Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

ERNST

Interpretation

ERNST' Biografie wird von fundamentalen gesellschaftlichen Umwälzungen und Umbrüchen - der 2. Weltkrieg und seine Folgen - bestimmt und verändert. Erschließbar wird sein Biografieverlauf aus dem Verständnis dieser - von ihm oft nur angedeuteten - gesellschaftlichen Vorgänge für den Prozesse seiner Subjektentwicklung.

ERNST wird 1933, dem Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung, in Ostpreußen geboren, einer Gegend, in der bis heute die landwirtschaftliche Produktion dominierend ist. Er wächst auf in einem kleinen Dorf, kurz nach seiner Einschulung beginnt der 2. Weltkrieg. Mit der Ausrichtung des gesamten gesellschaftlichen Lebens auf die Zwecke der Kriegsführung wird Schule nur notdürftig organisiert, stattdessen wird die ohnehin übliche frühzeitige Einbindung der Kinder in die landwirtschaftliche Produktion ob des kriegsbedingten notorischen Arbeitskräftemangels in diesen Jahren zunehmend zur Notwendigkeit. Dennoch bleibt der 'Totale Krieg' für ihn weitgehend abstrakt, erst die näherrückende Front gegen Kriegsende

- "Bittet aber, daß eure Flucht nicht geschehe im Winter" (Mt 24, 20) -

stellt eine reale und konkrete Bedrohung für die Bevölkerung dar. Mit Beginn der sowjetischen Großoffensive wird Ostpreußen im Januar 1945 von der Sowjetarmee eingekesselt und vom deutschen Reich abgeschnitten - Gauleiter Koch verhindert bis zuletzt eine Evakuierung der Zivilbevölkerung. Mehr noch als die unvorstellbaren Entbehrungen und Risiken einer Flucht - der einzig mögliche Weg ist eine Passage über das Eis des Frischen Haffs - fürchtet die deutsche Bevölkerung die anrückende Sowjetarmee. Die unorganisierte Fluchtbewegung großer Teile der Bevölkerung - in der Regel zu Fuß oder mit Pferd und Wagen - kommt für viele bereits nach wenigen Kilometern zu stehen, die Nebenstraßen sind hoffnungslos überfüllt, die Hauptverbindungswege bleiben dem Militär vorbehalten. Verschärft wird die ohnehin schon schwierige Situation der Flüchtenden durch einen Kälteeinbruch mit Temperaturen bis zu minus 30 Grad. Viele kommen nicht weit, suchen in den nächstgelegenen Dörfern Zuflucht, anderen gelingt die Rückkehr in ihr Dorf. Auch die Familie von ERNST ist mit Leiterwagen unterwegs, sie werden eingeschneit. Nach mißglückter Flucht - Nachrichten über Bombenangriffe der Sowjets auf die Flüchtenden im Eis lassen das Unternehmen ohnehin als sinnlos erscheinen - kehrt die Familie nach M.Dorf zurück, wo "die Front" erwartet wird. ERNST muß zusehen, wie "die Russen" die Häuser in Besitz nehmen, den Hund verjagen, Lebensmittel- und Viehbestände konfiszieren, plündern, vergewaltigen. Seine 21jährige Schwester soll nach Sibirien verschleppt werden und kommt dabei ums Leben, ERNST deutet an, ohne es auszusprechen, daß auch sie vergewaltigt und anschließend ermordet wird. Zum Zeitpunkt dieser Ereignisse ist ERNST zwölf Jahre alt.

