Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

Vorwort

Stefan Schneider

Zu den Gründen und Intentionen der Veröffentlichung dieser Arbeit im Internet

Die hier vorliegende Arbeit gibt es als Original nur in digitaler Form als Veröffentlichung im Internet. Alle schriftlichen Versionen sind Ausdrucke dieser Fassung. Da dies für eine wissenschaftliche Arbeit und schon gar für eine Dissertation immer noch eine ungewöhnliche Form der Präsentation ist, möchte ich anhand von drei Argumentationslinien die Hintergründe und Intentionen dieser Entscheidung benennen:

1) Internet als Instrumentarium wissenschaftlichen Arbeitens und Publizierens

Die digitale Präsentation von Dissertationen und anderen wissenschaftlichen Arbeiten im Netz ist dringend notwendig und geboten, nicht, weil Internet eine Modeerscheinung ist, sondern weil die digitalen Funktionen des Internets eine neue Qualität wissenschaftlichen Arbeitens repräsentieren.

Konsequenz: Will Wissenschaft nicht bedeutungslos werden bzw. sollen wissenschaftliche Arbeiten nicht der Bedeutungslosigkeit anheim gegeben werden, müssen sie im Internet präsentiert werden. Eine Arbeit, die nicht im Netz ist, ist für die Weltgemeinschaft der Wissenschaft schlichtweg nicht vorhanden.

Die Kriterien für eine Präsentation von Dissertationen und anderen wissenschaftlichen Arbeiten im Netz können zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschließend genannt werden, weil die digitalen Möglichkeiten im Netz einer permanenten und rasenten Entwicklung unterworfen sind.

An die Präsentation im Internet sollten mindestens folgende Anforderungen gestellt werden.

Die hier vorgelegte Arbeit erhebt den Anspruch, den o.g. Kriterien vollständig zu entsprechen.

Der Ort der Präsentation ist zunächst zweitrangig. Einmal digitalisiert und im Netz "eingehängt", kann eine Diss. durchaus und ohne große Mühe von einem vorläufigen Ort zu einem endgültigen Ort transferiert werden.

Das Internet verändert maßgeblich den Charakter wiss. Arbeitens, in Zukunft wird es Arbeiten geben, die in der Arbeit im Internet entstanden sind und auch von der Präsentation her den technischen Möglichkeiten des Internets entsprechen (bis hin zu Arbeiten, die sich aufgrund von Wissenschaftsrobotern automatisch aktualisieren). Hier gilt es, grundsätzlich neue Kriterien für Dissertationsleistungen zu entwickeln.

2) Computerliteralität als Schlüsselqualifikation im Bereich der Obdachlosenarbeit

Mittlerweile kann als Tatsache angesehen werden, daß die Computerisierung und Vernetzung unserer Gesellschaft zunehmende Bedeutung erfährt, daß kaum ein Bereich des öffentlichen und privaten Lebens nicht davon betroffen ist. Mit Sorge ist dabei eine Entwicklung zu beobachten, die die ohnehin schon bestehenden sozialen Gegensätze verschärfen könnte: Daß nämlich die Gesellschaft zerfällt in eine privilegierte Gruppe derer, die diese neue Technologie beherrscht und in die Gruppe der Computeranalphabeten, die zunehmend an den Rand gedrängt wird, keine Perspektive mehr hat auf dem Arbeitsmarkt und immer weiter ausgeschlossen wird von den Entwicklungen im Bereich Politik, Bildung, Qualifikation, Kultur und Soziales - eben weil sie diese immer wichtiger werdende Kompetenz der Computerliteralität nicht mehr beherrscht. Dem ist entgegenzusetzen, daß auch die Themen Armut, Arbeits- und Wohnungslosigkeit im weltweiten Internet präsent sind und indem Projekte realisiert werden, welche Armen, Arbeits- und Wohnungslosen den Zugang zum Internet zu ermöglichen.

Anders gesagt: Der Umgang mit dem vernetzten Computer ist eine Schlüsselqualifikation der heutigen Zeit, und der entscheidende Vorteil ist, daß der oder die AnwenderIn eben nicht auf eine bestimmte Art der Nutzung festgelegt ist. Ob ein Wohnungsloser den Computer dazu nutzt, weltweit Liebesbriefe abzusetzen, seine Gedichte und Texte verbreitet, elektronisch verfügbare Zeitungen, Zeitschriften, Aufsätze und Publikationen ließt, zu bestimmten Themen recherchiert, auf Stellenanzeigen oder Angebote der Wohnungsvermittlung reagiert oder einfach nur irgendwelche Spiele spielt, oder ob er oder sie sich mit diesen erworbenen Fertigkeiten um einen Job bemüht oder einfach den elektronischen Postkasten benutzt, um erreichbar zu sein, daß ist letztlich egal und jedem einzelnen überlassen. Und eines ist klar: Wer in das Netz eine Nachricht schickt oder sich mit einem Text präsentiert, dem sieht man nicht an, ob er wohnend oder wohnungslos ist, Mann oder Frau, schwarz oder weiß, behindert oder nicht-behindert, süchtig oder clean, alt oder jung. Vorurteile können dadurch abgebaut werden, allein Argumente und Positionen zählen. Die Frage ist, was daraus entstehen kann, was damit bewegt werden kann? Das wird sich herausstellen. Ein solcher Handlungsraum sollte bereits mit dem seit 1994 weltweit verbreiteten Konzept der (Obdachlosen-)Straßenzeitungen hergestellt werden:

