Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

JOCHEN

Interpretation

JOCHENS Kindheit und Jugend ist beherrscht von der dauerhaften Konfrontation mit den "Schlägen und Bösartigkeiten" durch seinen Vater. Diese Konfliktlage dominiert JOCHENS Entwicklung, sie beansprucht auf Kosten der schulischen Leistung einen großen Teil seiner Aufmerksamkeit und hindert ihn gleichzeitig bei der Bearbeitung so entstandener schulischer Schwierigkeiten, auf die er mit wachsender Gleichgültigkeit reagiert. Trotz des vergleichsweise hohen Stellenwerts, den Schule und später die Ausbildung für ihn hat, kostet es ihn besondere Mühe, überhaupt Ziele wie den Realschulabschluß zu erreichen und weitergehende Orientierungen einer beruflichen Zukunft auszugestalten. Die andere Seite von JOCHENS Ausgangslage ist durch die frühzeitige Entdeckung seiner Homosexualität charakterisiert: "Auf Männer habe ich (...) immer schon geachtet". Gegen alle Widerstände und trotz der damit einhergehenden Verschärfung der häuslichen Situation entwickelt er daraus aktiv eine Perspektive und konkretisiert dieses Bedürfnis in einer ersten Bekanntschaft, in der es ihm gelingt, seine Vorstellungen wiederzufinden. Gerade, daß er gegen alle Widerstände an seinem Schwul-Sein festhält und innerhalb dieser Orientierung Erfahrungen sammelt, statt um des häuslichen Friedens willen dieses Bedürfnis zu negieren, zu verleugnen oder zu unterdrücken, unterstreicht die persönliche Bedeutung, den besonderen Stellenwert dieses Motivs.

Beide Entwicklungen geraten in einen unversöhnlichen Gegensatz. Im Nachhinein referiert JOCHEN dazu einen Interpretationsansatz, der die Genese der Homosexualität im Bedürfnis nach einem Vater-Ersatz sieht, also beide Elemente in einen kausalen Zusammenhang stellt. Abgesehen vom Realitätsgehalt dieses Modells, den er selbst in Zweifel zieht, verdeutlicht das die Tragweite seiner Ablehnung gegenüber dem gewalttägigen Vater, die eine gegenseitige ist: "Das ist eine Schande, so einen Sohn zu haben." Mit seiner Strategie ignoranter Verweigerung - "Das geht dir dann nachher auch am Arsch vorbei" - provoziert JOCHEN eine Verschärfung der Konfliktlage - "da (...) war der Streit noch größer" - aus der er sich mit eigenen Mitteln (noch) nicht entziehen kann. Ihr allgemeiner Kontext ist die immer früher einsetzende Phase an der Schwelle des Erwachsenwerdens, ein komplexer Orientierungsprozeß der Umgestaltung bestehender und Entwicklung neuer Tätigkeitsfelder bei Herausbildung neuer und veränderter Motivhierarchien, ein Prozeß, dessen zentrale ontogenetische Bedeutung LEONTJEW 1982 mit dem Begriff der 'Zweiten Geburt der Persönlichkeit' zusammenfaßt. In dieser Phase

"behalten selbst die von den am nächsten stehenden Erwachsenen kommenden Forderungen jetzt nur unter der Bedingung ihre sinnbildende Funktion, daß sie in die umfassendere soziale Motivationssphäre einbezogen werden können. Im entgegengesetzten Fall stoßen sie auf 'psychologischen Widerstand'"
(LEONTJEW 1982, S. 203).