Bereits auf der Konferenz der Alliierten 1944/45 in Teheran - und dann auf Jalta endgültig - wird die Westverschiebung Polens entlang der Curzon-Linie beschlossen, weite Teile Ost- und Zentralpolens werden durch die Sowjetunion annektiert. Ein Teil der aus diesen Gebieten vertriebenen und heimatlos gewordenen Polen und Polinnen siedelt sich in der folgenden Zeit in den teilweise verlassenen Gegenden Ostpreußens an, polnische Macht- und Verwaltungsstrukturen werden in der Folgezeit etabliert. Neben anderen Gebieten wird dann auch der südliche Teil Ostpreußens auf der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 Polen endgültig als Ausgleich für die erheblichen Gebietsverluste im Osten zugesprochen. Bereits einen Monat zuvor, im Juni 1945, beginnt in Polen die fast vollständige Ausweisung und Vertreibung der in Ostpreußen verbliebenen deutschen Bevölkerung, eine Ausnahme bilden nur einige Gebiete in Masuren, darunter auch das Dorf von ERNST, sowie der Allensteiner Kreis.[10] Die in diesen Gebieten verbliebene deutsche Bevölkerung steht vor der Alternative, sich entweder den Zwangsausgesiedelten anzuschließen, oder aber nach Abgabe einer Treueerklärung gegenüber dem polnischen Staat bzw. nach einem Rehabilitierungsverfahren als "Autochthone" (Alteingesessene) - in der Ausübung ihrer deutschen Kultur und Sprache weitgehend behindert oder verfolgt - in ihrer Heimat zu bleiben. Angesichts des ungewissen und unüberschaubaren Schicksals der Aussiedlung - nicht wenige verhungerten und starben während des Transports in den Güterwaggons - bedeutet das Bleiben vor allem für die Landbevölkerung über alle Ungewißheiten hinweg zumindest die Sicherheit des bloßen materiellen Überlebens, vermeintlich nur um den Preis einer einzigen Unterschrift.

Über Jahre hinweg hält sich die Hoffnung, Ostpreußen würde eines Tages wieder deutsch werden, und gleichzeitig richtet sich die deutschsprachige Bevölkerung innerhalb der ihnen zugestandenen Möglichkeiten ein, so gut es geht. Erst allmählich mit der Phase des kalten Kriegs, in der selbst Familienzusammenführungen kaum noch möglich sind, setzt sich die Einsicht durch, daß die geschaffenen Realitäten von Dauer sein könnten. Die in den Jahren darauf mit der BesucherInnenregelung gegen harte Devisen (Zwangsumtausch) mögliche direkte Kommunikation leitet einen weiteren Perspektivenwechsel ein. BesucherInnen aus dem "Reich", wie beispielsweise ERNST' Patenonkel, belegen durch nützliche Gastgeschenke in Form handfester Gebrauchsartikel, die im Polen dieser Zeit begehrte Mangelwaren sind, die insgeheim schon lange gehegte Vermutung, es müsse im "Reich" einfach besser sein als unter den Bedingungen der alltäglich erfahrenen "Polenwirtschaft". Der so zur Schau gestellte Wohlstand dient dem Beweis, daß die Verwandten es ganz zweifellos "zu etwas gebracht haben" müssen. Abgesehen von diesen Informationsquellen sind Kenntnisse eher spärlich vorhanden, die oft gebrauchte Bezeichnung vom "Reich" zeigt das Informationsdefizit nur allzu deutlich. Die Rede von der "Ausfahrt" ist Inbegriff eines vollzogenen Perspektivwechsels, Hoffnung auf eine kulturelle, vor allem aber ökonomische Besserung der Situation in Polen hat niemand mehr. Die von Willy BRANDT 1970 eingeleitete Ostpolitik führt in der zweiten Hälfte der 70er Jahre zu einer verstärkten Erteilung von Ausreisegenehmigungen, nahezu die gesamte noch verbliebene deutschsprachige Bevölkerung stellt in dieser Zeit Ausreiseanträge und wartet auf den Bescheid. Größer noch als die Ängste, ob der Neuanfang denn auch gelingen wird, ist die Sorge, womöglich in noch größerer Isolation zurückzubleiben. In diesem Sog kommt auch ERNST 1977 nach Deutschland. Die Ausreise kommt zustande, weil sein Patenonkel aus Westdeutschland, der einmal "auf Besuch kommt", die "Papiere gemacht" hat, die formale Voraussetzung für die Ausreise. ERNST Weg über das zentrale Durchgangslager für AussiedlerInnen und Flüchtlinge in Friedland, Niedersachsen nach Berlin in das Aussiedlerlager Marienfelde entspricht dem üblichen Verfahren. Daß die Familie nach der Aussiedlung getrennt ist und die Kinder seitdem in Bayern leben, gehört dabei ebenso zu den widersprüchlichen, ungeklärten Punkten seiner Biografie wie die Frage, welchen Gründe ihn bewogen haben, ausgerechnet nach Berlin zu kommen und dort zu bleiben.

