Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung
 

ACHIM

Lebenslage

Anders[2] kann ich doch nicht überleben. Momentan jedenfalls, kann ich anders nicht überleben. Lieber stelle ich mich hin, wie ich dich vorhin angebettelt habe, ja. Gut, jeder hat's nicht drauf, gebe ich zu. Ich hab's nun mal drauf. Hättest du mir vor zwei Jahren das erklärt, daß ich das kann, dann hätte ich dich für verrückt erklärt. Aber heute habe ich's drauf, paß auf: "Entschuldigen Sie mal, junger Mann, ich habe eine ganz bescheidene Frage mal. Sie haben..."[3] - Nein, du hast ja nicht jedesmal einen Treffer.

Sozialamt? - Ach, du meinst wohl, ich weiß nicht, wo das Sozialamt ist? Aber, jetzt sage ich dir noch eine Wahrheit, aber da machst du das Ding aus, tu mir den Gefallen. (...)[4] - Ich sage, ich bräuchte hier gar nicht stehen. Ich bräuchte jetzt 30 Pfennig nehmen, rufe meine Mutter an und sage: "Bitte, Bitte", geht sofort die Tür auf. Aber warum, das ist jetzt eine private Sache, ja. Das ist mein persönlicher Stolz. Aber das ist eine andere Sache. Da bin ich selber schuld. Mein Bruder hat zu mir gesagt, da sagt er: "Achim, manchmal hast du den Stolz am falschen Fleck." Ich sage: Ich kann nicht dafür, aber ich kann nicht über meinen Schatten springen. - Ich weiß nicht, ob das verstanden wird. Sonst, ich könnte da mit dir hingehen, sofort Telefonnummer geben, anrufen, vorführen, daß ich dir hier nichts verkehrt erzähle, ich meine, wenn du es testen willst. Können wir anrufen, ist kein Problem. Bloß ich, ich will nicht. Verstehst du das? Lieber hänge ich auf der Straße rum, verstehst du das, manch einer begreift das nicht und sagt: "Na Mensch, dann bist du bescheuert!"

Exkurs: Der Scheiß-Egal-Effekt

Da tritt so ein Scheiß-Egal-Effekt auf, den willst du gar nicht. Aber, dann geht dir alles über die Naht. So, und dann kommt der Punkt, das ist ja daran das Schlimme. Du kannst natürlich trinken, das wäre noch die einfachste Lösung. Dann kommt der Punkt, wo du dann sagst: "Jetzt ist wirklich alles Scheißegal!", und dann wirst du kriminell. Und das ist der Punkt. Nicht das bißchen Trinken, nein nein, da kann ich nur drüber lachen. Bloß dabei bleibt es ja nicht. Das gehört auch zum Beispiel zum Leben auf der Straße, wenn du heute Nacht nicht weißt, wo du schlafen sollst. Ich meine, das Problem kennst du wahrscheinlich nicht. Stell dir mal vor, du weißt heute Nacht nicht, wo du schlafen sollst? Du mußt irgendwo nächtigen, wo es dir gerade so zupaß kommt. Daß du dabei auch erkältet wirst, bleibt ja nicht aus. Das kriegst du einfach mit. Und deswegen meine Husterei. Ob du willst oder nicht willst, das ist eine andere Sache.

Dieser sogenannte Scheiß-Egal-Effekt, und das ist schon wahrscheinlich der wichtigste Punkt an der ganzen Stelle, ist folgendes: Den Leuten ist wirklich alles egal. Guck mal, wir stehen jetzt hier, und ich weiß heute abend nicht, wo ich mich hinlegen soll, in welcher Ecke oder was ich gerade finde, und das ist dieser sogenannte Scheiß-Egal-Effekt, der auftritt, daß sie dann sagen: "Na, mir ist jetzt alles egal." Na gut, meistens klauen sie bloß 'ne Pulle Schnaps bei Aldi oder was, um sich wieder einen in die Birne zu hauen, damit der Kopf zu ist, ja. Guck mal, wenn ich abends mit einem Schlüssel nach Hause gehen kann, mache die Türe zu, dann hat sich für mich der Fall erledigt. Ja, dann kann ich dir garantieren, dann wirst du mich die nächste Zeit nicht mehr einen Tropfen trinken sehen.

