Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung
JOCHEN
JOCHEN ist 22 Jahre alt und kommt aus Schleswig-Holstein.
Biografie
Kindheit - Schule - Ausbildung
In der Schule war ich nicht der Beste, war faul, habe nichts machen wollen eine Zeit lang, und dann kriegst du einen Dämpfer, bist backen geblieben: Scheiße! Das geht dir dann nachher auch am Arsch vorbei, weil du hast ja sowieso nur Streß zu Hause. Damals in der Schule war ich das erste Mal auf S.Dorf, habe da Urlaub gemacht mit Klassenkameraden, haben wir da gezeltet, und dann bin ich abends mal so alleine in die Kneipe gegangen. Auf Männer habe ich - frage mich nicht, warum? - immer schon geachtet, und dann irgendwann ist es passiert. Dann habe ich jemanden kennengelernt, das war die wahre Liebe, das war die Vorstellung, die ich hatte. Ein Psychologe würde das vielleicht sehen als Vater-Ersatz. Weil ich mit meinem Vater sehr schlechte Erfahrungen gemacht habe, nur Schläge, Schläge, und Schläge, Bösartigkeiten. Vater hat gesagt: "Also das ist eine Sünde, so einen Sohn zu haben!"
Ich habe mal gerade mit Ach und Krach die Mittlere Reife, Realschulabschluß. Streß zu Hause, schon seit Eh und Je. Da ich mit 5 in Mathe vorzensiert war und eine 6 geschrieben habe, also die Zensur bestätigt habe, und damit in einen kaufmännischen Beruf wollte, war der Streit noch größer. Ich war fertig mit der Schule und hatte keine Ausbildungsstätte.
Dann habe ich '89 eine Lehrstelle gekriegt als Verkäufer bei einer Firma, die mit Handwerkerbedarf und Baubeschlägen handelt, wovon ich keine Ahnung hatte, aber mein Vater war Handwerker. Ich habe auch gedacht, das ging, und dann hat der Chef mich reingeholt ins Büro. Er meinte, Fachkenntnis wäre so gut wie gar nicht vorhanden. Das Interesse hatte ich schon allein dadurch verloren, weil die Waren, die ich anbieten sollte, ich hatte da keine Ahnung von, konnte mich da einfach nicht für begeistern, das Betriebsklima war auch nicht so besonders. Die Probezeit hätte ich nicht bestanden gehabt, aber auf meinen eigenen Wunsch hätte ich noch einen Monat da weitermachen können, um mich eventuell mal zu verbessern. Bloß auf meinen eigenen Wunsch bin ich dann weg, da war der Streit zu Hause noch größer. Ich bin auch noch abgehauen zum Arbeitskollegen, der war auch im ersten Lehrjahr wie ich, und habe da zwei Wochen gewohnt. Eltern haben das natürlich rausgekriegt, standen auf einmal vor der Tür: "Ja, komm doch mit nach Hause!" Ich bin zwei Mal abgehauen gewesen, sie haben mich immer wiedergefunden, und da haben sie mich nachher endgültig rausgeschmissen. Weil es einfach nicht mehr ging.
Tellerwäscher
Dann war ich erst auf S.Dorf, habe da Tellerwäscher noch gemacht. Es war März, und in der Zeitung, die blätterst du so ab und zu mal durch, ja, Saisonkräfte gesucht. Ich habe erst beim Kurhotel gefragt, und dann wurde ich zu einem Eiscafé vermittelt. Da habe ich gleich eine Unterkunft, also ein Zimmer gekriegt, und vom 2. April bis zum 30. September habe ich da die ganze Saison durch gearbeitet, '89. Erst Tellerwäscher, und dann nachher im Service, von vormittags um zehn bis nachts um zwölf. Und anderthalb Stunden Pause zwischendurch, je nach dem, wieviel Betrieb da war. Da habe ich soviel Geld gehabt, ich habe im Monat 3,5 gekriegt, da habe ich das Spielen angefangen. Ich habe in einem Monat 9.000 Mark nur in Automaten reingesteckt. Und nachher kein Geld mehr gehabt, und im Winter ist da nichts los, also mußte ich da auch weg. Ich hätte da zwar wohnen bleiben können, bloß dann hätte ich 1.500 Mark bezahlen müssen im Monat. Das ist S.Dorf, da waren die Preise so tierisch hoch, aber das wäre dann mit Verpflegung und allem drum und dran gewesen. Dann war das Problem Eltern auch: Die kamen und sind mit einem Foto rumgelaufen: "Haben Sie diesen Jungen hier irgendwo gesehen?"