Zunächst jedoch begibt sich JOCHEN in eine weitere Abhängigkeit, indem er einen von seinem Vater vermittelten Ausbildungsplatz akzeptiert. Die Entscheidung hat für ihn die Funktion eines Kompromisses, um angesichts der schwierigen Ausbildungsplatzsituation und in Ermangelung von Alternativen einen seinen Interessen entsprechenden kaufmännischen Beruf erlernen zu können. Tatsächlich ist er in der negativen Verschränkung von objektiven Hindernissen (Ausbildungsqualität, Betriebsklima) und subjektiver Vorbehalte (für die Branche seines Vaters kann er sich weder begeistern noch interessieren) mit der Gefahr des Scheiterns konfrontiert. Mit dem Abbruch der Ausbildung enttäuscht er bewußt die an ihn gestellten Erwartungen und setzt sich insofern gegen die Dominanz des Vaters durch, als daß er damit den "Rausschmiß" provoziert. JOCHEN sucht nach Auswegen. Ohne auf ein Repertoire konstruktiver Handlungsansätze zurückgreifen zu können, ist er gezwungen, mehr oder weniger wahllos die sich ihm bietenden Möglichkeiten zu ergreifen. Fluchtversuche zu einem Arbeitskollegen reichen nicht aus, er muß Arbeitsangebote ergreifen, die ein eigenständiges Überleben ermöglichen sollen. Genaugenommen präsentiert JOCHEN mit dem 'Rausschmiß' und der 'Flucht nach S.Dorf' zwei unterschiedliche, jedoch komplementäre Versionen der Trennung von seinen Eltern. Das verweist auf die Ambivalenz der Handlungssituation innerhalb des Konflikts, auf die Widersprüchlichkeit seines Umgangs damit, ist aber auch ein deutliches Indiz dafür, daß JOCHEN noch kein eindeutiges Verhältnis zu diesem Lebensabschnitt hat.

Auch in S.Dorf bleibt JOCHEN innerhalb seiner Strategie gefangen, er weiß mit den darin enthalten Möglichkeiten nichts anzufangen, ihr Inhalt erschöpft sich in der vollzogenen Distanz. Ausdruck dafür ist der Umgang mit dem verdienten Geld, er verspielt es in Automaten. Die Bedeutung der hier anklingenden Glücksspiel-Problematik ist mit der von anderen Drogen vergleichbar. Das Spiel mit dem Automaten beansprucht die ganze Aufmerksamkeit unter Vermeidung einer angemessenen bewußte Auseinandersetzung mit der Realität bei Gefahr der Verselbständigung dieses "Lösungswegs". Ihm fehlen die Ziele, auf die hin das Geld ein sinnvolles Kapital sein könnte. Mit dem Ende der Saison ist JOCHEN als ungelernte Arbeitskraft überflüssig, auf sich selbst verwiesen. Angesichts der Alternative, mit der Rückkehr zu einen Eltern seinen "Mißerfolg" praktisch einzugestehen, zieht er es vor, auf Distanz zu bleiben. Spätestens diese Entscheidungssituation markiert den Beginn seiner Wohnungslosigkeit. Das einzige durchgängige Parameter der folgenden Zeit, in der sich JOCHEN in die Abhängigkeit von Zufällen begibt, ist das prinzipielle Festhalten an der Orientierung auf Lohnarbeit, da sich diese als taugliches Mittel zur Gewährleistung und Absicherung von materieller Eigenständigkeit erwiesen hat.