Gegen all diese Umbrüche ist die mit dem Begriff "Heimat" zusammenfaßbare Orientierung das zentrale und durchgängige Moment innerhalb seiner Biografie. Ein Altersgenosse und 'Landsmann' von ERNST, der 1934 in Kapkeim bei Allenstein geborene Soziologe Oskar NEGT schreibt dazu:

"In seiner durch und durch symbolträchtigen Gestalt repräsentiert er Vertrautheit und Nähe der konkreten Lebensverhältnisse, nicht mehr nur der Beziehungen zwischen den Personen, sondern auch des Umgangs mit den Dingen. Gleichwohl drückt Heimat keine unzweideutig beschreibbare Wirklichkeit aus. (...) Erst die Gebrochenheit dieses Begriffs gestattet uns, ihn in soziokulturellen Zusammenhängen zu verwenden, die mit irrationalen Heimatbedürfnissen nichts zu tun haben, sondern wesentliche Daseinsbestimmungen, Existenzmerkmale des modernen Menschen ausmachen: Vertreibung und der unbändige Wille, sich gegen die Enteignung der eigenen Lebenswelt zu Wehr zu setzen."
(NEGT 1990, S. 191. Kursiv im Original.)

Tatsächlich erfährt diese sinnstiftende Orientierung in ERNST' Biografie eine zweifache Brechung. Das erste Mal durch die Ereignisse des Kriegs - für Außenstehende und Unbeteiligte ist nur schwer erfaßbar, was er mit knappen Worten darüber über zum Ausdruck bringt. "Schlimm," sagt er, "sehr schlimme Jahre." - und den aus dem Krieg resultierenden umfassenden gesellschaftlichen Umwälzungen, die einer weitgehenden Beschädigung bis Zerstörung kollektiver Identität der deutschen Bevölkerung im ehemaligen Ostpreußen gleichkommen. ERNST und mit ihm die Mehrheit der verbliebenen Deutschen in Polen sind Heimatlose im eigenen Land oder, in Vorwegnahme der weiteren Ereignisse, Vertriebene auf Abruf. Der besondere Inhalt dieser Gebrochenheit der Situation läßt sich beschreiben als massive Beeinträchtigung und Beschränkung der Möglichkeiten von Aneignung, Vergegenständlichung und Umgestaltung gegebener Lebensumstände im Prozeß tätiger Subjektentwicklung. Er umfaßt zentrale Lebensbeziehungen:

