Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung
 

PAULA

Lebenslage

Berlin

Ich dachte jetzt, Berlin muß eine unheimlich gute, tolerante Stadt sein. Stattdessen geht es hier ziemlich finster zu. Wenn ich mir irgendwas vorstelle wie zum Beispiel, ich gehe jetzt malen und fang dann an, und, sagen wir mal, gehe zum Sozialamt, und kaufe mir von dem Geld die Kreiden. Die kosten ganz schön. Ich habe so eine Schachtel, da sind vielleicht 30 Kreiden drin, aber das ganze hat über 100 Mark gekostet. Du brauchst eine Leinwand oder Kartons, aber auf Kartons ist nicht so gut. Dann brauchst du erstmal einen breiten Tesa-Krepp, um sie anzukleben. Einen Zollstock, um die Maße hinzukriegen. Du brauchst alles mögliche. Du brauchst einen Fixierspray, das kostet auch nen Heidengeld. Du mußt ja auch was essen in der Zeit, in der du nicht verdienst. Und wenn dich dann zum Beispiel hier vier Stunden male, und mache dann fünf Mark, du dann überkommt mich eine Lustlosigkeit. Ich habe das gemacht, als ich hier ankam. Da bin ich noch ans Brandenburger Tor gefahren und bin da malen. Gut, da war's auch Sonntag, und keine Leute unterwegs, aber da habe ich in zwei Stunden vier Mark gemacht und dann bin ich ausgeflippt. Habe meinen ganzen Krempel wieder zusammengepackt und gedacht, dann kannst du auch schnorren gehen. Dann habe ich es hier in dem Viertel nochmal versucht, da kommen überall die Ladendetektive rausgeschossen, eine Sache, die du in Italien gar nicht mehr erlebst, weil da tut dir keiner was. Da kamen überall die Ladendetektive oder die Geschäftsführer rausgeschossen, haben mich von einem Platz auf den anderen gehetzt. Dann bin ich in die U-Bahn gegangen, da stand ich noch schneller wieder vor der Tür.

Papiere

Und jetzt bin ich hier und weiß nicht. Ich habe jetzt auch kein Geld und keinen Paß. Der ist mir hier wieder verschwunden. Mich haben sie hier schon x-mal beklaut. Ich muß jetzt erstmal warten, daß die mir eine Geburtsurkunde schicken, und mit der Geburtsurkunde kann ich mir dann erst einen Paß ausstellen lassen, und mit dem Paß kann ich dann endlich wieder was machen. Aber ich bin momentan hier festgenagelt, eben weil ich einen Ausweis brauche. Auf dem Einwohneramt haben sie mir gesagt, ich muß erstmal meine Geburtsurkunde beantragen. Das habe ich jetzt gemacht, aber das Ding kommt und kommt nicht. Da kam erstmal ein Schrieb, daß das Ganze acht Mark in Briefmarken kostet, der kam ziemlich schnell. Dann habe ich zurückgeschrieben, inzwischen habe ich aber meinen Wohnplatz verloren. Ich weiß jetzt nicht, ob der Brief angekommen ist. Ich habe mich in letzter Zeit auch ziemlich gehen lassen. Ich war ziemlich deprimiert, weil hier haben mir die Junks wieder einen Hund geklaut. Mir hat einer seinen Hund geschenkt, und am ersten Abend war er schon weg. Und, dann habe ich mich jetzt eine Weile gehen lassen, habe mich durchhängen lassen, habe einfach hier so rumgehangen.

Hilfeeinrichtungen

Ich gehe jetzt mal wieder in die Levetzowstraße, vielleicht daß die für mich telefonieren und daß das ein bißchen schneller geht. Die sind eigentlich ganz effektiv. Die Leute sind sehr freundlich überall. Aber mir ist jetzt in einer Beratungsstelle passiert, dort sind wir reingegangen. Da kann man Kaffee und Tee trinken, das kostet ein bißchen Geld, und eine heiße Suppe kriegt man auch. Wir waren nur ganz kurz drin, und die haben oben eine Riesen-Kleiderkammer, ich habe sie noch gesehen, und da heißt es, man kriegt gratis Klamotten, und ich bin da auch mit raufgegangen, und da sagte die Frau zu mir: "Du riechst nach Alkohol, und wir haben da ein eisernes Prinzip, wenn du trinken willst, dann kriegst du hier keine Klamotten." Und da habe ich mir auch gedacht, also die Leute, die spenden ja ohne Ansehen der Person, was machen die mir hier Vorschriften. Das ist doch mein Problem, ich bin erwachsen. Ich habe hier nicht randaliert oder gelallt. Ich habe das als Schikane empfunden. Die anderen sind ganz gut, es ist bloß das, die meisten machen erst nachmittags auf, und was machen die Leute morgens, wenn sie durchgefroren sind? Da hängen sie in der Gegend rum und frieren weiter. Und aus der U-Bahn werden sie andauernd rausgeschmissen. Da habe ich jemanden getroffen, den kannte ich eigentlich nicht, aber wir haben kurz miteinander geredet, und da hat der gesagt, daß er auch da hingeht, ich soll mitfahren. Und ansonsten, dann kenne ich bloß noch die Mutter Theresa, da gibt es die ganze Woche Suppe. Ich weiß auch nicht, ab und zu wird mir das zu viel. Die ganzen Berber und so, und dann, wenn alles besoffen ist, an manchen Tagen geht es da wirklich so Heißa! zu, daß ich lieber frühstücke und zu Abend esse, und mittags kauf ich mir irgendwas selber zu essen, dann habe ich wenigstens meinen Frieden.

