Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

5.3. Explorative Vorgehensweise & Feldforschung

"Die Ausgangsposition des Sozialwissenschaftlers und des Psychologen ist praktisch immer durch das Fehlen des Vertrautseins mit dem, was tatsächlich in dem für die Studie ausgesuchten Bereich des Lebens geschieht, gekennzeichnet"
(BLUMER 1973, S. 118).

Ein solches Vertrautsein, einen praktischen Bezug herzustellen,

"das Phänomen in seiner eigenen Welt aufzusuchen"
(MATZA 1973, S. 31)

erfordert

"eine radikale und drastische Methode des Verstehens, die vielleicht immer dann eine Notwendigkeit ist, wenn das betreffende Phänomen gewöhnlicherweise verurteilt wird." (MATZA 1973, S. 31).

Damit ein solches Wissens- und Erfahrungsdefizit überhaupt aufgelöst werden kann, fordert BLUMER

"eine flexible Vorgehensweise, in der der Wissenschaftler (...) im Verlauf seiner Studie neue Beobachtungspositionen einnimmt, in der er sich in neue Richtungen bewegt, an die er vorher nicht dachte und in der er seine Meinung darüber, was wichtige Daten sind, ändert, wenn er mehr Informationen und ein besseres Verständnis erworben hat" (BLUMER 1973, S. 121).

Zu bevorzugen sind

"Vorgehensweisen, die vermeiden, Teilaspekte voreilig zu isolieren, und die sich bemühen, die beobachteten Vorgänge nicht unter Gesichtspunkten vorab definierter Konstrukte und Hypthesen analytisch zu gliedern, sondern alle Anstrengungen darauf zu verwenden, einzelne Prozesse und einzelne Fälle bis in Detail zu erfassen"
(KRAPPMANN/ OEVERMANN/ KREPPNER 1974, 10).

Als Folgerung für das methodische Vorgehen erscheint mir der Begriff Feld und der in diesem Kontext vor allem von Kurt LEWIN entwickelte Ansatz der Feldforschung (vgl. LEWIN 1963) am meisten geeignet, zu der gesellschaftlichen Wirklichkeit Zugang zu finden, die sich den Wohnungslosen stellt. Was damit gemeint sein könnte, charakterisiert Harald E. MEY in einer lexikalischen Definition wie folgt:

»Feld,
 
(1) im allgemeinen Sinne eine geographische Fläche, ein Raum, ein Gebiet.
 
(2) In Ausdrücken wie Feldforschung usw. Bezeichnung für den Lebensraum, die natürliche Umgebung, in denen sich die vom Sozialforscher untersuchten Objekte befinden (im Gegensatz zum Laboratorium mit seinen künstlich geschaffenen Bedingungen).
 
(3) Im engeren Sinne ein von Kräften, die sich wechselseitig beeinflussen, erfüllter Raum. In diesem Sinne wird der Begriff z.B. in der Physik benutzt ("Magnetfeld"). Ein Feld ist ein dynamisches Ganzes: jede Veränderung an einem Punkt führt zu einer Umgliederung des gesamten Feldes. So wurde der Begriff zunächst in die Psychologie, dann in die Sozialwissenschaft übernommen:
 
(4) Psychisches oder psychologisches Feld, gestaltpsychologische Bezeichnung für die Gesamtheit der in der Erfahrungswelt eines Individuums zu einem gegebenen Zeitpunkt präsenten Faktoren, die sein Verhalten beeinflussen; jedem Element in einer Menge wahrgenommener Dinge ("Wahrnehmungs-Feld", "phänomenales Feld"), jedem Denkinhalt usw. entspricht eine spezifische Kraft (...)
 
(5) Soziales Feld, eine Mehrzahl gleichzeitig wirkender und sich wechselseitig beeinflussender sozialer Tatsachen. Der Begriff spielt in der "dynamischen" Betrachtung sozialer Strukturen eine Rolle und impliziert die Vorstellung sich gegenseitig verstärkender oder behindernder "sozialer Kräfte" in einem "sozialen Raum" (z.B. Spannungen zwischen sozialen Schichten, Konflikte zwischen individuellen Motiven und äußeren Einflüssen, unterschiedliche Einflußzonen von Personen und Gruppen usw.).&laqno;
 
(MEY 1978, S. 228f)

Auf diesen Begriff von "Feld" und den damit implizierten Ansatz der "Feldforschung" (vgl. LEWIN 1963) nehme ich im folgenden Bezug, wenn es darum geht, überhaupt einen Zugang zur Untersuchungsgruppe der Wohnungslosen herzustellen.[3] Diese Methode als probates Verfahren voraussetzend, um überhaupt Material zur Plausibilisierung und Klärung der Hypothese erheben zu können, beschäftige ich mich nunmehr mit der Frage der Methode zur unmittelbaren, konkreten Ermittlung von Datenmaterial.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97