Hinsichtlich der Möglichkeiten sprachlicher Verständigung entspricht ERNST' Status dem eines Ausländers in Polen, er besucht noch zwei Jahre die polnische Schule, dort und in den praktischen Lebensbeziehungen gelingt es ihm mehr schlecht als recht, den objektiven Notwendigkeiten folgend, die polnische Sprache anzueignen. Ohne ein persönliches Motiv dafür ist die Folge eine eingeschränkte Kommunikationssituation, damit eine weitere Schranke gesellschaftlicher Partizipationsmöglichkeit, nur noch zu Hause und mit den wenigen verbliebenen Deutschen kann er deutsch sprechen. Bald nach der Schule beginnt er zur Sicherstellung des Lebensunterhalts eine Tätigkeit als ungelernter Lohnarbeiter in einem sozialistischen Landwirtschaftsbetrieb[11], "auf dem Gut", wie er sagt, ein wichtiger Hinweis auf die im Bewußtsein präsenten früheren Eigentumsverhältnisse. Er wohnt mit seiner Familie in "seinem Haus" am Rande des Dorfes in der Nähe eines Sees. Auch hier geraten ihm tatsächliche und gedachte Wohnsituation durcheinander, er bewohnt, wie an anderer Stelle deutlich wird, nur eine 2-Zimmer-Wohnung darin. Angesichts des permanenten realsozialistischen Mangels kann und darf er sich für den Eigenbedarf und zum Nebenerwerb noch einige Tiere (Hühner, Kaninchen, Schweine) halten und im kleinen Rahmen landwirtschaftlichen Anbau betreiben. Dieses Beispiel zeigt die Richtung, innerhalb der in Ermangelung von Alternativen identitätsstiftende Lebensbezüge im konkreten Alltag gesucht und gefunden werden. Die Pferde, von denen er spricht, die private landwirtschaftliche Tätigkeit, die täglichen und jahreszeitlichen Routinen des bäuerlichen Daseins ohne viele Worte sowie das dörfliche, überschaubare Leben, aus dem er sich jederzeit aufs Feld, in den Wald oder zum Angeln zurückziehen kann - das ist seine Welt. Ein zweites, zentrales Moment ist das um so stärkere Festhalten, ja Klammern an den sozialen Beziehungen innerhalb der verbliebenen deutschsprachigen Minderheit, gleichsam das Dorf im Dorf. Vor allem das Bedürfnis nach familiären Bindungen erhält eine herausragende kompensatorische Bedeutung. Sie bilden eine tragende Säule innerhalb der Lebensbeziehungen, vermitteln gegen alle Bedrohungen und Ungewißheiten der Verhältnisse ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit und tragen durch den Alltag. Umso schmerzhafter wird der Tod von Familienangehörigen erfahren. An einer Stelle seiner Aussagen stellt ERNST den Tod seiner Schwester zu Kriegsende in einen Zusammenhang mit dem Tod seines Vaters und dem Tod seiner Mutter Jahre später. Er gerät damit in eine zunehmende soziale Isolierung, aus der er sich erst auffällig spät, im Alter von 31 Jahren, drei Jahre nach dem Tod seiner Mutter, zu befreien versucht, indem er heiratet und eine Familie gründet.

Die zweite Brechung der Heimatorientierung, die Spätaussiedlung, ist auch Ausdruck eines verlorenen Kampfes gegen die sprachlichen, sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Verlusterfahrungen. Als Resultat der faktischen Enteignung und im Empfinden, dem nichts adäquates entgegensetzen zu können, macht sich, eine perspektivlose Zukunft vor Augen, eine Entleerung breit, in der auch der so wichtige räumliche Bezug gleichgültig und austauschbar erscheint. Seine Aussiedlung, ein weiterer drastischer Einschnitt in seinem Leben, betreibt er nicht selbst, sie wird ihm vermittelt, er wird darin getragen von der allgemeinen Aufbruchstimmung, die sich aber in der konkreten Situation des Neuanfangs als wenig tragfähig erweist. In Berlin angekommen, versucht er dort anzuknüpfen, wo er aufgehört hat. Das typische Muster vieler (Spät-)AussiedlerInnen, sich in die neuen Strukturen möglichst unauffällig einzupassen und durchschnittliche bürgerliche Lebensmuster weitgehend zu kopieren, gelingt nur an der Oberfläche. Die Umstellung auf das Leben in der Stadt fällt nicht leicht und ist eigentlich bis heute nicht gelungen, mit dem Leben in der Stadt weiß er wenig anzufangen, er versucht es auch nicht ernsthaft. Es sind zu viele Leute, es ist zu schmutzig, ihm fehlt die Natur, und gleichzeitig kann und will er in seine Heimat nicht zurück. Nicht nur, daß die rückwärtsgewandte Heimatorientierung sich als Hindernis für die Aneignung der veränderten Lebensbedingungen erweist, hinter dem letztlich nicht gelungenen Neuanfang steht auch das objektive Problem der Entwertung bäuerlich-dörflicher Kompetenzen im großstädtischen Lebenszusammenhang. Zwar entspricht seine erste Arbeitsstelle in einer Gärtnerei seinen Bedürfnissen nach einer naturnahen Tätigkeit, allerdings ist sie aufgrund seiner nicht vorhandenen Ausbildung derart ungesichert, daß er mehrfach den Arbeitsplatz wechseln muß. An keinem Arbeitsplatz war er länger als vier Jahre. Seit einem Autounfall im Jahr 1985 ist er arbeitsunfähig und erhält Sozialhilfe, er wartet auf die Rente. Darüberhinaus bringt die Verletzung mehrere Komplikationen nach sich, an den Folgen er bis heute leidet. Seit dieser Zeit ist ERNST regelmäßiger Besucher im Warmen Otto, er nimmt die Getränke- und Essensangebote wahr, und auch die Kleiderausgabe in Anspruch.