Drückerkolonnen
Dann bin ich nach H.Stadt. Auch auf den blauen Dunst, bloß weg! Hier in der Großstadt, wenn du nichts hast, hältst du dich meistens auf dem Bahnhof auf, und da wurde ich angesprochen: "Sag' mal, suchst du Arbeit? Hast du eine Unterkunft?" - "Nein, beides nicht! Suche ich beides." - "Naja, komm doch mal mit!" Dann war ich in Drückerkolonnen drin, das heißt, Postkarten und Zeitschriften an der Tür anbieten. Du läßt dich natürlich breitschlagen, hast ja von nichts eine Ahnung. Am Anfang macht es auch Spaß, verdienst auch gut.
Du wohnst in einem Hotel oder in einer Pension, meistens ein Viererzimmer, du hängst Tag und Nacht zusammen, morgens um neun raus ins Gebiet, bis abends normalerweise um 20 Uhr. Ich habe Postkarten gemacht, da mußte ich 15 Päckchen am Tag verkaufen. Also das sind zwölf Postkarten, die sind fast so dünn wie Papier, mit Scherenschnittdrucken drauf, für 19 Mark und 80. Mußtest du 15 am Tag verkaufen. 3-Stunden-Treffs hatten wir, jeder kriegte sein Gebiet, der Chef meinte dann: "Ja, hier wurde das letzte Mal tierisch verkauft, hier verkaufst du auch! Und wenn nicht, stecke ich dich da nochmal rein! Dann kannst du sehen, wie der Hase läuft!" Selbst wenn ich meine 15 schon hatte, und die Produktion von dem Bus war so unter aller Sau, dann wurdest du bis um 22 Uhr nochmal eingeteilt.
Eine Postkarte braucht gar keiner. Bloß du sagst ja, die sollen das ja nicht kaufen, die sollen ja nur helfen. Dann gehst du so: "Entschuldigung, der Preis ist vielleicht ein bißchen hoch, aber schauen Sie, Sie kaufen ja nicht nur der Postkarten wegen, Sie wollen ja den Behinderten doch helfen? Stellen Sie sich vor, Sie wären behindert, und Ihnen würde keiner helfen! Was würden Sie dann sagen?" - Dann sind die meistens schon am Grübeln: "Wie teuer ist denn das?" Und: "Nein, ist mir trotzdem zu teuer!" - "Schauen Sie, wir sind nur einmal im Jahr hier, und da kann man doch ein Auge zudrücken!" Und die meisten dann: "Okay, ja, gut." Oder die Tür knallt dann.
Es hat mal Karten gegeben, die wurden von Behinderten hergestellt und an der Tür verkauft. Und diese Drücker klauen die Motive, lassen sie irgendwo billig drucken. Der Chef bezahlt für ein Päckchen Karten bei der Druckerei 50 Pfennig, verkauft sie für 19 Mark 80. Du kriegst als Provision fünf Mark von dem Päckchen. Den Rest steckt der Chef ein. Dann hieß es dann: "Wer diese Woche die meisten Päckchen verkauft hat, der kriegt 200 Mark Prämie!" Bloß von dem Geld hast du meistens nie was gesehen. Du hattest ein Deckungskonto, da ging immer 1/4 von dem, was du verdient hast, drauf. Das solltest du dann kriegen, wenn du irgendwann mal aufhören solltest, weil: Niemand macht das ewig. Für den Chef war es eine Sicherheit, weil viele aus dem Gebiet abhauen, damit er das Geld auch noch einsacken kann. Bei der Abrechnung, ich habe immer mitgerechnet, wieviel ich kriegen sollte, und da fehlten meistens 200 oder 300 Mark. Da wirst du übers Ohr gehauen, bis zum geht nicht mehr. Die Unterbringungskosten, also die Hotelkosten, das Spritgeld, das Essen noch, das ging ab von meinem Lohn. Bloß du wußtest nie genau, wieviel er wirklich gezahlt hat dafür.
