Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung
 

SIEGFRIED

Lebenslage

Alkohol

Ich brauche ein bißchen Promille, also eine Pulle brauch ich, daß ich erstmal ein bißchen laufen kann. Wenn ich die nicht habe, ich komm nicht hoch. Da sitze ich da und quäle mich rum, und das ist Wahnsinn, das ist die Hölle. Da ist ein Druck da. Ich krieg jetzt langsam wieder einen Flattermann und dann fängst du an zu ackern. Die Pumpe haut nicht mehr hin. Heute morgen, ich bin da rumgelaufen, ich dachte, es ist Ende. Da hab' ich mir eine Pulle hier unten geklaut, sag ich ehrlich, als sie geliefert haben. Daß ich erstmal was drin hatte. Ich meine, ich stehle sonst nicht, aber der Druck war da.

Strategien zum Gelderwerb: Rudern

Ich teile mit M. alles. Das ist kein Problem. Ich weiß, M. ist jetzt auf Tour, der turnt mal Richtung Ku-Damm wahrscheinlich, der läuft einmal durch, schätze ich, 50, 60 Mark bringt er nachher zurück: "Da hast du eine Flasche!" Und davon leben wir. Wir beide sind die besten hier, die hier rumlaufen. Wir machen am Tag unser Geld. Zehn Minuten - Zack! Haben wir eine Pulle im Sack. Und wir beide stehen auch Rücken an Rücken, wenns hart kommt, Rücken an Rücken, und dann knallt's, dann gnadenlos! Ja, da sind wir knallhart.

Selbstverständlich kann man das lernen. Das hat ja System. Es gibt solche und solche. Es gibt Profis, Macher. Also, ich bin ein Macher, ich mache hier eine Schleife, ich komme mit Geld wieder. Guck mal, ich kann Glück haben, kann hier vorne rumlaufen, brauch ich nichts sagen, kriege ich 100 Mark in die Hand. Das ist ein Tag, da kann ich dir sagen, 100 Mark im Sack, Feierabend. Zwei Minuten Arbeit! - Wir haben einen Kollegen hier, der immer nur in den Himmel guckt Ich sage: "Du mußt mal ran an die Leute, mußt mal arbeiten. Und wenn's bloß fünf Mark ist, egal. Und wenn's auch nur eine Mark ist, auch egal!" Bloß er kann nicht so anrudern, das kann er nicht. Aber er macht andere Sachen, das ist auch okay. So machen wir das. Das sind Kumpels. Hier ist Zusammenhalt. Und wir drei, kein Problem. Geht mal einer von uns weg, einer muß immer aufpassen auf Klamotten. Entweder sitze ich da, oder er. Kein Problem. Ich kann eine Stunde hier jetzt weglaufen, dann paßt er eben auf meinen Schlafsack auf, das ist auch egal. Wir teilen das letzte, wenn wir haben. Ja, wenn wir haben, haben wir. Wenn wir nicht haben, können wir auch nicht geben. Ich sage, du mußt erst auf Touren kommen. Nüchtern kann ich nicht hingehen, ich muß meinen Pegel haben.

Wenn hier Theater läuft: "Jungs, ganz bescheiden mal eine Frage, ich bin der Siegfried, ich liege hier, hinten ist mein Wohnzimmer, das ist meine Küche, ich möchte morgen hier tapezieren, wie sieht's denn aus, kriege ich was geschenkt? Kein Problem," sage ich, "und übermorgen kaufe ich mir noch einen Teppich!" Dann gucken die aber, der ist total verrückt. Aber die geben. Du kannst nicht sagen: "Du, mach mal!" Das geht nicht, man muß anders rangehen. Mit Herz, ein bißchen dämlich quatschen. Die sagen: "Entweder ist der dämlich, oder was will er nun von uns?" Aber das klappt. Das klappt immer. Mich kennen sie alle hier, naja, ist mein Revier hier. Schau mal, wenn ich komme: "Hallo Siegfried, komm her hier." Die kennen mich, weil ich auch gebe. Wenn du nicht gibst, kannst du nie ernten. Ich bin doch mal auf Krücken gelaufen, das war vor zwei Jahren. Hab' ich mich gequält! Ich konnte nicht laufen. Alles durch den Suff gekommen, aber da habe ich Geld gemacht, mit Krücken. Oder heute kommt einer auf Toilette rein. Ich hab' mich nur aufgewärmt bißchen. Da war er fertig, ich sage: "Du Großer, mal eine Frage, ganz aufrichtig. Du hast Pipi gemacht hier in meiner Toilette, bloß die Dusche fehlt noch. Hast du nicht mal eine Mark übrig?" Da sagt der: "Hier hast Du fünf Mark, hau ab!" Alles kein Problem. Ich mache so auf die spaßige Seite, aber hier.[11] Da ist Gewitter drin, da ist 'ne Bombe drin. Ich quäle mich auch rum in der Beziehung. Meinst du, das ist einfach? Mußt immer einen Bückling machen, ist nicht einfach. Hier drin sieht's anders aus. Glaub mir. Das ist schlimm.

Beziehungen

Wenn du hier liegst, kannst du keine Freundin haben. Das ist schlecht, ist ganz schlecht. Wenn wir mal wieder im Krankenhaus sind alle Mann, kommen wir wieder raus, geschniegelt und gebügelt, dann geht sie wieder ab, die Luci. Gut, du hast auch Frauen hier, bloß du kannst nicht ran. Verdreckt und ... nein, lieber knall ich mir einen runter, das sage ich ganz ehrlich. Da gehe ich nicht ran.