Eine eskalierende Problematik innerhalb der Biografie zeigen ERNST' Aussagen über seine Ehe. Aus dem Bedürfnis, die in Polen beginnende Isolierung zu durchbrechen, entscheidet sich ERNST für die Heirat einer Frau, die, wie sich aus seinen spärlichen Aussagen über sie erschließen läßt, sowohl weitgehend selbständig ist, als auch in der Ehe alle Fäden in der Hand hat, während sich gleichzeitig keinerlei Hinweis darauf findet, daß ERNST diese Beziehung von sich aus gestaltet. Nachdem durch den Tod seiner nächsten Angehörigen der für ihn so wichtige Familienzusammenhang zerrissen ist, findet in der polarisierten (Ehe-)Beziehung die Ambivalenz von Sicherheitsbedürfnis und Fremdbestimmung eine Fortsetzung, die sich in Berlin zuspitzt. Seine Frau ist die Hauptmieterin der Wohnung, sie geht ihre eigenen Wege und hat ihren sozialen Bezugspunkt in einer Anlaufstelle in Schöneberg. Mit ihr verbunden ist auch der unmittelbare Anlaß für ERNST' Wohnungslosigkeit nach seinem Unfall und der erzwungenen Untätigkeit: Sie sperrt ihn aus der Wohnung aus, seit dem letzten halben Jahr offenbar dauerhaft. ERNST redet von sich aus nicht gern darüber. Deutlich wird: Der defensive Denk- und Handlungsraum der deutschsprachigen Minderheit in Polen ist nicht nur ein Problem objektiv eingeschränkter Entfaltungsbedingungen, diese Situation findet auch ihren Niederschlag in den zentralen Merkmalen von Subjektentwicklung.

"Die Gewalt, die ihnen durch Vertreibung angetan wurde, reproduziert sich in ihrem Verhalten zur gegenständlichen Welt"
(NEGT 1990, S. 185)

und wirkt darüber zurück auf die Subjekte selbst. ERNST' Beispiel zeigt in paradoxer Form die Wirkungsweise dieses Mechanismus.

