Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung
SIEGFRIED
Interpretation
SIEGFRIED ist ein "Macher". 1945 geboren, wächst er in Hoyerswerda, einer Stadt in der ehemaligen DDR, auf, macht eine Ausbildung als Kraftfahrer. Er will das Leben in vollen Zügen genießen, will herumkommen, die Welt sehen, Menschen kennenlernen. Er will ein gutes Einkommen haben, will sich was leisten, mit Geld um sich schmeißen können. Diese Ziele, die er im Westen mit seiner Tätigkeit als Fernfahrer zeitweilig erreichen kann, verweisen auf die Motive seiner Flucht aus der DDR. In der DDR glaubt er, alles das nicht erreichen zu können. Welche weiteren Beweggründe vorliegen, die ihm im Alter von 18 eine Lebensperspektive in der DDR sinnlos erscheinen lassen, bleiben offen. Sie sind zusammen stark genug, um das Risiko der Flucht einzugehen. Der Preis, den er für seinen Fluchtversuch zahlt, sind zehn Jahre Haft in Bautzen. Es sind zehn verlorene Jahre seines Lebens. Danach wird er in den Westen abgeschoben. Er kommt nach Berlin, findet eine Wohnung in Moabit, heiratet. Zwölf Jahre arbeitet er bei einer Spedition und fährt Touren innerhalb der Bundesrepublik und ins Ausland.
In dieser Tätigkeit als Fernfahrer, die er sehr ernst nimmt, kann er seine Ziele verwirklichen. Er verdient soviel, daß er von den Spesen leben kann, das übrige Geld kann er sowohl herauswerfen als ansparen. Er kommt vorurteilsfrei mit vielen Menschen in Kontakt, darunter auch ZuhälterInnen, BordellbesitzerInnen und DrogenhändlerInnen, daraus entwickelt er einträgliche Geschäftsbeziehungen. Ehrliche Arbeit und Drogenschmuggel sind für ihn kein Gegensatz. Über die Tragweite dieser Handlungen macht er sich keine Gedanken, es zählt der Verdienst. Der Gegenpol zum Leben auf der Straße, das er als Fernfahrer führt, ist die Beziehung zu seiner Frau. Nachdem er auf seinem Lebensweg durch Flucht, Haft und Abschiebung alle in der DDR gewachsenen Beziehungen und Freundschaften hinter sich gelassen hat, und eine berufliche Tätigkeit ausübt, die ständige Mobilität von ihm erfordert, wird sie zum eigentlichen Haltepunkt in seinem Leben. Zu ihr kehrt er immer wieder zurück, bei ihr findet der Mann, der draußen auf der Straße "keine Angst haben und Angst zeigen" darf, Ruhe, Sicherheit, Wärme, Vertrauen. >>Siggi<< ist auch, das zeigt der zentrale Stellenwert, den seine Frau in seinem Leben hat, der "Bedürftige", der bei allem Unterwegs-Sein Sicherheit, Verläßlichkeit und Geborgenheit sucht. Die häufigen typischen Partnerschaftskonflikte von FernfahrerInnen berichtet er nicht. Er ist in der Lage, Beruf und Beziehung sinnvoll miteinander zu integrieren.
In der Beziehung zu seiner Frau und der beruflichen Tätigkeit balanciert er auf hohem Niveau seine einander widerstrebenden Bedürfnisse nach Freiheit und Geborgenheit aus. Beide Pole bedingen einander, sind für sich genommen sinnlos. Nur indem er beide Bedürfnisse verwirklicht, erreicht er eine Stabilität und Lebenszufriedenheit. Der Sinn seines Lebens besteht in der Integration beider Motive. Es ist keine innere Stabilität einer gefestigten Persönlichkeit, sondern ein externes Beziehungsgeflächt, das er mit seinen Tätigkeiten herstellt. SIEGFRIED ist ein "Macher", der Situationen bewältigt, aber kein "Gestalter", der sich Perspektiven bewußt eröffnen kann. Das ist die Bedeutung der Aussage, in der er den zentralen Stellenwert der Arbeitstätigkeit für seine Persönlichkeitsentwicklung beschreibt: "Das Straßenleben, wenn du überall herumgekommen bist, formt irgendwie." Er ist ständig unterwegs auf der Straße und mit situativen, teilweise gefährlichen Anforderungen konfrontiert, die er bewältigen muß, ohne Angst zeigen zu dürfen. Sein Lebenskonzept ist auf das "Hier und Jetzt" orientiert, Zukunft ereignet sich in der Ausgestaltung der erreichten Balance.