Unterkunft und Notübernachtung

Ich hatte zuerst einen Platz in Lichterfelde, in so einem Gästehaus. Aber es war schrecklich. Da ist zwar Alkoholverbot, aber am frühen Morgen sind die Leute schon stockbesoffen rumgepurzelt, und dann sind die Typen immer gekommen, haben mich abgedatscht in ihrem besoffenen Kopf. Und alles war total dreckig. Die Küche und die Bäder und so, also ätzend, echt ätzend. Die hygienischen Bedingungen, wenn da die Sanitätspolizei käme, die würde umfallen. Und dann auch so Sachen wie frühmorgens hast du schon gehört: "Wer hat mir vor die Tür gepißt?" Ich bin dann ausgezogen, bin wieder auf die Straße gegangen. Ich weiß auch nicht, was momentan mit mir los ist. Vielleicht ist das eine Gewohnheitssache. Also, ich bin da schlecht zurechtgekommen. Ich bin es auch nicht mehr gewohnt, mit so vielen Leuten zusammengesperrt zu sein.

Momentan bin ich jetzt, wenn ich will, wieder in so einer Kirche schlafen. Essen, duschen, schlafen und frühstücken. Aber das ist auch ein bißchen schwierig, weißt du, um halb zehn muß ich schon zu Hause sein, und bin das alles nicht mehr gewöhnt. Also, jeden Abend um halb 10 da anrücken, auch Samstag, Sonntag und so, und, das ist schon ein bißchen hart. Ich komm mir ein bißchen vor wie ein Teenie, also wie in Kinderzeiten zurückversetzt. Für einen erwachsenen Menschen ist das eine Zumutung. Dann bleibe ich manchmal draußen. Jetzt habe ich mir einmal eine ganze Nacht um die Ohren geschlagen. Und das wird dann doch bitter kalt in der Frühe. Hier ist ja auch so, daß sie alles zu machen. Der Bahnhof ist zu, die U-Bahn ist zu.

Therapie

Ich hätte gern eine Kur gemacht, aber hier kommt man nicht mal ins Krankenhaus. Ich bin neulich da rein, da hat mich noch einer von der Beratungsstelle begleitet. Ich habe schon an den Händen gezittert und alles, ich sah wirklich schlecht aus und hatte erhöhte Temperatur. Da haben sie mir den Puls gemessen und gesagt, der wäre in Ordnung und sie hätten momentan kein Bett frei, Tschüß! Da stand ich wieder draußen. Und dann habe ich mich so umgehört, daß die auch unheimliche Wartezeiten haben, dann war ich in Treptow in so einer Therapie. Die nehmen jeden, die nehmen die Leute, auch wenn sie ins Delirium kommen, was eigentlich eine Frechheit ist. Da kannst du dran sterben, die brauchen eine Behandlung. Solche Leute müssen normalerweise erstmal ins Krankenhaus und da entgiftet werden, und dann können sie sowas machen.

Ich bin da rein, und dann, ich weiß nicht, was sie gegen mich hatten, aber einiges. Die haben dann gleich, die Frauen hauptsächlich, angefangen, da mit mir rumzuzetern, ich wäre ja gar kein Alkoholiker, mir würden die Hände nicht zittern. Ich soll erstmal so daherkommen, wie sie. Da habe ich gemeint, ob ich erst auf der Nase angerobbt kommen muß, wenn ich Probleme habe. Daraufhin ging es los, ich habe so lange Haare, ich soll mir die Haare abschneiden lassen. Da habe ich gesagt: "Mach' ich nicht!" Ja, entweder ich lasse mir die Haare abschneiden oder ich fliege raus. Dann habe ich mir die Haare abschneiden lassen und dann hat es mich so angestunken, daß ich zwei Tage später wieder gegangen bin, das war mir einfach zu hart. Also das Ganze war mir einfach zu despotisch, zu diktatorisch und das mit dem Haaren, ich empfinde sowas als Körperverletzung. Das kommt mir vor wie Zuchthäuslermethoden. Das ist mir dann einfach zu brutal. Ich wollte eine ordentliche Therapie und nicht sowas, wie ein mittleres Arbeitslager. Die meisten Leute, die da waren, hauen ziemlich schnell wieder ab und sagen, sie gehen lieber in den Knast als da rein. Das war alles auch irgendwie hintenrum. Dann hieß es immer, keiner hat Aggressionen gegen den anderen, wenn, dann werden sie abends in der Runde ausgelassen. Dabei haben die Aggressionen gehabt, da wurde genauso getratscht und hintenrum über die anderen geredet wie sonstwo auch. Statt das zuzugeben, haben sie sich dann alle gegenseitig einen vorgemacht.