Es entspricht der Logik seiner biografischen Entwicklung, daß er diese Aussperrung wie ein Schicksal über sich ergehen läßt. Andere Umgehensweisen kennt er nicht. Was ihm bleibt ist das ziellose Umhertreiben auf den Straßen und eine Wärmestube in der nächstgelegenen Umgebung, die er schon vorher kannte und besucht hat. Er ist nun vollends isoliert und flüchtet sich in Ermangelung von Alternativen in die Erinnerung an die vermeintlich "guten Zeiten" seiner Heimat, in die Illusion eines Zuhauses mit Frau, Fernseher und den Kindern, die zu Weihnachten zu Besuch kommen und trennt sich von der Realität insofern ab, als daß sein bewußter Bezug zur tatsächlichen Lebenslage immer weniger adäquat wird. Damit ist er zugleich immer weniger in der Lage, seine Notsituation zuzugeben und wird in seiner verschämten existenziellen Armut immer einsamer. Es gibt in seiner Biografie keinen Hinweis darauf, daß Not ihn zum Handeln veranlaßt, es steht zu befürchten, daß er an seinem Leidensdruck unbemerkt zugrunde geht. Mit dieser defensiven, verschämten Umgangsform mit seiner Wohnungslosigkeit steht ERNST nicht alleine. Ich gehe nach meinen Erfahrungen davon aus, daß ein hoher Anteil der NutzerInnen niedrigstschwelliger ambulanter Angebote sich in ähnlichen Notlagen befindet, ohne daß diese den dort tätigen Sozialarbeitern explizit bekannt sind.

Sinn macht in seiner Situation der Bezug zur nahegelegenen Wärmestube, die sich noch innerhalb seines Aktionsradius befindet. Hier hat er einen Schutzraum unter ebenfalls armen Menschen, kann er die für ihn wichtigen Essens- und Kleiderangebote in Anspruch nehmen, ohne aufzufallen. Wenn die Wärmestube geschlossen ist, besteht die Alternative lediglich darin, auf der Straße seine Runden zu drehen. Die Wohnungslosen, die er kennenlernt auf der Straße und in der Wärmestube, bleiben für ihn Fremde, haben aus seiner Sicht nicht viel mehr als Alkohol mit ihm zu teilen und sind gleichzeitig doch die wenigen GesprächspartnerInnen, die er noch hat. Allzugroße Nähe zu ihnen kann und darf er aber nicht zulassen, die Folgen der Alkoholeskapade, von der er berichtet, haben ihn gründlich davon abgeschreckt, sich auf diese Lösungsvariante weitergehend einzulassen, das bringt nur Schwierigkeiten. Auch in der Wärmestube muß er sich im eigenen Interesse von denen, die dort heimlich Alkohol trinken und durch Randalieren ein vorzeitiges Schließen provozieren, abgrenzen, sie bedrohen seinen letzten Zufluchtsort. Aus diesem Grund sind SozialarbeiterInnen, ohne daß sie es explizit wissen, wichtige Bezugspersonen, wenn sie rigoros durchgreifen und eine Schließung der Einrichtung verhindern.