Nachher dieser Leistungsdruck, dem bist du nicht mehr gewachsen, du mußt immer mehr, wenn das Soll erfüllt ist, ist das nächste Soll dran. Ich habe Schläge mal gekriegt von einem Drückerboss, da habe ich Zeitschriften gemacht und bin ich an einem Tag nur mit einem einzigen Abo an den Bus gekommen. Und da hat er mir eine geknallt, weil er sagte: "Du warst nur in der Kneipe, hast gesoffen und nichts getan!" Daß Zeitschriften übersättigt sind, kannst du dir vorstellen, viele wollen nicht bestellen, weil am Kiosk kriegst du das billiger. Ich bin lieber mit nichts an den Bus gekommen, als selber zu unterschreiben. Der ist mit den Leuten, die Unterschriften gefälscht haben, weggefahren "zur Polizei!" - aber kann er normalerweise gar nicht, dann wäre er nämlich dran wegen Steuerhinterziehung. Du wußtest nie, was aus denen passiert war, die hast du dann danach nicht mehr gesehen.
Wir sind erst H.Stadt, und dann S.Stadt, und in S.Stadt bin ich abgehauen, also aus dem Gebiet raus, ohne Klamotten, ohne irgendwas. Du wärst ja nicht rausgekommen aus der Firma auf dem rechtlichen Weg, weil du weißt ja viel zu viel. Dann wieder einen Monat rumgetingelt, habe mir hier und da was zusammengesucht. Dann war auch wieder in H.Stadt, da hat mich die nächste Drückerkolonne aufgenommen, da habe ich einen Monat ausgehalten, und dann nicht mehr. Ich bin insgesamt bei vier Drückerkolonnen gewesen, und zum Schluß habe ich so die Schnauze voll gehabt von der Drückerei, ich habe immer hier eine Landkarte bei mir gehabt, da sagte ich mir irgendwann: "Du wolltest - das war schon immer dein Traum - mal nach Berlin rein!" Ende '89 war das. Ich bin getrampt, dann war ich war hier.
Berlin
Ich bin dann in Neukölln rausgelassen worden abends, und laufe da so die Straßen durch, war da einigermaßen gepflegt noch, und da finde ich dann einen Zehn-Mark-Schein. Da dachte ich: "Ach was, gehst du mal in eine Kneipe rein!" Bin dann reingegangen, habe ein Bier getrunken, und dann sprach der mich an: "Sag' mal, hättest du Bock, hier zu arbeiten?" Bin auch gleich den Abend angefangen, da hat er mich eingelernt. Wo ich pennen wollte, wußte ich nicht, dann habe ich da irgendwo in einem Park übernachtet, dann am nächsten Tag erstmal gewaschen, rasiert, Klamotten gewechselt, was ich dann noch hatte, und dann gearbeitet. Ich habe zehn Mark die Stunde gekriegt. Das ging eine Zeit lang gut, und der fing auch an zu bescheißen: "Geschäft war heute scheiße, ich kann dir keinen Lohn geben!" - Der Laden war aber gerammelt voll. Ich sage: "Wenn du jemanden einstellst, dann mußt du auch den bezahlen!" - Und dann habe ich mir das Geld aus der Kasse genommen, bin den nächsten Tag wieder hin, es war wieder voll, da hat der wieder gesagt: "Geld kann ich dir erst morgen geben!" - Und da hat er zu mir noch gesagt, ich vergraule seine besten Stammgäste. Jedenfalls hat er mich dann loswerden wollen, ich sollte in der Küche arbeiten, dafür hätte ich dann Essen gekriegt, mehr auch nicht, und dann habe ich aber gesagt: "Das läuft nicht! Sieh zu, wie du einen anderen kriegst. Mich nicht!" - Naja, und dann wieder rumgetingelt.
In der Zeit habe ich jemanden kennengelernt von den Stammgästen, der hat mir angeboten, bei ihm zu wohnen. Der Hintergrund war natürlich, ab ins Bett. Mir hat es zwar Spaß gemacht, aber ich wurde dann nachher richtig ausgenutzt. Da hieß es dann: "Ich will, ich will, ich will, und wenn du nicht willst, dann hast du selber schuld, ich will trotzdem!" - Und dann bin ich gegangen.