Diese Balance gerät mit dem Tod seiner Frau 1989 aus dem Gleichgewicht, SIEGFRIED kommt "völlig aus der Bahn". Diesen Sinnverlust faßt SIEGFRIED mit der Bemerkung zusammen: "Mir ist alles kaputtgegangen!" Er hat dem Tod seiner Frau, der für ihn einer Katastrophe gleichkommt, nichts entgegenzusetzen. Er fügt sich in die Dynamik der Katastrophe, so, wie er sich damals der Haft in Bautzen hat fügen müssen, und versucht er im Konsum von Alkohol dieses Problem vergessen zu machen, zu bewältigen. Darüber verliert er seine Ersparnisse, seine Wohnung, er ist nicht mehr in der Lage, selbst wenn er wollte, zu arbeiten. Dabei führt er ein "Scheißleben", und es "ist doch egal", wenn er daran kaputtgeht. Auch wenn er nach außen hin "Macher" und "Berber" ist, "innen drin sieht's anders aus", da "tickt eine Bombe". Er leidet unter dem Sinnverlust und der Unfähigkeit, produktiv etwas dagegen zu setzen, aber auch unter dem Druck, mit dem er auf der Straße konfrontiert, und der Unzufriedenheit mit sich und seiner Situation. Der Sinnverlust äußert sich in einem vollständigen Orientierungsverlust, in der von Launen, Stimmungen und Zufällen abhängig wird, was SIEGFRIED unternimmt. Er schwankt zwischen Resignation und den trotzigen Bemühungen, sich durchzuschlagen. In dem einen Fall ist ihm "alles egal", er gibt sich auf und versucht wiederholt Selbsttötung, in dem anderen Fall versucht er, sein "Geld noch zu machen", eine Technik, die erlernbar ist und die er erfolgreich beherrscht, um vor allem seinen Alkoholkonsum zu finanzieren. Dazu braucht er Alkohol, um - "und das ist Wahnsinn" - überhaupt hochzukommen und Leute ansprechen zu können. Darin ist er noch "Macher" im Unterschied zu den "Pennern" und "Ratten" vom Zoo, die sich "irgendwo hinschmeißen" und sich "gegenseitig beklauen." Diese Widersprüche strukturieren sein Alltagshandeln.
Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang sind seine Aussagen zu "Mause-Paule": "Mause-Paule", von dem SIEGFRIED berichtet, hieß eigentlich Paul Sanow, war gelernter Bäcker und Konditor und lebte rund 25 Jahre bis zu seinem Tod am Bahnhof Zoo. "Mause-Paule" war (und ist noch) in Berlin weithin bekannt. Er starb am 15. März 1980 im Alter von 54 Jahren an einer Lungenentzündung. Pfarrer Gundolf HERZ, der auf der Bestattungsfeier am 18. April 1980 im Krematorium Ruhleben die Ansprache[13] hielt, teilt mir zu SIEGFRIEDS Aussagen auf meine Anfrage am 18.11.1992 mündlich mit: Von einem größerem Bargeldfund bei Mause-Paule sei ihm nichts bekannt. Wohl aber existiere eine Familie - Kinder und Enkel -, die sich um das Grab kümmert. Bei der Bestattungsfeier drehte ein Team des SFB, ein Bericht wurde in der Berliner Abendschau gezeigt. Ebenfalls waren einige "Kumpel" von Mause-Paule anwesend, von denen einige die Ansprache mit Zwischenrufen kommentierten.[14] Von Flachmännern, die reihenweise in das Grab geworfen wären, könne keine Rede sein: Lediglich einer habe in angetrunkenem Zustand den Restinhalt einer Flasche Schnaps an der Urne entleert.