Und daß es nun mal Leute gibt, die so schnell hier mit dem Rotstift kommen und sagen: "Ja, naja, ist ja nur ein Penner." Und französisch klingt es ja besser, 'Clochard'. Klingt doch alles viel besser wie in deutsch, weil im Deutschen, 'Penner', das klingt immer so gemein. Und daß es so kommt, hat unheimlich viele Ursachen. Ich kann jetzt nicht für jeden Einzelnen sprechen, muß ich ehrlich sagen. Also, bei mir kann ich sagen, ich bin selber schuld. Ich bin also einer von den wenigen wahrscheinlich, die zugeben, daß sie selber schuld sind. Ich weiß nicht, ob das jeder von sich sagt. Ich weiß jedenfalls, ich bin selber schuld. Also, wir haben ja selbst dran mitgewirkt. Sagen wir's mal so. - Das ist 'ne andere Sache, auf welche Art und Weise wir uns jetzt die Lösung aussuchen, aber im Grunde genommen sind wir doch selbst an der Scheiße schuld.

Keinen festen Wohnsitz. Ohne festen Wohnsitz. "Man muß nicht auf der Straße liegen" Ja, das wird immer so leicht dahergesagt. - Das Problem geht ja etwas weiter. Jetzt bekommen sie das nicht, also auf die Schnelle geht es ja nicht. Wie soll das funktionieren? So, und dann fällt dabei folgendes aus dem Rahmen. Wie sieht es aus, was machst du? Haust dir erstmal 3.8 in Turm, wie wir mal so zu sagen pflegen, dann hast du erstmal den Kopf zu. Und dann brauchst du keinen Gedanken, naja Gedanken machst du dir schon, aber dann hast du erstmal rosarote Wolken. So. Dann wird es wieder morgen, und dann stehst du wieder auf der Straße. Das ist eine Zwangserscheinung, keine Lösung, das ist keine Lösung, das weiß ich doch auch. Ich bin doch so intelligent, daß ich das weiß, daß es keine Lösung ist. Das bringt mich ja nicht weiter. Es ist ja nicht nur die Wohnung. Du weißt ja ganz genau, daß die anderen Komplikationen da mit dazukommen. Wie ich dir erklärt habe, ich wär nie kriminell geworden, wenn ich nicht auf der Straße gelegen hätte. Ich habe dir das jetzt ehrlich ins Gesicht gesagt, ich meine, und dann kommt der Scheiß-Egal-Effekt, sage ich immer. Dann ist dir das alles egal, verstehst du?

Hilfesystem

Was soll ich denn im Warmen Otto? Na, nun hör doch mal auf! Kennst du den Warmen Otto nicht? Na, das kannst du ja nun wohl unter Ulk verbuchen. Ich kenne die City-Station, oder weiß ich, was alles. Aber, was bringt mir das im Endeffekt? - - Du hast mir Fragen gestellt, und ich antworte auf die Fragen: Es bringt mir ja im Endeffekt nichts. Ich kann auch in die Franklinstraße gehen. Da kann ich drei Tage schlafen, und dann? Wenn wieder zwölf Grad minus ist, darf ich wieder auf der Straße spazieren gehen. Dann laß ich das gleich von Hause aus. Was soll denn der Quatsch? Das Problem ist doch eins: Wenn ich behaupte, daß ich ein Streetworker bin, ja, aber Tatsache ist eins, die Leute werden ja zum Entzug geschickt und weiß der Teufel was alles, was einen Haufen Geld kostet, warum werden sie dann nicht nachbehandelt? Daß heißt also, wenn sie wieder zurück sind, daß sie auch eine Wohnung kriegen, das heißt, daß sie erstmal ein Dach übern Kopf haben. Ohne Dach übern Kopf läuft gar nichts.