Tiergarten - S-Bahn
Ich habe im Tiergarten[11] geschlafen, habe einen Schlafsack zu der Zeit noch gehabt, einen Rucksack mit Klamotten, und ich habe mir da nachher - im Tiergarten, da ist so ein kleiner Tümpel voll mit Gebüsch - da habe ich mir dann eine kleine Hütte gebaut, habe dann auch mal meine Sachen drin gelassen, die konnte echt keiner sehen. Das ging Monate gut. Bis ich dann auf einmal abends da hin kam, da war nichts mehr da. Kein Rucksack, kein Schlafsack, keine Klamotten, gar nichts. Dann habe ich so da noch eine Zeit lang geschlafen, und nachher wurde es mir zu kalt im Winter, da bin ich dann auf S-Bahn umgestiegen.
In Erkner war ich ein einziges Mal, da waren nur besoffene Leute und Chaoten drin, wie gesagt, da habe ich die ganze Nacht kein Auge zugekriegt. Dann bin ich Strausberg-Nord mit der letzten S-Bahn hin, und die fährt als letztes morgens wieder los. So habe ich ungefähr fünf Stunden Schlaf gehabt. Wir waren dann nachher eine Clique zu viert. Nein, drei waren wir. Durch die bin ich eigentlich dazu erst gekommen, in der S-Bahn zu schlafen. Ich habe mir das vorher nicht getraut, ich dachte immer: "Was sollen die Leute sagen?" Und daß du da schlafen kannst, wenn abgestellt wird, da habe ich nie dran gedacht. Am Anfang haben sie uns immer rausgeschmissen, wenn sie nachkieken waren, ob da noch jemand drin war, und nachher, wie es richtig kalt wurde, da haben sie dann gesagt: "Ihr könnt drin bleiben, solange ihr nichts schmutzig macht, nichts kaputtmacht!" Dann haben sie auch wärmer gemacht, sodaß wir also einen heißen Arsch kriegten. Naja, aber ausgeschlafen warst du nie. Da hast du fünf Stunden, wenn überhaupt, geschlafen, dann bist du mit der ersten wieder weg, dann hast du nicht gewußt, wohin? Zu der Zeit bin ich noch schwarzgefahren, dann bin ich von Wannsee nach Strausberg und wieder zurück, nur mit der S-Bahn rumgefahren, um Zeit zu gewinnen, bis die erste Wärmestube aufmachte, oder Cafe Krause an der Mariannenkirche. Die habe ich in der Zeit so allmählich kennengelernt.
Sitzung machen - Körperpflege
Ich habe einmal, das war in H.Stadt, vor einem Parkhaus gesessen mit einem Schild "Bin obdachlos, arbeitslos, habe Hunger!" Ich habe ein Herzklopfen gehabt, ich habe da zwei Stunden ausgehalten, da hatte ich 80 Mark zusammen. Aber ich habe es danach nie wieder machen können, weil diese Angst: "Nachher kennt dich da einer!" Oder: "Wie sollen sie über dich reden? Nachher sieht das irgend jemand von deinen Bekannten!" Von einer Frau hatte ich 15 Mark gekriegt, die hat ihr Portemonnaie ausgeschüttet: "Bist ein armer Junge, kauf' dir da was für zu Essen!" - Also ich habe nie eine Alkoholfahne oder so gehabt, dafür hatte ich auch gar nicht das Geld. Ich war zwar unrasiert, fettige Haare, bißchen dreckig, aber sonst die Klamotten, die waren einigermaßen sauber. Wenn du auf der Straße lebst, kannst du dich pflegen. Du kannst aussehen wie jeder Normalbürger. Bloß läufst du einmal, weil du deine Sachen nicht gewaschen hast oder weil es finanziell nicht möglich ist, mit dreckigen Klamotten rum: "Das sind Penner, was will ich mit denen?" - Das sind immer bestimmte Gesichtspunkte.