Die Auskünfte dieses Zeitzeugen zeigen, daß die Aussagen von Siggi über Mause-Paule einer Gegenüberstellung wahrscheinlich nicht standhalten würden, er wäre gezwungen, sie zu relativieren, in einigen Punkten sogar zu revidieren. Aber nicht der mangelnde Realitätsgehalt ist das Wichtige an Siggis Aussagen über Mause-Paule - diese Art Wahrheit interessiert SIEGFRIED nicht eigentlich bei seiner Aussage - sondern die sinnstiftende Funktion dieser stilisierten Legendenbildung: Ausgehend von der selbsterlebten Geschäftstüchtigkeit, wenn es ums Schnorren geht, perpetuiert dieser Ausweis von Überlebenskompetenz zum (wahrscheinlichen) Mythos von den gefundenen 270.000 DM und dient so zum Beleg, zur Begründung einer Vorstellung von der Freiwilligkeit der gewählten Lebensform: "Der hätte gar nicht auf der Straße leben brauchen." Dahinter verbirgt sich auch, in verkehrter Form, ein Abgeschmack von bürgerlicher Leistungs- und Aufstiegsideologie - vom Tellerwäscher zum Millionär -, die Vorstellung, daß man es auch auf der Straße zu etwas bringen kann - "das war der Beste, den es gab" -, eine gedankliche Figur, die die Herstellung einer gewissen Distanz zum tagtäglich erfahrenen Elend ermöglicht. Wenn schon nicht transitiv, wie die Entbehrungsphantasien der Bürger, so taugt sie doch allemal dazu, der Schäbigkeit der eigenen Armut, Mittellosigkeit und weitgehenden Isolation einen gewissen Glanz zu verleihen. Aus einem guten Kumpel wird, post mortem, ein Idol, eine Chiffre für den höchstmöglichen Grad an erreichbarer Handlungsfähigkeit. So zu sein wie Mause-Paule, das ist, zugespitzt gesagt, der Entwurf, den SIEGFRIED für sein eigenes Leben antizipiert. Hinter dem Bild der trinkenden Gemeinde am Grab und über den Tod hinaus verbirgt sich, denke ich, auch das Bedürfnis und die Sorge, im Tod nicht allein zu sein und vorher etwas Bleibendes zu schaffen. Anders gesagt: SIEGFRIEDS Ausführungen über Mause-Paule sagen mehr aus über SIEGFRIED als über Paul Sanow, und in diesem Sinne sind sie durchaus wahr, durchaus real. Sie passen sich bruchlos ein in das Überlebenskonzept auf der Straße.
Trotzdem ist seine Lebenslage alles andere als stabil, er findet auf der Straße keine Ansatzpunkte, die ihm erlauben, ein stabilisierendes, sinnvolles Beziehungssystem aufzubauen. Er ist Überfällen ausgesetzt, die sein Leben unmittelbar bedrohen und sieht sich zur Bewaffnung gezwungen,"Freunde", die er hat auf der Straße gefunden hat und mit denen er alles teilt, haben darüber hinaus die Funktion einer Zweckgemeinschaft zu Absicherung des Überlebens, beispielsweise im Schutz vor Überfällen. SIEGFRIED steht in einer weitgehenden Distanz zu den Einrichtungen des Hilfesystems. Nicht Wohnungsverlust und die mit dem Alkohol verbundene Berufsunfähigkeit, sondern der Tod seiner Frau ist SIEGFRIEDS zentrales Problem, zu dessen Bearbeitung er sich vom Hilfesystem keinerlei Unterstützung erhofft. Zwar weiß er von den Möglichkeiten, sich ans Sozialamt zu wenden, er hat zwischenzeitlich ein Arbeitsangebot zur gemeinnützigen zusätzlichen Arbeit (gzA) erhalten, und verfügt über einen Zugang zu einer zwangsgemeinschaftlichen Unterkunft. Die Angebote stehen im Widerspruch zu seinem Bedürfnis, als "Macher" unabhängig zu bleiben, sich nicht zu unterwerfen. Deswegen ist der aus der DDR geflüchtet. Wenn er in einem Übernachtungsheim seine Sachen unterstellt oder gelegentlich im Krankenhaus zur Entlausung geht, dann aus funktionalen Erwägungen der Absicherung seiner Selbständigkeit.