Hier zeigt sich ein Ansatzpunkt für ein personales Hilfeangebot, allerdings wird ERNST nicht von sich aus SozialarbeiterInnen ansprechen, insbesondere dann nicht, wenn er befürchten muß, das volle Ausmaß seiner Notlage thematisieren zu müssen. Das hat er nie gelernt, es geht über seine Fähigkeiten, sich innerhalb vorgegebener Strukturen zu bewegen, weit hinaus. Auch der bloße Hinweis auf einklagbare Rechte, zuständige Behörden und Institutionen, Beratungsstellen und Möglichkeiten der Notübernachtung würden ihn wahrscheinlich überfordern. Am ehesten angemessen und seinen Bedürfnissen entsprechend ist die Entwicklung eines Vertrauensverhältnis zu Personen, die, wie damals bei seiner Aussiedlung, ihm "die Papiere machen" und ihn aus seiner Wohnungslosigkeit "rauskriegen". Die Schwierigkeit liegt bei den SozialarbeiterInnenn und nicht bei ERNST, den schmalen Grad zwischen gewollter Anonymität und ihrer Bedeutung als mögliche Bezugspersonen auszubalancieren, Signale wahrzunehmen und adäquat darauf zu reagieren. Deutlich zeigt ERNST' Beispiel zwei Gefahren eines falsch verstandenen subjektorientierten Arbeitsansatzes innerhalb der Hilfe der Wohnungslosen. Die eine Gefahr besteht darin, in der Fixierung auf die "starken", ihre Interessen artikulierenden Wohnungslosen die anderen "verschämten Armen" als die vermeintlich "pflegeleichten" BesucherInnen zu verkennen und und ihre uneindeutigen, häufig nicht verbal artikulierten Signale im gewollt anonymen Raum der niedrigstschwelligen Angebotsstruktur schlichtweg zu übersehen. Die andere Gefahr besteht darin, in unsensibler Durchbrechung von Anonymität und unangemessener Fehleinschätzung von Handlungsfähigkeit solche oftmals gerade wegen der Anonymität kommenden BesucherInnen weiter in die Defensive zu zwingen. Offensichtlich zu erkennen ist, daß er sich in negativer Hinsicht gegen Personen und Strategien - konkret Alkoholiker und Alkoholkonsum - abgrenzt, die den bestehenden Status quo gefährden. In den Wärmestube kann er dieses Problem an die SozialarbeiterInnen delegieren, in einer zwangsgemeinschaftlicher Unterbringung wäre ERNST aus diesen Gründen fehl am Platz. Die überschaubare, manchmal familiäre Situation in den von Kirchengemeinden organisierten Notübernachtungen[12] ist möglicherweise am ehesten eine für ERNST angemessene Perspektive der Unterbringung unter der Voraussetzung, daß ihm PartnerInnen vermittelt werden, an denen er sich in diesem Zusammenhang erstmal vertrauensvoll orientieren kann. Das müssen nicht zwingend SozialarbeiterInnen sein, es könnten auch andere Wohnungslose sein.

Trotzdem bleiben bei ERNST erkennbare Motive, an die angeknüpft werden kann, relativ vage und sind am ehesten in Kontext seiner Heimatorientierung - die Liebe zur Natur und damit verbundene Tätigkeiten wie Angeln, landwirtschaftliche oder gärtnerische Arbeiten, sowie sein Bedürfnis nach familiären, dörflich-überschaubaren Strukturen, die ihn tragen - zu suchen. Die pädagogische Herausforderung besteht darin, die rückwärtsgewandte Heimatorientierung für ihn und mit ihm in perspektivisch konkreter Dimension zu entfalten. Noch einmal dazu NEGT, der mit Blick auf 'Das Prinzip Hoffnung' von BLOCH sagt:

"Heimat ist ein Zukunftsbegriff. Die konkrete Nähe einer Welt, welche die Menschen selber hergestellt haben und in der sie sich wohlfühlen, weil sie ihre Welt ist."
(NEGT 1990, S. 191. Kursiv im Original.)

Wichtig ist, überhaupt erst Kontakt zu ERNST herzustellen und eine vertrauensvolle Handlungsbasis zu schaffen oder zu vermitteln. Eine Perspektive könnte darin bestehen, ERNST stärker in das Geschehen der Wärmestube zu integrieren und ihn in Tätigkeiten einzubeziehen, die ihm die Möglichkeit eröffnen, in einem sozialen Arbeitszusammenhang die Sicherheit zu finden, die ihm erlaubt, sich als Subjekt zu erfahren. So ansetzend an seinen begrenzten Fähigkeiten, sich einzupassen, wird die Förderung seiner Eigeninitiative und das Zugeben und Artikulieren seiner Situation und seiner Bedürfnisse in der aktuellen Notlage schrittweise erfolgen können. Eine langfristige Perspektive wäre für ihn vielleicht eine dauerhafte Einzelunterkunft (Wohnung) in Verbindung mit der Möglichkeit, sich durch leichte (Aushilfs-) Arbeiten nützlich zu machen und sich in eine überschaubare soziale Struktur einzuleben, die ihm die Chance offenläßt, sich nach Bedürfnis jederzeit zurückziehen zu können. So könnte auch ein Stadtteil in der Großstadt für ihn zur Heimat werden.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97