktikantin in der City-Station geführt.
Auf Rainer gewartet. Der kam aber nicht.
Protokollnotiz 88 von Samstag, dem 11.1.1992, 10:30; Willmanndamm 5.
Wollte mich mit Rudi treffen um 10:00 Uhr in seiner Pension, war aber etwas spät dran. Habe dann erfahren, daß er aber schon seit über einer Stunde weg ist. Hätte also nur funktioniert, wenn ich wesentlich von 10:00 dort aufgelaufen wäre.
Protokollnotiz 89 von Sonntag, dem 12.1.1992 von 19:00 bis 20:30 in der Schillerpromenade: Helmuth, Jörg, Peter
Helmuth kann morgen um 13:00, Verabredung im Warmen Otto bleibt bestehen, wir können aber im Warmen Otto miteinander sprechen.
Mit Jörg vereinbare ich ein Interviewgespräch am Donnerstag, gegen 16:00; Heidelberger Platz, im William-Booth-Haus der Heilsarmee.
Peter kommt dann auch hinzu, wir unterhalten uns.
Protokollnotiz 90 von Montag, dem 13.1.1992 von 12:35 bis 17:00 im Warmen Otto
Erich, der Gerüstbauer, Haschi, Ruth, Helmuth, der Kölner.
Bei Erich kommt raus, daß er tatsächlich zu den Wohnungslosen zu zählen ist. Die Hauptmieterin seiner Wohnung ist seine Frau, diese habe ihn aus der Wohnung immer wieder herausgeworfen, sodaß er seit einem haben Jahr eher Platte schiebt als alles andere.
Das ist aber weniger von Erich als von seinem Gerüstbauer zu erfahren.
Erich und der Gerüstbauer hängen zusammen. Offenbar müssen die beiden über mich geredet haben, jedenfalls spricht mich der Gerüstbauer an wegen einer Übernachtungsmöglichkeit. Ich verweise auf die Beratungsstelle, lasse es mir durch Karsten bestätigen, daß dies offenbar die reellste Möglichkeit sei, Karsten bringt dann auch eine Karte von der Beratungsstelle.
Im Verlauf des Gesprächs erzählt er mir seine ganze Lebensgeschichte, verstrickt sich aber auch in einige Widersprüche.
Wichtig scheint vor allem zu sein, den Gesprächspartnern relativ genau zu beschreiben, was sie erwartet: Ob es wirklich nutzt, darüber habe ich derzeit keine Erfolgskontrolle. Wichtig wäre offenbar aber eine Maßnahme zur Kompetenzmehrung gegenüber Behörden. Das taucht, auch bei Helmuth, wohl immer wieder als neuralgischer Punkt auf.
Haschi kommt an mit einer kaputten Reiseschreibmaschine, die er geschenkt bekommen hat.
Heinz Heller ist offenbar in den Kreis der Küchenmitarbeiter aufgestiegen.
Dann kommt das Gespräch mit Helmuth. Das ist alles auf der Interviewaufzeichnung drauf.Dann spreche ich mit dem Kölner. Möglicherweise ist er als Gesprächspartner dermaßen interessant für mich, daß ich ihn am Freitag interviewen sollte.
Ruth hat eine Wohnung in Aussicht. Morgen soll offenbar Vertragsunterzeichnung sein. Vielleicht funktioniert es.
Protokollnotiz 91 von Donnerstag, dem 16.1.1992 am Heidelberger Platz, 15:45 bis 18:15.
Mit Jörg am William-Booth-Haus der Heilsarmee verabredet gewesen zu einem Interviewgespräch.
Führen es auch durch. Problem: Bistro machte zu, mußten den Ort wechseln.Protokollnotiz 92 von Freitag, dem 17.1.1992 im Warmen Otto sowie HDK.
W.O.: 11:45 bis 12:30. Heinz, neue Verabredung zum Interviewgespräch, ansonsten mit dem Dachdecker kurz gesprochen, sowie Einladung für ein Essen in der Arche.
Problem: Ruth war nicht da, Heinz auch nicht, der Kölner auch nicht, Helmuth auch nicht, naja, was solls.
Hannes kam dann auch nicht zum Interview um 12:00 in die HDK. Aber den find ich noch.
Protokollnotiz 93 von Mi, 22.01.1992, 17:00 - 19:00
Protokollnotiz 94 von Fr, 24.01.1992, 14:00 - 16:30
Protokollnotiz 95 von Sa, 25.01.1992, 09:00 - 13:00
Protokollnotiz 96 von Mi, 29.01.1992, 14:00 - 18:00
(Interview HEINER)
Protokollnotiz 97 von So, 08.02.1992, 20:00 - 21:30
Protokollnotiz 98 von Mo, 17.02.1992, 14:30 - 17:30
(Interview OTTO)
Protokollnotiz 99 von Fr, 21.02.1992, 21:00 - 22:30
Protokollnotiz100 von So, 01.03.1992, 13:00 - 18:30
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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97