Zusammenhalt

Paß auf, es sieht so aus, wir sind solche Typen, ja, wir haben auch unseren Ärger, das bleibt ja nicht aus, das kann ich, wie gesagt, nicht von der Hand weisen, aber wir halten mehr zusammen wie jeder, hier Neubaubewohner oder, ich war doch selber mal so ein Spießbürger. Ich sage Spießbürger dazu. So. Ich habe auch gedacht, ich sage: "Was sind denn das für Penner?" Ich sag das so, wie es ist, ja. Ich habe die Leute, das ist ja bei mir zwei Jahre her, weißt du, ich sage ja nur die Wahrheit, habe auf die Leute von oben herabgekiekt, habe gedacht: Was sind denn das für Typen? Na, um Gottes Willen. Mit sowas kannst du dich doch nicht einlassen! - Nein, ich muß doch die Wahrheit sagen, oder soll ich lügen. Aber in den zwei Jahren, was ich in den zwei Jahren erlebt habe, ja, hat mir mehr gebracht wie die ganzen Jahre vorher. Glaub mir das. Egal, mit allen Widrigkeiten, die dazugehören, ja. - Aber da kann ich immer nur sagen: Heute würde ich nicht mehr tauschen. - Da können die ihre zentralbeheizte 3-Zimmer-Wohnung haben, aber wir hier untereinander, klar, ärgern wir uns mal, wie in jeder Familie wird mal ein Ärger sein, aber, das geht doch gar nicht anders, aber wir hier halten zusammen. Das macht aber kein Spießbürger. Ich war doch selber einer. Deswegen sage ich dir das. Das ist ja gerade erst zwei Jahre her. Und deswegen erkläre ich dir das. Und wenn du einen richtigen Bericht schreiben willst, mußt du das nämlich mit verhaken, verstehst du, mit einbauen. Und das ist entscheidend. Guck mal, was hier kommt, also dich kennt jetzt im Moment keiner, wir kennen uns jetzt beide, du sagst: "Mann, ich bin ein Kumpel von Achim, der jetzt hierher kommt, ich habe nichts zu rauchen, oder ich brauche eine Zigarette" oder, weiß ich, "eine Schrippe oder irgendwas!", kann ja sein, weiß ich nicht, ist ja auch egal, was. Da wird dich keiner hängen lassen. Keiner. - So stark ist der Zusammenhalt.

Das Milieu

Ich habe auch am Zoo verkehrt. Das ist ja nicht so, daß ich das nicht kenne, das Milieu. Das stimmt wirklich. Daß es leider so schlimm geworden ist, daß die Leute sich gegenseitig beklauen. Aber wenn wir hier stehen, ob das M. ist, ob ich das ist, ob er das ist, ja, wenn ich morgen früh komme und sage: Mein Gott, Leute, ich brauch einen halben Liter Milch, und M. hat das Geld für nen halben Liter Milch, dann krieg ich sie von ihm. Darum geht das. Und nicht um den Rest der Welt. Ja, verstehst du, man kann sich verlassen aufeinander. Glaub mir das. Und sogar am Zoo läuft das so ab. Na gut, schwarze Schafe gibt es überall. Ich meine, und die jetzt nun rauszuheben und zu kristallisieren, das würde ja nun heißen, Eulen nach Athen tragen. Ich meine, da wollen wir mal ehrlich sein. Das gibt es überall. Das gibt es bei den Bullen oder sonstwo, egal bei welchem Verein, oder wie sie heißen, das gibt es überall.

Eigentlich[5] nicht mehr. Weißt du, wieso? Ich bin lieber mit den Kumpels zusammen, ich sage das ehrlich, als mit diesen Spießbürgern. Gut, die haben zwar ihr Fernsehen, ihre Heizung, oder, was weiß ich nicht alles, aber - das bringt mir einfach mehr. Da brauche ich keinen Fernseher. Scheiß was auf den Fernseher. Ich habe Schwarzweiß, Farbe, und 3 mal bunt. Das geht mir am Arsch vorbei, aber mit M. kann ich ja quatschen, und mit M., das bietet mir kein Videofilm. Und wenn wir auch unsere Scheiße machen, gut, ich meine, das mit der Sauferei, das ist nicht gerade immer das, ich gebe zu, das ist nicht die Lösung, hab' ich gesagt. Nur wenn er hier, er redet zwar auch nur immer Müll, aber, dem kannst du mal zuhören, verstehst du, mit dem kann ich mal quatschen. Dann scheiße ich was auf die Farbfernseher, verstehst du. So viele Farbe können die mir gar nicht übertragen, wie er sich hier mit mir unterhält. Das ist das Entscheidende.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97