Wärmestuben
Am Bahnhof Zoo, da sprach mich da einer an: "Sag' mal, hast du Hunger?" Dann sage ich: "Ja!" Dann meint er: "Ja, komm mal mit, wir gehen essen!" Und wo sind wir hingegangen? Zur Hohenstaufen. Das war die erste, die ich kennenlernte. Und dann, das war kurz vor 16 Uhr, meinte einer: "Kommst du mit in die S.Wärmestube?" Dann bin ich da mit hin, da war ich dann ungefähr zwei Wochen Gast, dann fragte mich der eine Mitarbeiter: "Ich bin hier ganz alleine in der Küche, kannst du mir nicht ein bißchen helfen?" - So hat es angefangen, da bin ich jetzt mittlerweile seit anderthalb Jahren, und bereuen tue ich es nicht. Die hat mir besonders zugesagt, weil B., die Sozialarbeiterin, kam sofort an: "Ja, wer bist du? Also, ich bin die und die!" - Da war so eine Harmonie drin, mir haben die Gäste da zum größten Teil gefallen, du konntest Karten spielen, andere Spiele machen, lesen, Radio hören, hast immer zu Essen gehabt, also Butterstullen, da habe ich mich sofort wohlgefühlt. In einigen Wärmestuben kannst du deine Sachen kostenlos waschen, aber keiner ist bereit, irgendwie einen Handschlag nur zu tun. Also praktisch mit den Problemen, die so einige haben: "Ich weiß nicht, wo ich schlafen soll!" oder: "Ich habe beim Sozialamt Probleme!" und so, da war praktisch keiner da. Die Chefin, also wenn da jemand ein Problem hat, die nimmt sich Zeit, obwohl sie sonst was anderes vor hat. Das ist ihr halt doch wichtiger als dann, da stellt sie ihre persönlichen Sachen zurück. Sowas finde ich korrekt, dafür ist sie ja eigentlich schließlich da.
Dann irgendwann bin ich in die Küche gelangt, Abwaschen geholfen, das hat mir Spaß gemacht. Das war ehrenamtlich, also irgendwie, ich mache das gerne. Weil ich weiß, ich habe was zu tun, was mir Spaß macht, ich helfe damit anderen Leuten: Wobei wir wieder bei einem Thema sind, was bei mir sehr hervorspringt, denn ich helfe gerne anderen, aber an mich denke ich meistens nicht. Ich bin manchmal so nervlich kaputt mit meinen eigenen Sachen, aber versuche immer wieder anderen zu helfen. Anstatt ein bißchen Zeit für mich zu nehmen, opfere ich mich für andere auf. Bloß mittlerweile habe ich das so einigermaßen im Griff. Daß ich dann auch mal sage: Okay, Moment, jetzt bin ich dran, also jetzt kommt keiner mehr!
Der Verein - Uelzen
Der Verein sollte praktisch so etwas darstellen wie "Obdachlose helfen Obdachlosen". Daß man praktisch aus eigener Kraft anderen helfen kann, auch wenn man selber in der Scheiße sitzt. Dazu gekommen ist es aus Besucherkreisen in der S.Wärmestube. Da war ein Typ, der hatte zwar eine Wohnung, er hat gedacht, er will was Gutes tun mit Leuten, die selbst betroffen sind. Der Anklang war groß, wir waren 18 Leute, es war ein richtiger Verein gegründet worden, also mit Eintragungen und allem drum und dran. Eigentlich wegen dem Kongress in Uelzen[12], weil das auf die Beine gestellt werden sollte, dafür wollte man sich dann zusammen hier arrangieren, sodaß man aus Berlin viele Obdachlose mit hinkriegt, die auch wissen, worum es geht. Und mit der Vereinsarbeit in Uelzen? Meine Wenigkeit hat da etwas zu beigetragen, wir haben eigentlich ein bißchen was anzetteln können, bloß von der Vereinsarbeit war da nichts. Da sollten Protokolle geschrieben werden, die habe ich nachher gemacht aus Eigeninitiative, und so hat sich nachher verlaufen. Dann waren wir in Berlin, und dann sollte in der Wrangelstraße ein Treffen stattfinden, was natürlich nicht stattgefunden hat. Ich habe dann gesagt: "Leute, mir hat es gereicht. Ich trete aus. Wenn, dann mache ich lieber selber was, aber so nicht!" - Den Verein gibt es schon lange nicht mehr, nach Uelzen hat der sich aufgelöst. Das einzige, was richtig gewesen ist, das ist die Fahrt nach Uelzen.
