Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung
1.1. in der biografischen Entwicklung
Harald HUBER, lange Jahre Leiter der Arbeiterkolonie und Einrichtung für Wohnungslose auf der Erlacher Höhe, benennt in einem Beitrag zum 100 jährigen Jubiläum dieser Einrichtung ein hypothetisches Entwicklungsmodell zur Entstehung besonderer sozialer Schwierigkeiten. Er differenziert in seinem Beitrag 12 Stufen der Persönlichkeitsentwicklung von Geburt an und benennt in jeder Phase mögliche auftretende Störungen, die ursächlich für das spätere Auftreten von Wohnungslosigkeit darstellen könnten.
Folgende Stufen werden benannt:
- Entwicklung des Urvertrauens
- Entwicklung zwischenmenschlicher Beziehungen
- Entwicklung des Neugierverhaltens
- Entwicklung der Leistungsmotivation
- Entwicklung der sozialen Wahrnehmung
- Entwicklung von Selbstsicherheit
- Entwicklung von zielorientiertem Verhalten
- Entwicklung von Belohnungsaufschub
- Entwicklung des moralischen Bewußtseins (Wertesystem)
- Zuweisung einer sozialen Rolle
- Entwicklung einer Abhängigkeit
- Fliehen oder Standhalten
Unabhängig davon, ob die von HUBER hier vorgestellten Phasen der menschlichen Entwicklung hier zutreffend benannt und charakterisiert werden, wird hiermit ein differenzierteres analytisches Instrumentarium zur Beurteilung von biografischen Entwicklungsbeeinträchtigungen und Störungen vorgelegt. Ein solches Modell darf nicht verwechselt werden mit einer - objektiv unzutreffenden - Individualisierung der Entstehungsgeschichte persönlicher Wohnungslosigkeit. Im Gegenteil, die wissenschaftliche Herausforderung besteht gerade darin, die gesellschaftliche Vermitteltheit all dieser vorgestellten Entwicklungsphasen zu untersuchen, nachzuweisen und zu dokumentieren, um damit die Grundaussage: - Obdachlose sind "Subjekte ihrer Tätigkeit" und "Objekte der Entfremdung" zugleich. Die Entstehung von Wohnungslosigkeit und das Leben auf der Straße sind verweisen auf eine Widerspruchseinheit zwischen Subjekt und Gesellschaft und ihren jeweiligen Entwicklungsprozessen - operationaliserbar zu machen.
In grober Zusammenfassung der Ergebnisse biographischer Entwicklungsprozesse lassen sich m.E. an dieser Stelle schon jetzt folgende Grundtendenzen erkennen:
Bei vielen Wohnungslosen ist - in der Phase vor dem Auftritt von Wohnungslosigkeit - festzustellen, das ein ereichter gesellschaftlicher Status wenig oder nicht sehr viel über das erreichte Maß an Handlungsfähigkeit aussagt. Es reicht, wie das Beispiel von MARTIN zeigt, offensichtlich nicht aus, einen bestimmten gesellschaftlichen Status zu erlangen, vor allem dann, wenn dieser sich dann allzuschnell 1) als nicht tragfähig erweist und 2) eine Sinnenthöhlung beinhaltet. Die bohrende Frage bricht auf: Das soll alles gewesen sein? Angesichts schwieriger gesellschaftlicher Verhältnisse kann dieses subjektive Sinnproblem in vielen Fällen eben nicht positiv beantwortet werden.
Ein erreichter gesellschaftlicher Status kann in Krisensituationen schnell zerbrechen und verloren gehen, weil eine einmal erreichte gesichterte Situation in der Regel nur einen sehr geringen Anteil an Handlungsanforderungen beinhaltet. (Hier kommt die These von der Notwendigkeit lebenslagen Lernens ins Spiel.) Erst wenn, aufgrund äußerer Veränderungen die daraus resulierenden inneren Widersprüche zu Sprengsätzen werden, erkennen viele den Ernst ihrer Lage, und dann kommen Reaktionen zu spät oder sind nicht angemessen. In Ermangelung einer besseren Alternative häufig die schlechtere gewählt, eben die zur Verfügung stehende. Die daraus resultierende Wohnungslosigkeit wird in solchen Fällen oftmals als Krise, als Katastrophe erlebt. Oder andersherum: Es braucht nur ein Element, ein zentrales Moment in der gelebten Balance zu fehlen (z.B. SIEGFRIED), und dann bricht (subjektiv) alles zusammen.
Umgekehrt ließe sich aber auch zeigen: Einigen kommt es nicht so sehr auf den erreichten gesellschaftlichen Status an, sondern auf eine sinnvolle Gestaltung ihres Lebens. Das kann durchaus auch in relativer Distanz zur Gesellschaft erfolgen. Einige sehen einen wichtigen Teil ihres Lebens darin, anderen Menschen zu helfen und denken eine gesellschaftspolitische Veränderung an. Dabei werden sie oft durch die Praxis, durch die erlebte geselschaftspolitische Realität relativ enttäuscht. Die Handlungsfähigkeit zeigt sich in der Fähigkeit zur Gestaltung der Persönlichkeit, der Existenz unter und in gesellschaftlichen Verhältnissen. Offenbar sind diejenigen im Vorteil, die eine solche dynamische Handlungsfähigkeit ereicht haben.
Eine Analyse der Handlungen in Hinblick auf die Motivationslage kann nicht nur helfen, die subjektiven Gründe und Begründungen für die Wohnungslosigkeit und die Umgang mit ihr in der Lebenslage Wohnungslosigkeit aufzudecken, sondern ermöglicht auch den Zugriff zu einem adäquaten Hilfeansatz, der sich an den Interessen und Beweggründen der Leute orientiert und so vorhandene Handlungspotentiale aufdecken, aktivieren, fördern und weiterentwickeln kann. Wenn Tätigkeit motiviert ist (Tätigkeit auf ein Motiv hin), haben Handlungen eine andere Qualtät, es sind nicht Handlungen zur Absicherung der Existenz, sondern motivierte Handlungen zur Erreichung des Motivs. Dennoch ist die gesellschaftliche Bedingtheit des Erreichens von Motiven nicht außer acht zu lassen: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Trotzdem kommt es darauf an, sein Leben zu gestalten in die Zukunft hinein und dabei die Frage beantworten zu können: Was soll der Sinn meiner Existenz sein?
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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97