In der Drückerkolonne, in die er sich auf der Suche nach Arbeit und Unterkunft "auf den blauen Dunst" hineinbegibt, sind sowohl seine objektive Lage auch der von ihm gewählte Umgangs- bzw. Lösungsansatz - wiederholte Flucht, erneute Annäherung - von ihrer Struktur her identisch mit der elterlichen Situation. JOCHEN ist noch vollkommen gefangen im Widerspruch zwischen Unterwerfung und Auflehnung, Abhängigkeit und Eigenständigkeit. Erst in dem Maße, wie er nach insgesamt vier Durchläufen die Geschäftsprinzipien dieser modernen Form der Sklaverei erkennt und durchschaut, wird ihm offensichtlich klar, daß es hier keine Zukunft für ihn gibt, er hat endgültig die "Schnauze voll". Trotz des großen persönlichen Risikos, das er damit eingeht, vollzieht JOCHEN den endgültigen Bruch, indem er eine günstige Gelegenheit nutzt, um sich abzusetzen - nach Berlin. Der Ruf Berlins, als Hochburg der Schwulen- und Lesbenszene einen größeren Akzeptanzraum zu bieten und günstigere Lebensbedingungen und -möglichkeiten zu eröffnen, mag ein Grund für dieses Ziel gewesen sein, vielleicht auch die Hoffnung, daß sich in einer ebenso großen wie anonymen Metropole schon Wege finden werden, wie es weiter geht. Tatsächlich regiert weiterhin General Zufall in dieser ersten Berliner Zeit, seine bislang zumindest zeitweilig gelungene Synthese von Arbeit und Unterkunft - unter Rückgriff auf historisch überholte, aber durchaus fortbestehende und marginal bedeutsame Produktionsformen wie Saisonarbeit und mobiles Gewerbe - zerbricht. In rein quantitativer Erweiterung seiner Lebensbeziehungen findet er für die Bedürfnisse seiner Lebenslage nun Anbieter, die nicht nur seine Arbeitskraft und seine Sexualität unverschämt und schamlos ausnutzen und ausbeuten, sondern es darüber hinaus auch verstehen, die in dieser Lage so wichtigen Ziele wie Unterkunft und Lohnarbeitsgelegenheiten vollends zu diskreditieren und ihm so weitere Handlungsmöglichkeiten zu zerstören. Scheinbar günstige Gelegenheiten offenbaren erst viel zu spät ihren unerwartet hohen Preis. Erneut sieht JOCHEN sich zum Weggehen gezwungen. In die äußerste Defensive gedrängt, schläft er monatelang allein im Freien, nur unzureichend vor der Witterung, gar nicht vor Diebstählen und Überfällen geschützt, zum Schluß steht er vor dem Nichts, er verliert alles. Damit ist JOCHEN nicht nur mit der extremsten Konsequenz der von ihm gewollten Distanz konfrontiert, die materielle Notlage ist gleichzeitig ein innerer Rückzug als Resultat einer ganzen Kette von Enttäuschungen und gescheiterten Lösungsversuchen. Eine spätere Aussage -"Ich bin manchmal so nervlich kaputt mit meinen eigenen Sachen" - verdeutlicht die enorme psychische Belastung bei der Verarbeitung dieser Ereignisse. Im Zusammentreffen erweisen sich die objektiv bestehende extreme materielle Notlage und der subjektiv vollzogene Rückzug als massiv existenzbedrohend: Erst, als es mit Einbruch des Winters gar nicht mehr anders geht, ist er, um des Überlebens willen, zum Strategiewechsel - S-Bahn-Fahren - gezwungen, der ihn wieder mit anderen Wohnungslosen in Kontakt bringt und einen zweiten Wendepunkt in seiner Biografie darstellt.

Ganz deutlich lassen sich von diesem Zeitpunkt an drei Phasen des Zugangs zu den Angeboten der Hilfe für Wohnungslose ausmachen. Die erste Phase kennzeichnet den Einstieg in den Hilfebezug überhaupt, der meist über andere Wohnungslose und an so bedeutsamen Plätzen wie Bahnhöfen[16], vermittelt werden kann. Die zweite Phase ist die der erweiterten Nutzung einer ganzen Reihe solcher Angebote, von den Wohnungslosen selbst häufig abwertend als "Freßtourismus" bezeichnet. Die dritte Phase schließlich ist die der selektiven, differenzierten Inanspruchnahme ausgewählter Angebote in Verbindung mit engeren Bezügen zu dieser Einrichtung. Die Tatsache, daß dieser 3-Phasen-Prozeß auch bei anderen Wohnungslosen in vergleichbarer Lage häufig wiederzufinden ist,[17] gibt Anlaß zur Annahme, daß es sich hierbei um ein Strukturmerkmal, ein zentrales Muster des Einstiegs in den Hilfebezug handelt. Anders gesagt enthält der offene innerstädtische Raum zumindest die Chance eines Zugangs zu den ambulanten Angeboten der Hilfe - vermittelt über andere Wohnungslose, wenn denn der Bezug oder zumindest die räumliche Nähe zu ihnen gesucht wird. Die Chance wird, wie JOCHENS Beispiel zeigt, dann genutzt, wenn subjektiv ein Grund besteht, an der aktuellen Lebenslage etwas zu ändern, und sei es aus der Notwendigkeit heraus, das bloße Überleben zu sichern, den sicheren Tod durch Erfrieren abzuwenden.