Das war ein sehr guter Ansatz, der hätte auch eine Menge gebracht, aber so nicht. Leute, die nicht nur an Profit denken, sondern die sich richtig für eine Sache engagieren. Ein paar Leute mehr, und wir würden heute noch existieren. Ich wäre sehr dafür, wenn da sich Obdachlose zusammenschließen und sagen: "Wir nehmen jetzt was in die Hand, wir suchen uns was aus!", wie zum Beispiel Hausbesetzung. Wir nehmen uns ein Haus, besetzen das, und dann nach dem Motto: "Renovieren auf eigene Kosten, aber Mietsverträge!" Praktisch aus einer Eigeninitiative was machen. Wie die Plattengruppe in Köpenick zum Beispiel. Dann aber nicht Profit in die eigene Tasche, sondern ins Haus. Wenn du es so weit gebracht hast, daß du da zum Beispiel ein Café drin hast, daß du dieses Haus auf eigene Kosten modernisieren kannst. Dann kriegst du vom Senat eher eine Bewilligung, dieses zu übernehmen oder Mietsverträge zu kriegen, als wenn du da nichts drin machst, oder auf die Straße gehst, demonstrierst.
Wendenschloßstr. 135: Plattengruppe Köpenick
Wendenschloßstr. 135: Plattengruppe Köpenick
Jeder macht wahrscheinlich mit, weil seine eigenen Interessen damit befriedigt werden, also das heißt: "Ich kriege dadurch eine Wohnung!" Bloß man sollte das nicht nur sehen: "Ich!", sondern da ist ja der Gruppenzusammenhang: "Wir!" Wenn "Ich" sowas nur mache, damit "Ich" eine Wohnung kriege, dann läuft das schon fehl. Sagen wir mal, eine Gruppe von 15 Leuten besetzt ein Haus, und jeder sagt: "Ich will eine Wohnung haben!", so arbeitet jeder gegeneinander, versucht den einen oder anderen auszuschließen, weil es könnte ja ein Hindernis sein: "Wenn der da ist, kann ich das ja vielleicht nicht kriegen!" Bloß die Leute waren nicht da, mit denen ich praktisch hätte sowas machen können. Sowas schwebt mir auch heute noch vor im Hinterstübchen, freiwillig und alleine mache ich's nicht, weil dafür setze ich dann zuviel aufs Spiel.
Nach Uelzen haben mich Leute angesprochen: "Du warst doch im Fernsehen? Fand ich gut, was du gesagt hast! Hier hast 100 Mark, kauf dir davon irgendwas!" Und einer kam an, der hat mir Turnschuhe im KaDeWe für 179 Mark gekauft, der hat mir eine Jacke für 300 Mark gekauft, der hat mir zwei Paar Strümpfe für zusammen 50 Mark, und dann hat er mir noch 50 Mark so in die Hand gedrückt. Neid ist schon vorgekommen, aber da habe ich gesagt: "Du hättest ja auch da vor die Kamera gehen können! Die haben dich ja auch gefragt!" - Aber die Bereitschaft von den Leuten ist nicht da, fast jeder hat Angst erkannt zu werden, und damit preiszugeben: "Ja, ich lebe auf der Straße!" Jeder hat Angst davor, sich zu offenbaren: "Ich lebe auf der Straße und ich komme da nicht runter! Ihr könnt mir sowieso nicht helfen!" Schließlich kann ich da ja nichts für, wenn das der Bevölkerung gefällt, was ich gesagt habe, wenn sie davon betroffen waren, mit meinen Argumenten, da kann ich ja nichts machen. Wie gesagt, da habe ich noch ungefähr zwei Monate nach dem Uelzen-Kongress hier Sachen in Berlin erlebt, also das ist nicht wahr gewesen. Einige haben mir sogar Zeitungsartikel gezeigt: "Sag' mal, das bist du doch? Was hast du da denn gemacht?" Und dann waren das auch zum Teil Leute so, die du kanntest, die eine Wohnung haben: "Du lebst auf der Straße? Das darf doch wohl nicht wahr sein!"
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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97