Und dann mit zehn Mark im Monat und zwei Päckchen Tabak die Woche kannst du ja nun wirklich keine großen Sprünge machen. Die Leute haben ja auch gearbeitet. In der Einrichtung oder draußen. Die haben auch LKWs gehabt und Umzüge gemacht und die Neuen, also wie ich, die haben erstmal im Haus putzen müssen oder waren in der Küche beschäftigt. Aber du hast schon richtig deine Zeit abgearbeitet. Ich sehe ja noch ein, daß ich eine soziale Einrichtung finanziell unterstütze, aber nicht für zehn Mark und laß mir dafür auch noch die Haare abschneiden. Und da war kein Arzt im Haus, kein Therapeut, also wirklich niemand mit einer Ausbildung. Und die Leute haben sich da aufgenobelt, sie hätten das Ganze in die Höhe gezogen, und hätten das alles allein organisiert. Ich fand das Ganze dann dermaßen albern, ich habe mir gedacht, das ist keine Therapie, da bin ich wieder gegangen. Das ist eine Holzhammerbehandlung, sowas.

Frauen

Es ist halt so, daß viele von den Leuten, die auf der Straße leben, die kommen unheimlich schlecht an Frauen ran. Die probieren es dann erstmal bei dir, also jedes Mal, wenn ich neu in die Stadt komme, muß ich die ganzen Leute erstmal abwimmeln, weil, ich bin eigentlich lieber allein. Oder sagen wir, ich kenne niemand, der mir so gefallen würde, daß ich da längere Zeit mit dem verbringen möchte. Und so, Typen kommen halt massenhaft, man kann sie ja wieder wegschicken. Manche sind mir einfach zu alkoholisiert und zu aggressiv und und und. Die streiten ununterbrochen, und ich meine, was habe ich davon, gar nichts. Wenn jetzt jemand kommt, wie Frank[34] neulich, der ist ja ganz nett drauf, mit dem verstehe ich mich auch gut, mit dem halt ich es dann auch länger zusammen aus. Aber mit jedem wirklich nicht. Wenn ich die anderen manchmal höre, geht's mir noch gut. Wenn ich das so höre, vergewaltigt worden und so, durchgefroren irgendwo mal mitgenommen. Der Typ verspricht ihnen hoch und heilig, ihnen nichts zu tun, nur mal baden, ausschlafen, was essen. Und dann werden sie da vergewaltigt und so. Da bin ich, glaub ich, schon zu lange unterwegs, ich kenne mich zu gut aus. Ich meine, du kriegst ja auch eine unheimliche Menschenkenntnis mit der Zeit.

Einkommen

Normalerweise, werde ich auch gleich machen, stehe ich nämlich auf und quatsche einfach skrupellos fast jeden an. Außer bei Leuten, wo ich schon auf zwei Meter sehe, daß ich ganz bestimmt nichts krieg. Dann frage ich einfach jeden, ob er ein bißchen Kleingeld hat. Und wenn man die Leute anspricht, kriegt man mehr. Bloß ich war heut noch so müde und so, und habe einfach keine Lust, mir den Mund fusselig zu reden. Und dann habe ich mich halt hingesetzt. Auch die Lustlosigkeit jetzt momentan. Ich werde immer ein bißchen dämlich, wenn es nicht so geht, wie ich mir das vorgestellt habe.

Gesundheit

Wenn ich morgens aufwache, dann zittern mir so die Hände. Ich muß dann wirklich was trinken, sonst wird das schlimmer. Ich meine, ich möchte irgendwann mal aufhören, weil mir der Arzt gesagt hat, ich habe jetzt schon einen schönen Leberschaden und es wird Zeit. Ich muß erstmal auf die Therapie. Dann muß ich sowieso ins Krankenhaus, und dann durchchecken lassen. Ich habe einen geschwollenen Fuß und eine Bindehautentzündung. Bevor du auf einer Alkoholtherapie bist, mußt du sowieso den Generalcheck machen. Und ich glaube, sie lassen dir auch die Zähne reparieren. Und bei meinen ist ja ganz schlimm, das kann ja auf den Organismus schlagen bereits, so wie die aussehen. Und das ist alles durch den Suff kaputtgegangen.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97