Die S.Wärmestube ist hinsichtlich des personalen Angebots, der BesucherInnenstruktur, der Atmosphäre und den Betätigungsmöglichkeiten am ehesten seinen Bedürfnissen nach einem 'Zuhause' angemessen. Wenn JOCHENS Metapher vom Vater-Ersatz zutrifft, dann auf bezogen auf diese Einrichtung, hier wird er wie der verlorene Sohn aufgenommen, hier trifft er auf SozialarbeiterInnen, die ihn ansprechen, hier bleibt er. Ein bedeutsames, im Zustandekommen aber eher zufälliges Aufeinandertreffen von Gegenstand und Bedürftigkeit. Ausschlaggebend für die Auswahl sind dabei nicht materielle, sondern in erster Linie soziale Kriterien. Der sogenannte "Freßtourismus" erhält eine untergeordnete Funktion und ist der Tatsache geschuldet, daß die Öffnungszeit einer Wärmestube eher kurz, ein Tag ohne Wohnung jedoch sehr lang sein kann. Und dennoch ist die Bindung JOCHENS an die S.Wärmestube nur deshalb so stark, weil ihm diese Begegnung eine Dynamik praktischer Tätigkeiten eröffnet, die ihn mit der Einrichtung verbinden und in denen sinnvolles, seine Entwicklung vorantreibendes Handeln erfahrbar wird. Daß er diese Möglichkeiten erhält und auch nutzt, unterscheidet ihm von Gros der BesucherInnen. Die ehrenamtliche Küchenmitarbeit ist ein erster Fixpunkt, über den er eine "gewisse Bestätigung" erfährt, und schon bald akzentuiert er diese Funktion dahingehend, daß sie ein "Sich-kümmern" um die Probleme anderer, ein soziales Engagement beinhaltet. Das unterbricht das ständige Kursieren um eigene Probleme, schärft aber auch nach beiden Seiten hin den Sinn zur bewußten Bearbeitung der eigenen Situation. Es wird notwendig, Prioritäten zu setzen, Abgrenzungen vorzunehmen: "Mittlerweile habe ich das so einigermaßen im Griff. (...) Daß ich dann auch mal sage: Okay, Moment, jetzt bin ich dran, also jetzt kommt keiner mehr!" Diese Tendenz verselbständigt sich bis zum Versuch der selbstbestimmten Handlungsorganisationsform eines Obdachlosenvereins, der aber letztendlich an den objektiven Bedingungen der Gruppensituation scheitert.

Mit der Erweiterung seiner Tätigkeiten ändert sich auch die Funktion der Hilfeeinrichtung, hatte sie zunächst den Rang einer Heimat, erhält sie Bedeutung einer Basis oder eines Sprungbretts, mittels der JOCHEN darüberhinausgehende Ziele erreichen will. Eine wirkliche neue Qualität in seiner Lebenslage eröffnet ihm die ambulanten Hilfe jedoch nicht - er ist nach wie vor wohnungslos. Erst der Beginn einer dauerhaften Beziehung zu einem Partner liefert die Möglichkeit und das das Motiv zu einer vergleichsweisen gesicherten Unterkunft in einer betreuten Einrichtung nach § 72 BSHG. Die Beziehung ist treibendes Motiv, bisher nie wahrgenommene Ansprüche gegenüber dem Sozialamt einzufordern, konkrete und weitgehend selbstbestimmte ABM-Tätigkeiten zu planen, bislang nicht für möglich gehaltene soziale Beziehungen zu modellieren. Allgemeiner formuliert: Wenn es denn gelingt, in oder aus einer offenen Situation heraus ein Motiv zu konkretisieren, sei es, daß es gefunden, sei es, daß es gestiftet wird - wird die Bezugnahme auf Ziele, darunter auch Hilfeangebote, möglich, die vorher - aus subjektiver Perspektive - niemals in Betracht gekommen wären.