SIEGFRIED gehört zu der Gruppe der Wohnungslosen, die aus der DDR in den Westen geflüchtet sind. Er gehört aber nicht zu den von Anfang an im Westen Gescheiterten, die nicht mit den Anforderungen des Lebens in der Bundesrepublik zurechtkommen und wohnungslos werden. SIEGFRIED baut sich eine Existenz auf, ist erfolgreich. SIEGFRIED wird wohnungslos, weil durch den Tod einer für ihn zentralen Bezugsperson seine Existenz radikal in Frage gestellt wird. An dieser Stelle erweist sich die Bedeutung seiner (Flüchtlings-) Biografie, innerhalb derer er keine Gelegenheit hatte, Handlungsstrategien zu entwickeln, die ihm erlauben, sein Leben aktiv zu gestalten. Er konnte (z.B. in der Entscheidung zur Flucht) bestenfalls Weichen stellen. Durch den Tod seiner Frau sieht er sich mit einer Weichenstellung konfrontiert, die nicht er vornahm. Folgerichtig, und darin stimmt sein Bild, gerät SIEGFRIED vollständig "aus der Bahn." Auf diesem Hintergrund wird verstehbar, weshalb SIEGFRIEDS Aussagen zu seiner Biografie so fragmentarisch bleiben, es ist nur in Teilen "seine" Biografie, immer nur Elemente davon flechtet er, um seine aktuelle Lebenslage damit verständlich zu machen, in seine Erzählungen ein.
Seine Zukunft hängt zentral davon ab, wie er sich gegenüber der ausstehenden Haftstrafe von einigen Jahren verhält. Darin ist er ambivalent. Er nimmt diese Tatsache scheinbar leicht, glaubt, nach den zehn Jahren Hafterfahrung diese Zeit "nun auch noch" zu schaffen. Auf der anderen Seite macht er deutlich, daß die Fortsetzung des Lebens auf der Straße auch eine mögliche Alternative zur bevorstehenden Haft sein könnte: Er verweigert sich der auferlegten Meldepflicht, nur noch der Anwalt hat einen Zugang zu ihm. Gleichzeitig weiß er, daß diese Perspektive keine Zukunft hat. Ein für SIEGFRIED adäquater Ansatz der Hilfe müßte ihm eine sinnvolle Perspektive im Umgang mit der ausstehenden Haftstrafe eröffnen und eine sinnvolle Alternative zum "Scheißleben" auf der Straße darstellen. Ein Ansatz könnte in einem Konzept "Therapie statt Strafe" bestehen, das sich aber nicht in der alleinigen Bearbeitung von Siegfrieds Alkoholkonsum als Problem erschöpfen darf. Ein angemessenes Angebot muß SIEGFRIED als "Macher" ansprechen und ihm ein hohes Maß an Eigenständigkeit gewährleisten. Er braucht einen Handlungs- und Gestaltungsraum, in dem er - in Anknüpfung an seine Bedürfnisse nach Freiheit und Geborgenheit - über die konkrete Situation hinaus die reflektierte Lernerfahrung machen kann, sich aufzubauen, sinnvolle Lebensbeziehungen einzugehen und zu einer inneren Stabilität zu finden.
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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97