Übernachtungen im Winter

Vorgestern Nacht hier auf dem Spielplatz, da haben wir gepennt. Auf einmal alles hell, Scheinwerfer, 15 oder 20 Bullen. Auf dem Dach standen sie, auf unserem Flachbau hier, haben runtergeleuchtet, und alle gleich einen Ballermann in der Hand. Sage ich: "Was ist denn hier kaputt?" Naja, ich habe erstmal wieder Herzsausen gekriegt. Jetzt kommt der R. her, der kennt mich: "Ausweis habt ihr sowieso nicht", sagt der, "schlaft ruhig, wir suchen was anderes." Die haben gedacht wir sind Junkies, haben uns pennen lassen, aber da kriegst du einen Schreck. Und nachts, es war alles zu, du konntest nicht mehr weg. Die hätten abgedrückt, die Schweine. Sollen sie mal.

Kälte macht mir nichts aus. Vor Kälte hab' ich keine Angst. Ich pack mich auch so hin, da brauche ich keinen Schlafsack. Einmal durchgeschüttelt, da wird die Jacke ein bißchen hochgezogen, und der eigene Atem, der hier reingeht, der wärmt dich. Das mußt du auch beherrschen können. Wir sind dick angezogen, uns kann nichts mehr passieren, da kommen wir durch! Ich habe jetzt drei Pullover und diese Jacke. Wir frieren nicht so schnell!

Das machen wir auch manchmal mit Gewalt. Da machen wir Theater, wenn wir warm schlafen wollen. Dann holen die Bullen uns ab, machen wir eine Nacht in der Zelle, dann können wir morgens wieder laufen. Tagsüber wirst mich hier nie Schlafen sehen. Man muß immer ein Auge aufhalten. Wenn ich mit M. hier penne, ich passe genau auf.

Überfall

Hier, J. war mit bei, wo sie uns zusammengetreten haben hier drin vor zwei Tagen. Mit ihm war ich drüben in der Toilette nachts, war schön warm, weißt du. Haben uns das gerade ein bißchen bequem gemacht, da kommen die rein, das waren die Zwillinge. Gleich voll rein. Zack, aus, fertig! Ja, wenn du einmal liegst, kommst du nicht mehr hoch, dann ist aus. Das war ein Ding. Mir ging's nicht so dreckig, aber ihm, der J., der ist ausgelaufen, hat voll eins in die Niere bekommen, und ins Gesicht. Zack! Gleich weg. - Ja, da muß man schon zusammen gucken. Keinen verbluten lassen und so. Ich habe von der BVG Hilfe geholt.

Morgen hat J. Vernehmung. Wenn morgen was ist, ich bin ja hier, er kann mich ruhig holen lassen, das ist mir egal. Aber die Zwillinge, die fahren ab. Bloß bei mir wird's schwierig, weil ich nicht gemeldet bin. Wenn ich dann da antanze, auf einmal, gleich wieder rein in die Kiste. Mir tut hier jetzt noch die Seite weh. Das hat aber geknallt auch. Den J. hat's am meisten getroffen.

Bewaffnung

Ich kauf mir sowieso wieder einen Ballermann. Aber keinen mit Gas und so'n Dreck. Wenn schon, was richtiges, brauchst du hier auf der Straße. Ich töte keinen Menschen. Hier rein![12] Der sitzt immer im Rollstuhl, der wird nie wieder laufen können, glaube mir's. Das ist das Harte. Ich bin zwar ruhig, die denken alle: "Ja, laß den mal, der ist ein Idiot!" Ich kann auch explodieren, wie eine Bombe geh ich hoch. Geht ganz schnell, mußt auch so handeln, sonst gehst du hier ein! Das ist schlimmer wie in Amerika, also da mußt du handeln. Ich brauch kein Messer und normalerweise keinen Ballermann. Bloß ein Ballermann ist in der Hinsicht sicherheitshalber, wenn du irgendwo liegst. Wie sie mir hier mal die Hosen aufgeschnitten haben, der wollte mich hier auf Toilette beklauen. Hat die Hose schon gehabt. Ich hoch, das ging ja noch, den Ballermann raus, gleich an die Schläfe rangehalten. Ich sage: "So Junge, was nun? Alles, was du jetzt hier hast, laß fallen! Hier hinpacken, und denn ab!" Der ist gerannt. Über 800 Mark hab' ich von dem abgezogen! Hat der auch hier von anderen Leuten abgezogen. Also auf der Straße machst du was mit, das ist schlimm! Aber da muß man durch!

Exkurs: Mause-Paule

Mause-Paule war der Größte, das war der Beste. Bloß den kenn ich jetzt nicht von der Platte her, weil ich noch nicht solange mache. Ich bin mal angehalten, das war am Ku-Damm, da kommt er angeschossen: "Großer, mal eine Frage" - Ja, was denn? - "Ja, ich brauche noch eine Mark." Da sag ich: "Hier hast du 20 Mark und fertig!" Und dann, Mause-Paule seine Beerdigung, da bin ich mit meiner Frau hingegangen. Ich habe gesagt: "Da müssen wir hin!" Da sind nur Flachmänner reingeflogen: Dong! Dong! Der SFB hat gefilmt. Die haben nur reingeschmissen. Der Pfarrer hat bald einen Herzinfarkt gekriegt. Das hat nur gescheppert. Trink da unten weiter! Das war eine Beerdigung. Aber, 270.000 Mark haben sie bei ihm rausgeholt. Aus dem Mantel. Bargeld. Die hatte er im Futter drin. Mause-Paule, der hätte gar nicht auf der Straße leben brauchen. Aber das war der Beste, den es gab.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97