Und dennoch: Das auf den 'alleinstehenden' Wohnungslosen hin gedachte und konzipierte Hilfeangebot in der Tradition zwangsgemeinschaftlicher und getrenntgeschlechtlicher - in Sinne von Sexualität und Partnerschaften negierender - Unterbringungsformen[18] erweist sich als schwerwiegendes Hindernis für bestehende oder erschließbare zentrale Sinnressourchen. Allein durch die Präsenz anderer Zimmerbewohner ist die für JOCHEN so eminent wichtige Partnerbeziehung in der betreuten Einrichtung erheblich eingeschränkt, behindert und auf Dauer gefährdet. Die Nähe zum Partner erschöpft sich darin, 'zufällig' in derselben Einrichtung 'zufällig' gemeinsam in einem Zimmer untergebracht zu sein. Er muß befürchten, daß seine Beziehung öffentlich werden könnte, und daß auch innerhalb der Einrichtung die gesellschaftliche Ausgrenzung nichtheterosexueller Lebensformen reproduziert, zumindest aber nicht verhindert werden kann. In Ermangelung günstigerer Alternativen nimmt JOCHEN die restriktive Balance der Unterkunftssituation - "da läuft nichts" - in Kauf, ihre Auflösung unterhalb des Niveaus einer eigenen Wohnung würde die erreichte neue Qualität seiner Lebenslage wieder in Frage stellen. Das Bemühen um eine Wohnung wird auf diesem Hintergrund zu einem bedeutsamen Ziel, ist Ausdruck einer erweiterten, nun auch in perspektivischer Richtung offenen Handlungsorientierung. Überhaupt belegen JOCHENS Aussagen die immer noch dominierende gesellschaftliche Verurteilung und praktische Ausgrenzung nichtheterosexueller Lebenskonzepte, erkennbar beispielsweise im Konflikt mit seinem Vater, an den erheblichen Behinderungen bei der Arbeitssuche, in der Ausbeutungsbeziehung Sexualität gegen Unterkunft. JOCHEN ist gezwungen, den Widerspruch zwischen Nachteilen aus dem Bekenntnis seiner Homosexualität und Vorteilen des Zugangs zum gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß bei Verleugnung seiner Identität immer wieder neu zu entscheiden, was gleichzeitig beinhaltet, daß sein Bezug zur gesellschaftlichen Realität auch immer nur ein brüchiger und widersprüchlicher sein kann. Dennoch kann von einem direkt verursachenden Zusammenhang von Homosexualität auf Wohnungslosigkeit nicht die Rede sein, vielmehr stellt die gesellschaftliche und in direkten und institutionellen Beziehungen zum Ausdruck kommende Umgangsweise mit Lebens- und Beziehungskonzepten die im Prozeß der Persönlichkeitsentfaltung zu bewältigende Aufgabe dar, eine Herausforderung, die JOCHEN im Rahmen seiner Handlungsmöglichkeiten zu lösen versucht.

Zusammenfassend gesagt: Ob der Schärfe eines an der subjektiv hochbedeutsamen Frage der Geltungsmacht gesellschaftlich dominierender Sexualitäts- und Beziehungskonzepte ausgetragenen Ausgangskonflikts vereinseitigt JOCHEN, dem Bedürfnis nach Durchsetzung seiner Persönlichkeit in sinnvollen Lebensbeziehungen folgend, seinen Widerstand in eine Distanz hinein. Das Resultat der Polarisierung ist die extreme Konsequenz der Wohnungslosigkeit, ein umfassender Ausschluß von gesellschaftlichen Lebensbeziehungen, der ursprünglich beabsichtigte Effekt verkehrt zu einer langdauernden fortschreitenden Einschränkung jedweder Entwicklungsmöglichkeit. Erst die Angebote der Hilfe erweisen sich als adäquater Gegenstand für einen Ausweg aus der Sackgasse eindimensionaler Handlungspolaritäten, durch und über sie wird JOCHEN zunehmend zum Subjekt seiner Tätigkeiten. Darin enthalten sind Möglichkeiten und Freiheiten für bewußte, selbstbestimmte Handlungselemente, die innerhalb der Tätigkeiten eine komplementäre Funktion einnehmen, was bedeutet, daß er nicht mehr ausschließlich unmittelbaren Abhängigkeiten ausgeliefert ist, daß nicht mehr jeder Mißerfolg, jedes Scheitern an objektiven Bedingungen eine persönliche Katastrophe nach sich zieht. Die Alternative lautet nicht mehr diametral: Eltern, Arbeitsunterkunft, Ausbeutungsbeziehung versus Wohnungslosigkeit, sondern die erweiterten Lebensbeziehungen (zu gesellschaftlichen Institutionen wie Sozialamt, Einrichtungen der Hilfe für Wohnungslose als auch zu Personen und Gruppen wie SozialarbeiterInnen, andere Wohnungslose, Familie, Freund) kommen einer Befreiung gleich, sie enthalten in Abhängigkeit zur Motiventwicklung eine neue Qualität vielseitig einsetzbarer Bausteine zur Gestaltung und Durchsetzung seiner Interessen und Bedürfnisse. Die mit der Distanz zum Stillstand gekommene Persönlichlichkeitsentfaltung kann nun endlich fortgesetzt werden, erstmalig werden Konturen eines mehrdimensionalen, noch nicht fertigen Persönlichkeitsprofils erkennbar.

