Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

GERHARD

Interpretation

GERHARD gehört zur Generation, die im Krieg großgeworden ist. Diese 10 Jahre sind für ihn "keine Zeit", an die er sich gerne erinnert. Dominierend in seiner Lebensgeschichte ist die Arbeit, mehr als 30 Jahre stellt GERHARD seine ungelernte Arbeitskraft der real-sozialistischen Ökonomie zur Verfügung. Ein einschneidender Wendepunkt in seinem Leben stellt ein Vorgang dar, der 1970 zu einer 2jährigen Haft führte und wichtig zum Verständnis seiner späteren Wohnungslosigkeit wird. Im angetrunkenen Zustand mischt er sich in eine Schlägerei ein, die mit einem Kieferbruch eines seiner Kontrahenten endet. In seiner nachträglichen Interpretation weist er jede Tötungsabsicht weit von sich, auch die Körperverletzung war nicht intendiert, er erklärt seine Tat mit seinem Gerechtigkeitsempfinden, dem er praktisch Geltung verschaffen wollte. Nach seiner Haft nimmt ihn seine Stiefmutter, die er zweite Mutter nennt, wieder. Obgleich seine Inhaftierung bereits 18 Jahre zurückliegt, nennt er diese Einmischung explizit im Zusammenhang der Gründe, die ihn veranlassen, die Wohnung seiner Stiefmutter 1990 zu verlassen: "Die hat in mir nur einen Verbrecher gesehen." Nicht genug, auch im Haus gab es welche, die auf ihn gehetzt, Druck ausgeübt haben, seine Stiefmutter hat ihn ausdrücklich aufgefordert, er solle ziehen. Das die Negativzuschreibung erst 18 Jahre nach dem Ereignis zu einem Problem für GERHARD eskaliert, steht im Zusammenhang mit seinem Unfall 1987. Seitdem ist er arbeitslos und bezieht eine kleine Rente. Offensichtlich wurde sein Unfall und die damit verbundene Arbeitsunfähigkeit als ein weiter Beweis für die Richtigkeit der Negativzuschreibung gesehen, für GERHARD selbst fällt ein wichtiger kompensatorischer Orientierungs- und Fluchtbereich - auch noch in der Wohnungslosigkeit beschreibt er das Verhältnis zu den ehemaligen Arbeitskollegen als intakt und konstruktiv, er ist nun vollends der Hetze von Stiefmutter und Hausbewohnern ausgesetzt und hält diesem Druck nicht mehr stand, kann auch nicht, wie es in seiner Gesprächsintention immer wieder zum Ausdruck kommt, argumentativ dagegen angehen. Er verläßt seine Unterkunft und ist wohnungslos. Seinen Kumpels kann er das erzählen, bei Arbeitskollegen kann er im Notfall schlafen, wenn er "zu abgespannt und erschöpft" ist.

GERHARDS leitendes Interpretationsthema für Biografie und Lebenslage ist ein theologischer Entwurf von Gott als Prinzip dessen, "was der Mensch im Leben gutes erfährt und erlebt" und helfenden Menschen, dessen ideologischer Gehalt gebrochen ist durch sein Leben: "Der Mensch ist doch ein Produkt, wenn ich mal so sagen darf!" Trotz, oder gerade wegen des gebrochenen theologischen Interpretationsmusters unternimmt GERHARD nach einigen Monaten "voll wie eine Kuh" einen Selbsttötungsversuch, "weil es sinnlos war. Und das ist ja auch sinnlos!" Im Großteil seiner Aussagen kommt das Problem zum Ausdruck, daß sein Versuch einer christlichen Weltinterpretation, in einem großen, aber nicht vollständigen Gegensatz steht zu dem, was er erlebt. Hoffnung und Verzweiflung stehen direkt nebeneinander. Der Widerspruch ist nicht vollständig, da er bei seinen Arbeitskollegen, aber auch bei den ambulanten Einrichtungen, die er gelegentlich aufsucht, Bestätigung in seinem Glauben an den "Guten Menschen" findet. In diese Richtung formuliert er auch seine Perspektive: Er will von "Guten Menschen" zurück aufs Gleis gebracht werden. Trotz seines formulierten Optimismus ist Günter am Ende: Er behält sich weitere Selbsttötungsversuche vor, er glaubt, daß er es höchstens noch 1 Monat aushält, er bezeichnet seine Lebenslage ausdrücklich als kritisch, auch objektiv sieht er sein Leben in Gefahr. Dennoch, er braucht keinen Psychiater, er braucht eine Wohnung.

Auffällig, aber subjektiv verständlich ist ein Paradox: Obwohl GERHARD Rente bezieht - wie er annimmt - nimmt es sie nicht in Anspruch, stattdessen zieht er es vor, Sitzung zu machen, eine Tätigkeit, die er als sehr belastend und anstrengend beschreibt. In seiner jetzigen Situation macht die Rente keinen Sinn, er braucht das Geld, wenn er wieder eine Wohnung hat.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97