Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

2. Forschungszusammenhang

Die vorliegende Arbeit geht zurück auf das Forschungsprojekt "Biografie und Lebenslage Wohnungsloser in Berlin". Dieses Projekt wurde von der BERLIN-FORSCHUNG der Freien Universität Berlin gefördert und von mir im Zeitraum von September 1990 bis August 1993 unter der Leitung von Prof. Dr. Georg RÜCKRIEM vom Institut für Allgemeine Pädagogik (WE 1) am Fachbereich Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften (FB 10) der Hochschule der Künste Berlin durchgeführt.

Vorausgegangen ist diesem Projekt eine Untersuchung über die zumeist wohnungslosen BesucherInnnen einer Berliner Wärmestube mit dem Titel: "Wohnungslose sind gesellschaftliche Subjekte" (SCHNEIDER 1990). In dieser (Diplom-)Arbeit untersuchte ich "Gesellschaftliche Bedingungen und individuelle Tätigkeiten am Beispiel der Besucher der Wärmestube Warmer Otto in Berlin - Moabit." (Untertitel). Ausgehend von tätigkeitstheoretischen Überlegungen unter Bezug auf LEONTJEW (1973 und 1982) wird die besondere Bedeutung der je eigenen Wohnung als grundlegende Bedingung für eine ganze Vielzahl von individuellen Tätigkeiten und Beziehungen herausgestellt.[1] Die Funktion der jeweils eigenen Wohnung als Bezugspunkt verdeutlicht, wie im Zusammenhang des komplexen Prozesses des Wohnungslos-Werdens die gesamte Struktur der individuellen Tätigkeiten und Beziehungen Wohnungsloser in Folge der so veränderten Lebenslage eine grundlegende Veränderung erfährt. Anhand teilnehmender Beobachtungen (Feldforschung) in einer Wärmestube konnte exemplarisch dokumentiert werden: Aufgrund verschlechterter konkreter Bedingungen der neuen Lebenslage werden auf der einen Seite vergleichsweise umfangreichere Handlungen und Handlungsketten zum Erreichen einzelner Ziele sowie die Entwicklung neuer, angemessener Handlungsstrukturen - mit sich daraus ergebenden neuen Problemlagen - erforderlich, auf der anderen Seite wird systematisch die Verwirklichung individueller Tätigkeiten und Beziehungen in zum Teil existenzgefährdender Weise eingeschränkt, be- und verhindert. Die daraus resultierenden Konflikte auf der Ebene der psychischen Verarbeitung der Lebenslage finden in vielfältiger Weise und individuell sehr unterschiedlich ihren Ausdruck: von der Vorstellung individuellen »Versagens&laqno; und Versuchen, sich "in das Schicksal zu fügen" über Formen offener Aggression und Auflehnung einerseits und Formen der Resignation und Enttäuschung andererseits bis hin zur völligen Apathie und Gleichgültigkeit gegenüber sich selbst und anderen.

Vor allem zwei Bedürfnisse motivierten mich zu einer Weiterarbeit an dem Problem Wohnungslosigkeit im Rahmen eines Projekts bei der BERLIN-FORSCHUNG: Zum einen war die Untersuchung meiner Diplomarbeit auf die Binnenperspektive der Einrichtung beschränkt, von den anderen Realitäten des Lebens auf der Straße erfuhr ich nur etwas aus den Berichten der BesucherInnen; zum anderen war die Biografie der BesucherInnen zu denen ich Kontakt bekam und herstellen konnte, nicht systematisch Gegenstand meiner Fragestellung, sondern war von mir nur soweit erfaßt und in die Arbeit einbezogen worden, wie die BesucherInnen das von sich aus thematisierten.

Beide Fragestellungen nach Lebenslage und Biografie Wohnungsloser wurden nun in der neuen Projektarbeit bewußt aufgegriffen und bearbeitet. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildete dabei folgende Argumentation[2]: Unmittelbare Voraussetzung für die Beurteilung der Möglichkeiten ambulanter Intervention und der Entwicklung adäquater Methoden im Rahmen der konzeptionellen Fortschreibung sozialer Arbeit für und mit Wohnungslosen ist die Erarbeitung von detaillierten Kenntnissen zur Lebenslage der "Betroffenen", die notwendig auch die objektive Seite der individuellen Verarbeitung der Situation Wohnungsloser umfassen muß. Dabei ist - wie die allgemeine Forschungslage zeigt - ein angemessenes Verständnis der Problemlage Wohnungsloser einseitig weder nach der Seite allein sozio-ökonomischer Erklärungsmodelle - "Problem struktureller Armut" - , noch nach der Seite allein persönlichkeitsorientierter Erklärungsversuche - "Problem individueller Defizite"- schlüssig aufzulösen. Dagegen setzt sich in der neuesten Fachdiskussion mehr und mehr die Erkenntnis durch, Wohnungslose nicht länger als KlientInnen einer sozialen Arbeit zu verstehen und entsprechend zu behandeln, sondern Wohnungslose als Subjekte ihrer eigenen Lebenslage zu begreifen und eine soziale Arbeit an ihren Interessen und Möglichkeiten zu orientieren. Ein solches Problemverständnis Wohnungsloser als Subjekte ihrer Tätigkeit umfaßt notwendig auch die Dimension der individuellen Gewordenheit: Wohnungslosigkeit ist Ergebnis eines komplexen, vielschichtigen Prozesses von tätiger individueller Auseinandersetzung mit konkreten gesellschaftlichen Bedingungen, ein Prozeß, der weit vor dem äußeren Ereignis der Wohnungsverlustes beginnt und mit diesem noch lange nicht abgeschlossen ist. Ein Sachverhalt, der am ehesten mit dem Begriff Biografie oder biografische Entwicklung zu erfassen ist. Ist Wohnungslosigkeit Ergebnis dieser biografischen Entwicklung, so besteht das Ziel sozialarbeiterischer Intervention in der Umkehrung dieser Entwicklung, der Weg darin führt über die Kenntnis und Erarbeitung der individuellen Biografie. Indem die Wohnungslosen an den Orten ihrer eigenen Lebenswelt aufgesucht werden, sollen Aufschlüsse über ihre Lebenslage, Lebensbedingungen und die Formen individueller Verarbeitung von Wohnungslosigkeit gewonnen werden. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Erforschung und Erarbeitung des individuell-biografischen Prozesses, der in die Lebenslage führte. Diese Erkenntnisse sollen in einem ersten Schritt mittels teilnehmender Forschung im Feld in Berlin[3] gewonnen werden. In einem zweiten Schritt sollen mit ausgewählten Einzelpersonen im Prozeß der Erarbeitung und Vergegenwärtigung der individuellen biografischen Entwicklung konkrete Handlungsschritte für die aktuelle Lebenslagebewältigung in einzelnen Tätigkeitsbereichen entwickelt werden.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97