Grenzen seiner weiteren Entwicklung sind zum einen durch die Voraussetzungen seiner bisherigen Biografie gesetzt. Ohne Ausbildung, abgesehen von Gelegenheitsarbeiten arbeitslos und in den finanziellen Mitteln beschränkt, als Schwuler in der ständigen Furcht vor Diskriminierungen hat er eine denkbar schlechte Position auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Andererseits bringt er für seine Altersgruppe vergleichsweise vielfältige Erfahrungen im Umgang mit den physischen und psychischen Härten des Lebens im unteren Drittel der Gesellschaft ein. Diese haben durchaus auch den Rang von Kompetenzen und Fähigkeiten, die erforderliche Leistung besteht darin, ob er bestimmte Fehler in seiner Biografie blauäugig wiederholt oder ob er die Gelegenheit hat, sie differenziert zu verarbeiten. Das Zustandekommen dieser Leistung ist dabei nicht in erster Linie eine Frage von Betreuung oder Therapie - also Resultat einer externen Intervention - sondern notwendiges Element von Tätigkeitsentwicklung in Abhängigkeit von Prozessen der Motivbildung. Erste bewußte Ansätze einer notwendigen Abgrenzung von Flexibilität gegen unüberlegte Spontanität, von Entschiedenheit gegen Vereinseitigung, von Engagement und Begeisterung gegen Ausnutzung und Ausbeutung sind mit Beginn seiner Mitarbeit in der S.Wärmestube erkennbar. Eine weitere Herausforderung besteht darin, daß JOCHEN einerseits eine Wohnung sucht, andererseits aber in seiner bisherigen Biografie über keinerlei selbstbestimmte Wohnerfahrungen in einer eigenen Wohnung verfügt, ein bislang im Kontext der Wohnungslosenhilfe kaum diskutiertes Problem, das aber in entscheidendem Maße die Voraussetzungen sozialer Arbeit berührt. 'Wohnen' an sich als soziale Kompetenz kann nicht mehr vorausgesetzt werden, sondern wird immer mehr notwendiger Gegenstand pädagogischer Tätigkeiten des Lehrens und Lernens. Zum anderen wird JOCHENS Zukunft zentral davon abhängen, inwieweit er sich, entsprechend seiner Perspektiven, ein erweitertes Niveau an gesellschaftlicher Partizipation konkret wird aneignen können. Das ist vor allem - JOCHEN antizipiert es an der Frage nach einer eigenen Wohnung - ein Problem der Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen (Wohnung, Ausbildung, Arbeit, Einkommen) und den Möglichkeiten des Zugriffs darauf als auch ein Problem des gesellschaftlichen Umgangs mit Sexualität und Beziehungsformen und den Möglichkeiten eines Eingriffs in die Gestaltung dieses Bedeutungsraums (Akzeptanz, Gleichberechtigung).

In einer ersten Typisierung ist festzuhalten, daß JOCHEN weder ein eindeutig normativ auf gesellschaftliche Ordnungsprinzipien festgelegter 'Rückkehrwilliger' in eine verlorengegangene 'Normalität' - wie etwa HANS -, noch ein bewußt-gestaltender 'Veränderer' mit klar umrissener Perspektive für Gesellschaft und sich selbst - wie etwa JENS - ist. Für JOCHEN paßt beides nicht. Seine Aussagen legen nahe, daß er eine Integration von gesellschaftlicher Absicherung und Verwirklichung schwuler Lebensformen anstrebt, nur existieren dafür weder Modelle, noch sind seine Lebensperspektiven dahingehend klar umrissen. In dieser notwendig widersprüchlichen Orientierung auf gesellschaftliche Realität zwischen Einordnung und Veränderung ist er damit genau zwischen den beiden - HANS und JENS - anzusiedeln. Alle drei leben in einer Situation großer Nähe zur Hilfe für Wohnungslose, verfolgen aber in ihren Handlungen Perspektiven, die weit über den unmittelbaren Lebensvollzug innerhalb der Angebote und Institutionen hinausreichen. Allen dreien gemeinsam ist, daß gesellschaftliche Realität - in ihrer jeweils individuell-spezifischen Konkretheit - eine feste, und trotz aller Widersprüchlichkeit ungebrochene zentrale Bezugseinheit im System subjektiver Motivationen und Tätigkeiten darstellt, eine Realität, auf die hin sinnvolles Handeln möglich ist.

Weiter zum nächsten Abschnitt 2. "Ambivalenzgruppe" (= Linear Lesen)

Zurück zur Homepage dieser Arbeit

© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97