Es ist nur konsequent, einen solchen Handlungsansatz auch im Internet aufbauen zu wollen. Die Zielsetzung einer internationalen Computervernetzung ist einigermaßen klar: Bislang gibt es nur lockere Kontakte zwischen den Armen-, Arbeits- und Wohnungslosenprojekten und auch -zeitungen in Deutschland, Europa und weltweit. Indem Arme und Obdachlose sich vernetzen, können sie ihr gemeinsames Anliegen vorantreiben, sich schneller gegenseitig informieren, Artikel und Positionen austauschen und vor allem sehr viel schneller und effizienter gemeinsame Aktionen und Veranstaltungen planen und durchführen. Wenn erst einige damit anfangen, werden andere nachziehen, weil sie die Vorteile sehen. Wenn Armut und Wohnungslosigkeit ein globales Problem ist, dann muß auch entsprechend weltweit darauf reagiert werden. Das heißt zum einen, daß möglichst viele Wohnungslose die Gelegenheit erhalten sollten, dieses neue Medium für sich und ihre Zwecke zu nutzen, und zum anderen, daß strukturelle Lösungen gesucht werden müssen, um das Engagement gegen Armut, Ausgrenzung, Vertreibung und Wohnungslosigkeit international und weltweit voranzubringen. Eine gerechte Gesellschaft muß erst erkämpft werden.

3) Obdachlos aus Mangel an Informationen?

Wesentlicher Bestandteil bei der Bewältigung des Lebensalltags von Wohnungslosen sind Informationen, die sich die Betroffenen beschaffen müssen. Das Wissen über die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ist ausschlaggebend für ihre Lebensqualität; wenn denn in diesem Zusammenhang von Qualität gesprochen werden kann. Für einen Obdachlosen, der auf der Straße lebt, ist dies gerade im Winter oftmals eine Frage auf Leben und Tod, es gilt, gewaltätige Übergriffe zu vermeiden und sich vor dem Erfrieren zu schützen. Deshalb ist die Beschaffung von Informationen, deren Weitergabe und Vermittlung erstens ein wichtiger Bestandteil der persönlichen Alltagsbewältigung der Wohnungslosen und zweitens zugleich zentrale Voraussetzung der Arbeit von ehrenamtlichen und professionellen Mitarbeitern der Wohnungslosenhilfe.

Bei den Informationsquellen ist zu unterscheiden zwischen den offiziellen und inoffiziellen Informationsträgern. Als offizielle Informationsträger sind die Einrichtungen und deren Mitarbeiter zu bezeichnen, die Wohnungslosigkeit als ein soziales Problem eindämmen oder regulieren, zumindest unmittelbare Not lindern wollen. Dazu zählen Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Hilfsorganisationen und ähnliche. Vor allem den Sozialämtern obliegt die gesetzliche Pflicht zur Hilfe. Die persönliche Betreuung und Beratung ist vorgeschrieben in § 7 der Durchführungsverordnung (DVO) zum § 72 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG). Nur: wie soll Not gelindert werden, wenn niemand mehr einen Überblick über die Angebote hat?

Das Internet bietet hier Chancen und Möglichkeiten, ein zentrales Informationssystem aufzubauen.

Verschiedenste Anlaufstellen für Obdachlose sind in der ganzen Stadt verteilt. Doch nicht immer ist es leicht, die Adressen von Tagesanlaufstellen (Wärmestuben), Bahnhofsmissionen, Beratungsstellen, Notübernachtungen, Wascheinrichtungen, Kleiderkammern, medizinische Versorgung u.ä. zu finden und die aktuellen Anschriften, Telefonverbindungen und Öffnungszeiten zu erfahren Das gilt insbesondere auch für vielen nur in den Wintermonaten bestehenden Anlaufstellen, Notübernachtungen und sonstigen Einrichtungen der Kältehilfe.

Die inoffizielle Informationsweitergabe ist die elementarste Hilfe zur Selbsthilfe. Die Betroffenen selbst geben Tips untereinander weiter. Diese "Mundpropaganda" ist allerdings nicht in allen Fällen für jeden frei zugänglich. Gute Tips zu geben, ist eine häufige Art, untereinander zu kommunizieren und regelt auch hier eine soziale Anpassung. Nicht nur Sympathien zueinander sind für die Weitergabe von Informationen verantwortlich, oftmals entscheiden persönliche Erfahrungen oder aber Zufälle darüber, welche Einrichtungen bekannt sind und welche nicht.

So schreibt Gabriele GÖTTLE unlängst in einem Bericht in der taz vom 24.11.1997:

Die hier durchscheinende Notwendigkeit des Aufbaus eines digitalen Informations- und Kommunikationssystems für Obdachlose sprengt natürlich Anliegen und Absicht meiner Arbeit. Dennoch wird exemplarisch deutlich, daß der bewußte Schritt in die Digitalität geeignet ist, festgefahrene Strukturen aufzubrechen und damit neue Perspektiven zur Lösung eines drängenden sozialen Problems zu entwickeln. Daß die Kompetenzen für diesen Schritt vorhanden sind, will nicht zuletzt diese Arbeit deutlich machen.

Stefan Schneider

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97